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Österreich und Deutschland

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Der westdeutsche Verwaltungsgerichtshof hat entschieden, daß Personen, die im März 1938 die österreichische Staatsbürgerschaft besaßen und heute im Gebiet der westdeutschen Bundesrepublik wohnen, auch jetzt noch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, wenn sie sich nicht ausdrücklich um die österreichische Staatsbürgerschaft beworben haben.

Auf Grund dieses Entscheides wurden bereits in Berlin für die dortigen Wahlen am 5. Dezember und auch in Bayern für die Wahlen am 28. November die ansässigen Oesterreicher in die Wählerlisten eingetragen, somit als deutsche Staatsangehörige vereinnahmt.

Der österreichische Bundeskanzler erklärte auf eine sozialistische Anfrage, daß nach dem Staatsbürgerschafts-Ueberleitungsgesetz alle Oesterreicher wieder Oesterreicher sind, wo immer sie leben. In der Parlamentsdebatte machte Nationalrat Dr. Toncic darauf aufmerksam, daß das nationalsozialistische Reich, als es Oesterreich 1938 okkupierte, sieben Verträge brach: Aus dem Bruch von sieben freiwillig Unterzeichneten völkerrechtlichen Verträgen könne niemals Recht entstehen.

Wir bemerken hierzu: jawohl, aus - dem Bruch, auch aus einem tausendfachen Bruch der primitivsten Menschenrechte kann „Recht“ entstehen, wenn die Betroffenen ihr Recht und ihren Rechts- Standpunkt nicht genügend wahrnchmen und verteidigen.

Dr. Toncic erklärte sodann: „Durch neun Jahre wäre Zeit gewesen, daß wir von autoritativer Seite der Bundesrepublik Deutschland eine klare, eindeutige Erklärung zur Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Freiheit Oesterreichs bekommen hätten. Wir vermissen sie. Es ist noch immer Zeit, eine solche Erklärung abzugeben. Das wäre ein Beitrag,

den das heutige Deutschland zur endgültigen Befreiung Oesterreichs leisten könnte. Der österreichische Staat ist kein Provisorium und das österreichische Volk ist kein Volk auf Widerruf!“ Diese Erklärung deckt sich mit den Forderungen, die die „Furche“ mehrmals in den letzten Monaten erhoben hat, sekundiert von einigen wenigen anderen Blättern, umschwiegen und bekämpft von vielen anderen in Oesterreich.

Wenn ein offenes Wort zu den schwierigen Beziehungen zwischen Oesterreich und Deutschland gesagt werden soll, dann gilt es, zuerst vor der eigenen Türe zu kehren. Umschweigen ist nicht mehr am Platz, und die Vogel-Strauß-Politik so mancher öffentlicher Herumsteher reift gefährliche Früchte. Oesterreich hat in den ersten Nachkriegsjahren seine Interessen gegenüber Deutschland schlecht vertreten. Zunächst erfolgten einige ungeschickte vereinzelte Reaktionen, aus der Stimmung der ersten Nachkriegszeit, von denen heute noch einmal, hoffentlich zum letzten Male, gesprochen werden muß: einfach, weil sie jeder Oesterreicher, der in Deutschland etwas auf den Busch klopft, sofort zu hören bekommt. Da waren einmal einige ungeschickte Aeuße- rungen über die Deutschen, die erst wieder lernen müßten, zu arbeiten, bevor an ein Zusammenarbeiten mit ihnen zu denken sei: da gab es dann die Entrüstung über gewisse Versuche, das Berchtesgadener Ländchen an Salzburg anzugliedern (vielleicht ist diese Entrüstung noch heute der Anlaß dafür, daß man unter vierzig Fahnen verschiedener Länder am Königssee und an anderen bayrischen Orten fast alle Länder der Erde, nur das benachbarte Oesterreich nicht vertreten findet). Da gab es sehr bald ein schlechtes Gewissen über die sehr ungeschickt durchgeführte Entnazifizierung; über einige Ausweisungen von Deutschen, über eine bisweilen wenig freundliche Behandlung deutscher Flüchtlinge. Als die Bonner Bundesrepublik nach der Währungsreform erstarkte, erstaunlich schnell erstarkte, als sie zudem in Amerika die machtvolle Unterstützung nicht nur republikanischer Kreise fand, die offen erklärten, daß ein deutscher Nationalsozialist ihnen lieber sei als ein deutscher Demokrat, als zu dem bei uns die leidige Jagd nach dem „nationalen“ Wähler begann — eine Jagd, die beiden Regierungsparteien wenig Ehre und Ansehen eingebracht hat und weiterhin einbringen wird —, da steckte man sehr schnell um. Man tat, als ob nichts gewesen wäre — und siehe da: bei öffentlichen

Empfängen, bei Reisen nach Bonn, bei Gegenbesuchen in Wien konnte man, salopp und überschwenglich, Töne hören, die von weniger wohlwollenden Außenstehenden als fast hitlerisch’ angekreidet werden konnten: soviel war und ist da die Rede von „Schicksalsgemeinschaft“, von gemeinsamem Leben und Sterben. Seit Jahren können auch in Oesterreich ungehindert Blätter erscheinen, die ihren ganzen Unrat über jene einsamen Männer und Frauen ausgießen, die für Oesterreichs Freiheit gestorben sind, und die offen mit der „Abrechnung“ drohen. Von Büchern ganz zu schweigen. Diese Kreise werden geduldet beziehungsweise sogar gefördert von einem weit rechts stehenden Flügel der ersten Regierungspartei und fast noch mehr und nachdrücklicher von einem starken Flügel der SPOe, der mit den „nationalen“ Stimmen die heißersehnte Mehrheit gewinnen will. Dieser sozialistische Flügel besitzt übrigens eine eigene „nationale“ Tradition, die sich heute noch in Verwandtschaftsverhältnissen ebenso sehr bekundet, wie in einem verbissenen Ressentiment gegen die „Schwarzen“. Letzteres führte bekanntlich zu der gefährlichen sozialistischen These einer bloßen Annexion Oesterreichs durch das Deutsche Reich: die Sozialisten wollen die Gültigkeit des Konkordats wegdisputieren, indem sie die Kontinuität Oesterreichs nach 1938 leugnen — um ein Linsengericht geben sie einen staatspolitischen Anspruch preis.

Diese tiefe Unsicherheit, dieses Lavieren im Inneren und Aeußeren, beruhend auf einem Schielen nach neuen Geschäften im Inneren und Aeußeren, hat seit Jahren schlimme Folgen für Oesterreich in Binnendeutschland, in Westdeutschland gehabt. Offen muß es ausgesprochen werden: der Oesterreicher galt und gilt in vielen deutschen Kreisen als eine fragwürdige Erscheinung, zumindest als ein offenes Provisorium. Selbst wohlwollendste, unserem Lande an sich zugetane Kreise in Deutschland erkundigen sich diskret, inwieweit unsere heutige Regierung Verrat treibe (mit den Russen); halten es für selbstverständlich, daß (die überwiegende Mehrheit in Oesterreich auch heute noch für den Anschluß sei, „natürlich“. So wird es ja in den westdeutschen Schulbüchern landauf landab den Kindern eingehämmert. Ohne daß bis heut;e ein Einspruch österreichischerseits erfolgt ist. Unsere diplomatischen Vertretungen kämpften in diesen letzten Jahren oft einen einsamen, vergeblichen Kampf. Da gab es einen Konsul in einer großen deutschen Stadt, der jahrelang vergeblich versuchte, bei einer einflußreichen Zeitung Berichtigungen durchzusetzen, wenn diese, wieder einmal, arge Verzerrungen historischer Sachverhalte standfest und unerschütterlich behauptete. Da ließ man es in Wien ruhig hingehen, daß ein österreichischer Pressechef in Bonn Persona ingrata war und dort bei keinem Empfang erscheinen konnte. Die Berichte heimkehrender österreichischer Universitätslehrer, die von einer Welle des Hohnes und des Miß trauens zu berichten wußten, wurden in irgendeine Schublade gelegt. Das Bonner Mißtrauen gegen Oesterreich fand in den letzten Jahren mehrfach Gelegenheit, sich zu bekunden — unter anderem einer Gruppe österreichischer Publizisten gegenüber, die vom deutschen Kanzler nicht empfangen wurden, obwohl ihre Einladung, eine Gegeneinladung auf zwei vorhergehende Einladungen deutscher Journalisten nach Oesterreich, von der Regierungsseite erfolgt war. Dankenswerterweise sprang damals der deutsche Bundespräsident Heuß in die Bresche und unterhielt sich aufs offenste und liebenswürdigste mit den Männern aus Oesterreich.

Hundert andere Belege könnten hier genannt werden: jeder österreichische Aussteller, jeder Veranstalter etwa einer Ausstellung österreichischer Kunstwerke in Deutschland kann ein Lied davon singen, wie schwer es ist, das Mißtrauen zu überwinden, das jedem begegnet, der sich als Oesterreicher deklariert. (Auf das Gegenbeispiel: auf die

Propagandareisen, Vorträge und Versammlungen ostmärkischer Nationaler in Westdeutschland, braucht hier nicht näher eingegangen zu werden.) Das Nichtinteresse deutscher Blätter für Oesterreich verbirgt oft nur schlecht eine kaum verhohlene Ablehnung.

Nur auf Grund dieser Stimmung, dieser Atmosphäre, sind die Gerichtsentscheide zu verstehen, die seit Jahren gegen Oesterreich in Deutschland ergangen sind. Gerichtsentscheide sind immer, in allen Staaten und Gesellschaften, signifikante Dokumentationen einer politischen Gesinnung und Willensbildung. Mit Recht hatte seinerzeit der Leipziger Verfassungsgerichtshof eine einzigartige politische Stellung im Deutschen Reich: im Prozeß um den Reichstagsbrand bezeugt sich noch einmal die ungeheure politische Bedeutung der hohen Gerichte.

Es geht also nicht an, hier von Spezialirr- tümern von Spezialisten zu sprechen. Hier ist eine entschiedene Gesinnung bekundet worden, die österreichischerseits verbietet, die Vogel-Strauß-Politik der letzten Jahre fortzusetzen (sie wird von den zahlreichen Interessenten und Nutznießern dieser Politik auf jeden Fall fortgesetzt werden, zu hoch sind die Preise und Entgelte — gerade deshalb ziemt es verantwortungsbewußten Staatsbürgern, den Schleier von Dingen zu lösen, die aller Welt offen sichtbar geworden sind).

Geben wir jetzt einem Kenner des Rechts das Wort — er mag das eben wieder Geschehene ins rechte Licht rücken:

Einem aufmerksamen Beobachter der Ereignisse muß es seltsam erscheinen, daß erst heute — am 3. November 1954 — das Urteil eines höchsten deutschen Gerichtes, das über die rechtliche Wirkung von Kollektiveinbürgerungen entschieden hat, den gesamten staatlichen Apparat in Bewegung setzt. Aufsätze deutscher Rechtswissenschaftler sahen sich jedenfalls schon seit 1951 veranlaßt, zu Entscheidungen deutscher Gerichte Stellung zu nehmen. Die Gerichte setzten nicht politische Akte, sondern trafen hoc et nunc Entscheidungen über Fragen, die da und dort den einzelnen in seinen existentiellen Nöten betrafen. Ueber Angelegenheiten des Eherechtes, des ehelichen Güterrechtes, des Gewerbes, der Versicherungsleistungen und ähnliches war zu erkennen. In diese Angelegenheiten waren Personen verwickelt, die unter den Geltungsbereich des Staatsbürgerschafts-Ueber- leitungsgesetzes fallen. Allzuoft war die Frage, ob eine solche Person noch deutscher Staatsbürgerschaft ist, für einen für die Person günstigen Ausgang eines Verfahrens bedeutsam (Siehe ‘über diese Fragen letztmals Markarov, Zur Behandlung von deutschen Zwangseinbürgerungen 1938 bis 1945, Deutsche Juristenzeitung 1952, S. 402). In juristischen Abhandlungen wurde oft mit Nachdruck die Auffassung vertreten, daß Oesterreicher eine doppelte Staatsbürgerschaft — nämlich die deutsche und die österreichische — besitzen. Die österreichische Oeffentlichkeit ist von dem Einfluß, den Rechtsauffassungen deutscher Rechtsforscher auf die deutsche Rechtsprechung und die öffentliche Meinung ausüben, ungenügend informiert. Die deutschen Rechtswissenschafter sind nicht wie in Oesterreich die Oesterreichrufer in der Wüste! Ihre Forderungen werden gehört, an sie wird appelliert, wenn es gilt, Probleme zu lösen, deren rechtliche _ Wirkung von Politikern nicht abgesehen werden kann. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn sich demzufolge schließlich die Judikatur der höchsten deutschen Gerichte mit den Rechtsauffassungen der Rechtswissenschafter eingehend auseinandersetzt. Schon im Jahre 1951 befaßte sich der Deutsche Bundesgerichtshof — das höchste Zivilgericht — (BGH. Z 3, 178), im Jahre 1952 das Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik, Beschluß vom 28. Mai 1952 (Deutsche Juristenzeitung, S. 414 1952), mit der Jfrage der Doppelstaatsbürgerschaft österreichischer Staatsbürger. In dem letztgenannten Beschluß wird sogar wörtlich ausgeführt: „Aus der Unwirksamkeit der Annexionen durch das deutsche Reich seit dem 1. Jänner 1938 kann auf Grund der gesamten Umstände nicht die Folgerung gezogen werden, daß alle mit den Annexionen zusammenhängenden Zwangsverleihungen deutscher Staatsangehörigkeit als nichtig zu betrachten sind." Mit diesem Erkenntnis setzte sich in Oesterreich Seidl -H oh enveldern (Oester- reichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. VI, S. 21 ff) eingehend auseinander. Es ging aber noch weiter: In der Deutschen Juristenzeitung wurde im Jahrgang 1953, Heft 7 8, S. 19, in einem Berichte die Mitteilung gemacht, daß die Bonner Regierung einen Gesetzentwurf zur Regelung der Staatsbürgerschaftsfragen, die mit den Zwangseinbürgerungen Zusammenhängen, vorgelegt hat. In diesem Bericht wird ausgeführt: „Der Entwurf läßt der besonderen Verhältnisse wegen, die Sammeleinbürgerungen der Bewohner westlicher Gebiete unberücksichtigt; — mit Belgien ist eine vertragliche Regelung beabsichtigt, ebenso mit Oesterreich." Deutschland ist also seit eh und je der Auffassung, daß der Oesterreicher seit jenen Tagen im Jahre 1938 rechtswirksam im „Genüsse" der deutschen Staatsbürgerschaft ist und diese nicht verloren hat. Eine Vereinbarung wäre ja sonst nicht notwendig! Auch diesen Schritt hat E r m a c o r a in den Juristischen Blättern 1953, S. 496 ff. der Oeffentlichkeit zur Kenntnis gebracht. Die Verantwortlichen machten sich anscheinend über diese bedrohliche Entwicklung in der Behandlung staatsbürgerschaftsrechtlicher Fragen, die im Hintergründe ja das Gespenst des Anschlusses auf der politischen Bildflläche umreißt — obgleich sie unterrichtet sein mußten —, keine Gedanken — bis am 3. November in Oesterreich die Bomben platzten. Dabei hätte man in den letzten Jahren schon das Gras wachsen hören müssery

Wir hatten es nicht nötig, das Gras wachsen zu hören: wir hatten Gelegenheit, bei hundert Reden, auf Kongressen, bei Aufmärschen, in Zeitungen und Büchern und soeben wieder in politischen Aktionen in Deutschland laut und vernehmlich zu hören: das heutige Oesterreich ist ein Provisorium, Oesterreich ist ein Teil des deutschen Reiches und als solcher berufen, die Last und Größe seiner Geschichte mitzutragen. Wie es der Bonner Abgeordnete zum Bundestag, Prinz Löwenstein, so schön formulierte: mitzuwirken an der Befreiung des deutschen Ostens und Westens.

Was nun?

Zunächst eine Vorbemerkung: es geht nicht an, diese und andere Erscheinungen als ein Wiedererstehen des Nationalsozialismus zu deuten. Die Dinge liegen viel einfacher: ein alter deutscher Nationalismus findet es ganz „natürlich“ und durchaus in Ordnung, daß die Oesterreicher verpflichtet sind, ihren Beitrag zum deutschen Reich zu leisten. Dieser Nationalismus erhebt sich soeben in einer mächtigen Phalanx der deutschen Sozialdemokratie, bei der Deutschen Partei und den „Freien Demokraten“, um gegen das „Opfer von 900.000 Deutschen" an der Saar Einspruch zu erheben. Es scheint, als bliebe die Behandlung der Oesterreichfrage in Deutschland verknüpft mit der Saarfrage — ist sie doch ein Prüfstein für den Europawillen der Deutschen. Die Ostmark hat ihren Reichsstatthalter aus der Saar bezogen, der Einmarsch ins Saargebiet öffnete Hitler die Tore nach Oesterreich — er zeigte ihm, wie weit er gehen konnte, mit Billigung der Westmächte. Heute mag die Haltung der deutschen Nationalisten zur Saar ihre Stellung zu Oesterreich illustrieren. „900.000 Deutsche werden an der Saar geopfert.“ Man greift sich, so man noch nüchtern ist, an den Kopf: werden diese Menschen verbrannt, wie in Gaskammern, werden sie auf Schlachtfeldern geopfert, in Wüsten verschickt, in Meeren versenkt? Nichts von alledem: diese Schlagworte sollen „nur“ dazu dienen, die großartige Europapolitik des Bonner Bundeskanzlers zu sprengen, eines Mannes, der diesen Nationalismus sehr genau kennt und deshalb noch bei seinen Lebzeiten Deutschland eng an den Westen binden will, weil er mit Recht das Schlimmste fürchtet, wenn dieser Nationalismus sich selbst überlassen wird. Dr. Adenauers Europapolitik soll in die Luft gesprengt werden — weil die Saar ein Europastatut erhalten soll. Keinem Deutschen dort wird ein Haar gekrümmt, keiner wird gehindert, seine Muttersprache zu sprechen (wie etwa allzu lange unsere Südtiroler) — weil diese Saarländer aber nicht totaL in den binnendeutschen Machtapparat verschweißt werden sollen, deshalb das mörderische Schlagwort’ vom „Opfer einer Million Menschen an der Saar“.

Die Saar, das heißt der Kampf um die Saarfrage im heutigen Westdeutschland, zeigt uns Oesterreichern aber zugleich auch den positiven Weg zur notwendigen Klärung unserer Beziehungen zu Deutschland. Wer im heutigen Deutschland die Integrierung Deutschlands in einem freien Europa will, der kann durch eine intensive Aufklärungsarbeit österreiehi- scherseits — an dieser fehlt es aber bis heute vollständig — erfahren, daß es im wohlverstandenen Interesse Deutschlands ist, wenn dieser mächtige Sprengkörper nicht direkt mit den neuralgischen Knotenpunkten weltpolitischer Konflikte zusammenstößt, mit dem Balkan, mit der Donauebene, mit dem Vorfeld der Adria. Wenn also ein Isolierband besteht, das Kurzschlüsse verhindern kann: eben Oesterreich. Wer die gewaltigen Kräfte des binnendeutschen Raumes und Volkes wirklich hüten und behüten will, muß heute wissen, welch wertvollen Dienst Oesterreich rein durch seine Existenz an einem schicksalsschweren Ort in Europa Deutschland leistet, indem es als Mittler eingeschaltet ist dem, der auf dem Balkan Handel treiben will, der friedliche Wege in den Osten hinein sucht. Es liegt im Interesse Deutschlands, die Unabhängigkeit Oesterreichs zu hüten: wenn es auf der Hut sein will vor den Gefahren, die in seinem eigenen Inneren hausen. Die klare und unklare, offene oder verdeckte Stellung der Deutschen Oesterreich gegenüber wird zudem immer der Prüfstein für die Weltfähigkeit, die Weltgültigkeit des Deutschen sein: sein Auftreten in Oesterreich wird, wenn es frei von Anmaßung, Ueberhebung und Minderwertigkeitsgefühl ist, sein Auftreten in Italien, der Schweiz, in Holland, Belgien, Dänemark und Finnland prägen — in allen Ländern und bei aHen Völkern, die klein scheinen und deren wahre Größe sich nur großer Nüchternheit, wahrer Kenntnis und Geduld erschließt.

Für Oesterreich aber gilt: die Klärung unserer Beziehungen zu Deutschland ist, für uns eine Lebensfrage’. Sie kann nur mutig, offen, entschieden, mit großer Geduld und unter Einsatz der befähigsten Männer begonnen werden. Zu fordern ist als erstes: eine Erklärung der Bonner Regierung, welche die Unabhängigkeit Oesterreichs klar herausstellt. Dann ist auf weiteres zu achten: Nach dem genauen Studium des deutsch-französischen, des deutsch-italienischen und des deutschamerikanischen Kulturabkommens sind für ein eigenständiges deutschösterreichisches Kulturabkommen die notwendigen Vorarbeiten zu leisten. Dieses Abkommen muß nicht nur die Errichtung einiger Oesterreichhäuser in Westdeutschland vorsehen — Hamburg (unser Hafen), Frankfurt am Main und München sind dafür prädestiniert —, Oesterreichhäuser, in denen Handel • und Industrie, Fremdenverkehr und Kultur gemeinsam ver treten werden, sondern muß vor allem anstreben, auf die deutsche Presse und auf den deutschen Schulunterricht Einfluß zu nehmen. Dort wird ja die Meinung der heutigen Deutschen über Oesterreich geformt. Das alles sind Dinge, die viel Arbeit, Geduld und Redlichkeit verlangen.

Die Zeit der Provisorien und der Improvisationen ist in Oesterreich vorbei: auf wirtschaftlichem, innenpolitischem und, in allerletzter Zeit, auch auf kulturellem Gebiet. Nun ist es aber hoch an der Zeit, daß wir auch nach außen hin alles tun, um von keiner Macht der Welt als ein Provisorium angesehen zu werden. Vielleicht führt der Weg nach Bonn über Washington. Der österreichische Bundeskanzler wird dort Gelegenheit haben, um Verständnis für die Unabhängigkeit eines Landes zu werben, das zwischen Präsident Wilson und heute mannigfache Gaben und Gefährdungen von dort erhalten hat.

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