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Österreich zwischen Rußland und Serbien

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Mit diesem seinem neuesten Werk hat sich der bekannte Historiker einem zweifellos hochinteressanten Kapitel aus der neueren ost- und südosteuropäischen Geschichte zugewandt. Schon beim Ueber-fliegen des Inhaltsverzeichnisses bleibt der Blick mit Spannung auf einem Abschnitt der Arbeit hängen, der den Titel trägt: „Organisation und Mitwisser des Attentats von Sarajewo.“ Dieser Teil ist schon deshalb von Interesse, weil sich der Autor hierbei unter anderem auf 56 serbische Aktenstücke stützen kann, von denen er im Vorwort .angibt, daß sie gewissermaßen als das Destillat einer großangelegten, systematischen Aktenedition anzusehen sind, die, in Wien unternommen, 1945 bereits im Druck war, ..aber unter dem Zwang der unmittelbaren Nach-kriegsverhältnisse eingestampft werden“ mußte. Das. Licht, das durch sie auf das Attentat von Sarajewo und seine Hintergründe geworfen wird, ist allerdings, im ganzen genommen, doch recht bescheiden. Die serbische Regierung wie auch .ändere daran interessierte Stellen haben noch vor und dann bei Ende des ersten Weltkrieges offensichtlich eine Reihe von Akten aus ihren Archiven eliminiert, die für die-restlose Klärung des Sachverhaltes heute von Wichtigkeit wären. Zwar hat der sogenannte Salonikiprozeß im Jahre 1917 und seine Wiederaufrollung im Jahre 1953 noch einiges Material zu dieser Frage beigesteuert, aber gerade im Hinblick auf den Wirrwarr der Zeugenaussagen, auf diesen ganzen Wust von dunklen Andeutungen, Unterschiebungen und

Verdrehungen könnte der Historiker fast daran verzweifeln, den tatsächlichen Gang der Dinge je noch herausfinden zu können. „Was ist Wahrheit?“ möchte man ausrufen. Wahrheit ist zweifellos, daß das Attentat von Sarajewo durch die serbische Geheimorganisation „Vereinigung oder Tod“, kurz „Schwarze Hand“ genannt, vorbereitet wurde, daß darüber den Belgrader Regierungskreisen zumindest Andeutungen zugekommen sind, ohne aber dort eine ernstliche Reaktion auszulösen, und daß schließlich, als die Katastrophe eintrat, man ebendort alles unternahm, um die Spuren der Attentäter, die von Bosnien nach Belgrad wiesen, zu verwischen. Das alles war aber bisher schon mehr oder minder bekannt.

Freilich ist dies auch nicht das Hauptanliegen dieses Buches, sondern das besteht darin, die Situation Oesterreich-Ungarns zwischen dem kleinen, streitbaren Serbien und seinem großen Protektor Rußland und den übrigen europäischen Großmächten darzulegen. Hierbei wird im wesentlichen der Zeitraum von der Annexionskrise bis zum verhängnisvollen 28. Juni 1914 in 20 Kapiteln behandelt, von denen das letzte sehr bezeichnend „Die Kriegsschuldfrage“ heißt. Dementsprechend ist auch der Standpunkt des Verfassers. Er wägt und wertet nicht nur, nein, er richtet, streng und unerbittlich. Man ist sich schon nach wenigen Seiten über die Rollenverteilung zwischen Kläger und Angeklagten klar. Da stehen auf der einen Seite die stets korrekten, dazu noch ehrlichen und gutgläubigen, altruistischen Staatsmänner der alten Monarchie, und auf der anderen Seite die verschlagenen, zynischen, persönlich eitlen und höchst unaufrichtigen Politiker und Herrscher der Ententemächte, denen fast kein Mittel zu schlecht ist, um zu ihren Zielen zu gelangen. Natürlich sind die von Uebersberger gewissermaßen schwarz auf weiß mitgeteilten Fakten zutreffend, ja, soweit man sieht, auch belegt, aber — so fragt man sich — sind Licht und Schatten wirklich gerecht verteilt? Ließen sich nicht für soundso viele Dinge, die er der Gegenseite ankreidet, Parallelen im eigenen Lager finden? Sind die Motive der Gegenseite tatsächlich nur so niedriger Art, hat ihnen Oesterreich-Ungarn niemals — gewollt oder ungewollt — Anlaß zu Befürchtungen gegeben? War das „Versteckenspiel“ der Ententepolitiker hinter der öffentlichen Meinung ihrer Länder wirklich nur eine Farce oder vielmehr eine richtige Einschätzung der gegebenen Tatsachen? Und schließlich: Was für Beziehungen bestanden zwischen der Außenpolitik der Monarchie und ihrer innenpolitischen Lage? Sehr richtig zitiert der Autor: „Die Struktur Oesterreich-Ungarns bringt es mit sich, daß zwischen unseren auswärtigen Beziehungen zu fast allen Nachbarn und den korrespondierenden nationalen Fragen im Inneren eine automatische Wechselwirkung besteht“ (S. 190). Aber in seiner Darstellung merkt man davon nur wenig. Vorwiegend auf Aktenpublikationen gestützt, bringt er in diesem Teil seines Werkes fast ausschließlich nur die Geschichte der diplomatischen Beziehungen. Das muß, wenn schon zu keinem zerzerrten, so auf jeden Fall doch zu einem einseitigen Bilde führen.

Man kann das aber schon verstehen. Der Autor, ein gewiß vorzüglicher Kenner seiner Materie (besitzt er doch zu einem guten Teil die dafür notwendigen Sprachkenntnisse), hat die von ihm geschilderten Ereignisse ja selbst mit heißein Herzen miterlebt und ist dann in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg mit in der vordersten Reihe derer gestanden, die sich bemühten, den von den Siegermächten dem eigenen Lande zudiktierten moralischen Schuldspruch mit den Mitteln des Historikers zu entkräften. Er hat in diesem Sinne sich als Mitherausgeber der vorzüglichen Aktenpublikation „Oesterreich-Ungarns Außenpolitik von der bosnischen Krise 1908 bis zum Kriegsausbruch 1914“ ein bleibendes Verdienst erworben. Inzwischen sind aber rund 25 Jahre vergangen, in denen sich viel ereignet hat. Und so stellt sich denn die Frage, ob nach dem Zusammenbruch des alten Europa, das noch in Zentralmächte und Ententestaaten gespalten war, und ob angesichts eines sich nun langsam anbahnenden neuen geistigen Zusammenschlusses des Kontinents dieser polemische, emotionell beeinflußte Ton noch am Platze ist? Ja ist denn die ganze Kriegsschuldfrage heute überhaupt noch aktuell? Natürlich gibt es da und dort noch immer geistige „Nachzügler“, Leute, die gewissermaßen in den zwanziger und dreißiger Jahren „beim Unterricht gefehlt haben“. Aber soll man sich nur nach diesen richten? Wir glauben das nicht. Unsere Bemühungen sollten vielmehr der geistigen Elite, und zwar nicht nur der unserer engeren Heimat, gelten; die aber werden wir durch die einseitige Betonung unseres Standpunktes nie überzeugen können.

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