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Österreichisch und national

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Wir haben kürzlich zwei sehr bemerkenswerte Kundgebungen erlebt, von denen allerdings nur eine Aufsehen erregt hat. Ein österreichischer Abgeordneter erklärte nämlich als Sprecher seiner ganzen Partei im österreichischen Parlament, daß die Nation über dem Staat stehe. Nun, die deutsche Nation, die er meint, findet ihre Repräsentation jedenfalls außerhalb unserer Grenzen. Ungefähr gleichzeitig hielt eine andere im österreichischen Parlament vertretene Partei ihren Parteitag ab, worüber sie in ihrem Zentralorgan schreibt, der Parteitag habe die Kraft der Partei, ihre ‘freue zur Sowjetunion und ihre Treue zur Sache des Volkes demonstriert. Wenn man dies ebenfalls möglichst wohlwollend auslegt, wird man annehmen dürfen, daß hiebei die Sache des österreichischen Volkes gemeint ist, aber auf alle Fälle steht an der Spitze das Treuebekenntnis zu einem fremden Staat.

Ohne Umschweife herausgesagt heißt dies, daß zwei österreichische Parteien den österreichischen Staat gar nicht wollen oder nur als ein Gebilde von untergeordneter Bedeutung, untergeordnet dem höheren Begriff der „deutschen Nation“ einerseits oder der Sowjetunion anderseits. Wir wollen nicht kleinlich sein. Die Frage, in welche Gemeinschaftsformen die Menschheit zusammengefaßt werden soll, kann sehr verschieden betrachtet werden. Der Wunsch nach einem Pan- europa, der sicher nicht unvernünftig ist, zeigt nur eine Form des Strebens nach einer Zusammenfassung in größeren Gemeinschaften über die heutigen Staaten hinaus. Wir wollen also jemanden, der den Staat nicht als die höchste Form der Einheit ansieht, nicht gleich als „Hochverräter“ bezeichnen. Aber doch sollten wir uns endlich einmal darüber klarwerden: Was bedeutet uns der Staat, was bedeutet uns Oesterreich?

Daß es überhaupt Staaten gibt, beruht auf den natürlichen Bedingüngen des menschlichen Lebens. Jeder Mensch braucht als Kind, als Kranker, im Alter die Hilfe anderer, und nach den heutigen Verhältnissen können wir des Lebens Unterhalt überhaupt nur in einer Erwerbstätigkeit gewinnen, die auf organisierter Zusammenarbeit beruht. Demgemäß müssen eben Einheiten und Gemeinschaftsformen von zweckmäßiger Größe und Volkszahl vorhanden sein, die für ihren Bereich das Zusammenleben untereinander regeln und die gleichzeitig die Interessen ihrer Angehörigen gegenüber den anderen Gemeinschaften vertreten. Diese Zweckgebilde sind unsere heutigen Staaten. Die Praxis zeigt, daß Gebilde sehr verschiedener Volkszahl und Größe imstande sind, ihre Aufgabe zu erfüllen. Und es könnte durchaus von der vielleicht wechselnden Zweckmäßigkeit ab- hängen, ob man zwei oder mehr dieser Gebilde miteinander vereint, um etwa größere Wirtschaftsgebiete zu bilden oder ob man ein zu großes und gewissermaßen unhandliches Gebilde teilt. Das wäre also bloß eine Sache der Zweckmäßigkeit.

In Wirklichkeit aber ist kaum einer der vielen Staaten unserer Erde einfach nach wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit konstruiert worden, vielmehr liegt fast allen Staaten eine lebendige Entwicklung zugrunde. Landschaftsgestaltung, Sprache und Abstammung, geschichtliche Ereignisse haben in Jahrhunderten und Jahrtausenden die wesentlichen Grundlagen unserer heutigen Staaten geschaffen. Und die Umstände dieser Entwicklung sind es, die heute einen ganz wesentlichen Staatsbegriff bestimmen: Nämlich den Staatswillen, die innere Beziehung des Volkes zu seinem Staat, den Willen zur Gemeinschaft. Und das ist nun der entscheidende Punkt. Ein Staat ist ein Sammellebewesen. Als solches unterliegt es dem Naturgesetz alles Lebendigen, das als Voraussetzung des Lebens den Lebenswillen fordert. Ob Mensch oder Tier, was keinen Lebenswillen hat, ist dem Untergang geweiht. Der Lebenswille des Staates aber ist das Nationalgefühl, das sein Volk haben muß, um den Bestand des Staates zu gewährleisten.

Man kann statt „Nationalgefühl“ vielleicht auch ein anderes Wort setzen, das tut nichts zur Sache. Wesentlich aber ist: Das entscheidende Gemeinschaftsgefühl muß auf den Staat gerichtet sein. Wo das beherrschende Gemeinschaftsgefühl der überwiegenden Zahl der Staatsbewohner auf ein anderes Ziel gerichtet ist, auf die Familie — wie bis vor kurzem in China —, auf eine Partei, auf eine kleinere Einheit — z. B. nur auf Gemeinde oder Heimatgau —, auf eine größere Einheit oder gar auf einen fremden Staat, da muß über kurz oder lang dieser Staat, den seine Bewohner nicht wirklich wollen, zugrunde gehen.

Ueber diese Tatsache muß Oesterreich sich klarwerden. Es soll dabei keineswegs verkannt werden, daß niemals der Staat allein den Menschen für sich beanspruchen darf, Bindungen und Beziehungen nach vielen Seiten hin sind geradezu das Wesentliche des Menschentums in Religion, Familiensinn, Sprache, Kultur und Weltanschauung. Die grundlegende Aufgabe des Staates aber ist es, seinen Bürgern die Ueberzeugung zu geben, daß sie alle diese Beziehungen gerade in seinem Rahmen am besten pflegen können, und darum sollte jeder Bürger das Streben haben, sich den Staat als jenen Rahmen zu erhalten, in dem er das Leben führen kann, das ihm lebenswert erscheint.

• Staatsgefühl oder Nationalbewußtsein ist also die frohe und stolze Bejahung der Gemeinschaftsform, die uns ermöglicht, unsere Lebensform zu pflegen, our manner of life. Damit ist umrissen, wie groß die Gemeinschaft sein kann! Sie kann so weit reichen, als die inneren Beziehungen zwischen den Menschen reichen und das Gefühl, durch das Zusammenleben nicht an die Wand gedrückt zu sein. Damit ist aber auch gegeben, daß nichts mit wahrem Staatsgefühl vereinbar ist, was die Wahrung der eigenen Lebensart gefährdet, und vor allem nichts, was die Erhaltung des Lebens der Gemeinschaft gefährdet.

Und nun reden wir deutsch mit jenen, deren Nationalgefühl deutsch und nicht österreichisch ist. Für das Schicksal der sieben Millionen Menschen auf diesem Stück Erde, das den Namen Oesterreich trägt, sind wir verantwortlich, wir sieben Millionen Oesterreicher. Daß wir durch eine Unzahl von geschichtlichen, sprachlichen, kulturellen und anderen Beziehungen mit Deutschland verbunden sind, das steht außer jedem Zweifel. Diese Beziehungen sind ganz einfach ein Teil unseres Wesens. Nicht minder aber haben wir auch andere Beziehungen, die genau so zu unserem Sein und Werden beitrugen, und niemand wird bestreiten können, daß es nicht ein einzelner Gewaltakt war, der eine Eigenstaatlichkeit Oesterreichs hervorrief, sondern daß dies auf einer tausendjährigen geschichtlichen Entwicklung beruht. Wir können’ diese Entwicklung bedauern oder begrüßen, jedenfalls ist sie eine T atsache. Die ferne Zukunft kann uns weiter auseinanderführen, sie kann uns aber auch wieder in irgendeiner Form zusammenführen, vielleicht in einem ganz neuen Rahmen. Aber das steht nicht zur Erörterung. Wichtig ist einzig und allein, daß wir heute auf uns selbst gestellt sind, daß wir die Verantwortung tragen und auf niemand rechnen können, der uns dieser Verantwortung enthebt.

Um es noch einmal zu sagen: Ueber jeder geschichtlichen Erinnerung, über jeder Schwärmerei und ideologischer Zielsetzung steht heute die Aufgabe, das Leben der sieben Millionen Menschen in diesem Staate zu erhalten, und dazu gehört es, diesen Staat selbst zu erhalten, ihm endlich Freiheit und Unabhängigkeit zu erkämpfen. Dazu aber müssen wir jeden Funken staatspolitischer Kraft und staatspolitischen Willens diesem Oesterreich zur Verfügung stellen und keinem anderen Gebilde. Und wenn irgend jemand so daherredet, als ob über unserem Staate noch ein übergeordneter Begriff einer Nation stünde, so ist das ein Dolchstoß gegen Oesterreich. Eine Nation ist die Gemeinschaft derer, die durch Geburt und Abstammung zusammengehören. Auf den Universitäten des Mittelalters wurden die Landsmannschaften als Nationen bezeichnet, da gab es je nach den Umständen eine österreichische Nation genau so wie eine sächsische, und wenn man heute erklärt, daß es zwar einen österreichischen Staat gibt, aber keine österreichische Nation, so hat dies im Begriff des Wortes Nation keine Berechti gung, sondern ist nur eine Form, dem österreichischen Staat seine Lebensrechte abzusprechen.

An und für sich mag das kein Verbrechen sein. Wenn das aber jemand auf sich nimmt, der die Deutsch sprechenden Oesterreicher „eigentlich“ als Deutsche betrachtet, so ist dies nicht nur ein Verbrechen am österreichischen, sondern — von seinem Standpunkt aus betrachtet — auch ein Verbrechen am deutschen Volk- Denn in langen Zeiten der Geschichte war eben der österreichische Staat jene Form, in der Millionen Menschen deutscher Sprache ihr Dasein erhielten, wo sie lebten, arbeiteten und Werke schufen, die auf alle Fälle zum rühmlichen Inbegriff der menschlichen Kultur gehören.

Die Zerstörung dieses österreichischen Staates hat schon einmal sehr viel Elend über das deutsche Volk gebracht, genauer gesagt, über Reichsdeutsche, Oesterreicher und sogenannte Volksdeutsche. Von den zwölf Millionen deutschsprachiger Menschen, die im Jahre 1918 in der Donaumonarchie lebten, hat nahezu die Hälfte seine Heimat verloren. Dafür hatten wir das „Glück“, ein paar Jahre hindurch einem Großdeutschen Reich anzugehören, das Millionen Menschen auf allen Schlachtfeldern opferte und andere in Konzentrationslagern vernichtete.

Es wäre ungerecht, die Sache so zu betrachten, als hätte die großdeutsche Richtung bewußt und kaltblütig das Risiko eines solchen Ausganges auf sich genommen; setzen wir ruhig voraus, daß die meisten Großdeutschen glaubten, rechtschaffen zu handein. Aber heute stehen die Dinge doch anders. Hier an der Donau und an den Alpen leben sieben Millionen Menschen .in einer Gemeinschaft, die nicht erst seit gestern datiert, sondern seit Jahrhunderten, diese sieben Millionen Menschen müssen selbst schauen, daß sie sich ihre Zukunft sichern, sie können weder Rheinländer und Schwaben noch Bauern und Sachsen vor ihren Karren spannen, und sie können auch nicht ihre eigene Existenz um anderer willen aufs Spiel setzen. Diese sieben Millionen Menschen sind nun einmal Oesterreich, und nur unser Selbsterhaltungstrieb als österreichischer Staat und österreichisches Volk gibt uns die Möglichkeit, unser Schicksal zu meistern. Und wer uns irgend etwas abspricht, was zum vollen (Inbegriff eines freien und selbständigen Staates gehört, wer über unseren Staat eine Nation stellt, der vergeht sich am Lebensrecht dieser sieben Millionen und kann sich ruhig aussuchen, ob er als Oesterreicher an Oesterreich oder als Deutscher an sieben Millionen Deutschen gesündigt hat.

Für uns, die wir wissen, daß wir für unser Schicksal selbst verantwortlich sind, die wir für Leben, Ehre und Freiheit Oesterreichs kämpfen, gibt es in dieser Zeit der Bedrängnis keine Haarspaltereien hinsichtlich Volk und Nation, keine Unterscheidung zwischen österreichisch und national, sondern nur ein einziges bedingungsloses Bekenntnis zu dieser Schicksalsgemeinschaft Oesterreich und die Feststellung, daß jeder, der auf diesem Stück österreichischer Erde seine Heimat hat und der nicht fnit ganzer Kraft zu Oesterreich als Volk, Staat und Nation steht, nur dazu beiträgt, seine eigene Heimat zu untergraben und der Gefahr der Vernichtung preiszugeben.

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