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österreichische und preußische Geschichtsschreibung

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Es hat bis in die jüngste Zeit Menschen gegeben, die geglaubt haben, eine „gesamtdeutsche Geschichtsauffassung“ habe ein weiteres Blickfeld als eine österreichische. Dies war wohl eine grundfalsche Annahme, die fSr. einzelne Perioden des Mittelalters stimmen mag, und auch da nur sehr bedingt. I den neueren Jahrhunderten ist aber mit der „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung“ nichts Entscheidendes anzufangen und die Parole von der „Enge der schwarzgelben Grenzpfähle“ ist ein kleindeutsches Argument. Eine österreichische Art* Geschichte zu betrachten, geht am besten die drei folgenden Wege: die lokalgeschichtliche, die mitteleuropäische, die weltgeschichtliche Betrachtungsweise.

Österreich ist — durch Lage und Mentalität seiner Menschen — vielleicht der Platz, Wien die Stadt der ganzen Welt, von wo aus weltgeschichtliche Betrachtung am besten möglich ist. Wien liegt etwa in der Mitte der Linie, an der sich der weltgeschichtliche Kampf zwischen Römern und Germanen abspielte, Österreich stand im Brennpunkt der drei spannungsreichsten geschichtlichen Probleme des Mittelalters — Verhältnis des deutschen Königs zu Rom, Ausbreitung des Christentums und der deutschen Kolonisation nach Osten, Auseinandersetzung Europas mit dem Orient während der Kreuzzüge. Wien war die Hauptstadt des zuerst österreichisch-burgundischen, später donauländischen Länderkomplexes, in dem sich in der Hauptsache die kulturellen und materiellen, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wechselbeziehungen zwischen den größeren und kleineren Völkern Europas vollzogen. Österreich war in neuerer Zeit das Land der kompliziertesten sozialen Verhältnisse, in dem die, Fragen der westeuropäischen Industriearbeiterschaft ebenso wichtig waren wie die Probleme des östlichen Landarbeiterproletariats und die Aufgaben der Siedlung aus der Not der Raumenge heraus. Man erinnere sich ferner an die Entstehung der Pentarchie der fünf Großmächte: Österreich wurde der Kern- und Kristallisationspunkt der Gegnergruppe (England, Österreich, Rußland), die Ludwig XIV. und seine Verbündeten (Türkei, Schweden) bekämpfte, später der Wächter gegenüber preußischen Übergriffen und Schwerpunkt des Bündnisses zwischen Frankreich, Österreich und Rußland. (Kau-nitzsche Koalition.) Österreich ist bis heute der Punkt, an dem sich die Einflußsphären der Weltgroßmächte am engsten und am innigsten berühren.

Das sind alles und vor allem nicht gesamtdeutsche, sondern weltgeschichtliche Probleme und so ist denn Österreich auch heute geradezu verpflichtet, die Idee der Weltgeschichte weiterzuführen und sie zunächst dort aufzugreifen, wo sie bei Ranke steckengeblieben ist. Damit kommen wir zum Thema.

Es war von symbolhafter Bedeutung, als im März 1938 die Büste des letzten Wiener Universalhistorikers, Max Büdingers, eines Ranke-Schülers, aus dem historischen Seminar der Wiener Univers-tät entfernt wurde. Der von Ranke beschrittene, von seinen Schülern fortgesetzte Weg ist von der Wissenschaft bald verlassen worden. Und so ist Rankes Lebenswerk ein Torso geblieben. Er hat nicht gehalten, was er versprochen, nach der damaligen~Lage der Dinge wohl auch nicht halten können.

In dem Aufsatz über „Die großen Mächte“, 1833 in Rankes „Historisch-Politischer Zeitschrift“ zum erstenmal er-schienm, einem geradezu wundervollen Kabinettstück historischer Darstellung, hat selbst vielleicht am besten sein eigene*

Lebenswerk programmatisch umrissen. Was er später an großen„ selbständigen Werken ausgeführt hat, ist die Vollendung dieses Programms. Die weltbewegende Kräfte, als Ideen gedacht und in den Großmächten verkörpert, sie sind es, dieden Historiker Ranke vor allem interessieren. In den „Fürsten und Völkern von Südeuropa“ behandelt er Spanien und die Türkei, in den „Römischen Päpsten“ schildert er, der Protestant, die universalste Macht, die die Geschichte kennt. Weiter entstand lie „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“, in jenem Zeitalter, in dem die religiösen Kräfte, vermengt mit politischen, die Bildung einer gesamtdeutschen Großmacht nicht aufkommen ließen. Auch die „Französische“, „Englische“ und „Preußische Geschidite“ handeln vom Großmachtcharakter dieser Staaten.

Diese Werke stellen, zusammengenommen, eine imponierende, wenn auch unvollendete Weltgeschichte der Neuzeit dar. Als Ergänzung und gleichzeitig als gewaltigen Auftakt dazu schrieb Ranke am Ende seines Lebens die „Weltgeschichte“, diesen wohl unvergleichlichen Überblick über die Jahrhunderte des Altertums und des frühen Mittelalters. Sonst jedoch hat ihn in den Spätwerken, wie „Die deutschen Mächte und der Fürstenbund“ „Friedrich Wilhelm IV. und Bunsen“, „Hardenberg“, wie man sieht, im 18. und 19. Jahrhundert nur noch die preußische Geschichte interessiert.

Wie steht Ranke zur österreichischen Geschichte? — Die deutsche Buchgemeinschaft hat vor etwa

zwanzig Jahren einen Band veröffentlicht, in dem Auszüge aus Rankes Werken zu 47 weltgeschichtlich wichtigen „Historischen Charakterbildern“ zusammengestellt waren. Wir finden da Persönlichkeiten aus der griechischen und römischen Geschichte, Männer des Mittelalters, Päpste sowie Lebensabschnitte von Männern aus der spani-sdien, französischen, englischen und preußischen Geschichte. In der „Reformation“ finden wir Kaiser Maximilian, in der spanischen Geschichte Karl V., unter den Männern der preußischen (!) Geschichte Kaiser Joseph II. (!?). Ein eigener Abschnitt über österreichische Geschichte erscheint in diesem Bande nicht.

Ranke hat Österreich als Großmacht wohl v, gekannt, er hat für seine Forschungen Wien und die Wiener Archive schon in jungen Jahren zu einer, Zeit aufgesucht (1827/28), da der Glanz des Wiener Kongresses noch nicht verblaßt war und da auch, die Kultur der Biedermeierzeit Österreich zur damals ersten Großmacht Europas erhob. Wie erklärt sich diese stiefmütterliche Behandlung Österreichs in den Werken des vielleicht größten deutschen Historikers?

Ein alter, sehr geistreicher Wiener Universitätsprofessor hat einmal gemeint, er halte die Werke Treitschkes für viel unbedenklicher als die Rankes. Denn dort sei die Tendenz so offenbar und das Urteil aller Gebildeten deutscher Zunge über den „preußischen“ Historiker Treitschke so allgemein, daß jeder Leser schon vor der Lektüre gewappnet ist. Ranke hingegen erweckt den Eindruck, als wäre er unparteiisch — und ist es ebensowenig.-

Denn auch Ranke ist in der preußischen Geschichte befangen geblieben — und zwar sehr stark!

Fassen wir einmal — durchaus im Sinne Rankes — den Aufsatz über die „großen Mächte“ kurz in eine Formel zusammen: Entstehung, Zusammenbruch und Wieder'

herstellung des europäischen Großmächtesystems, etwa 1650 bis 1800. Das ist europäisch, vielleicht sogar weltgeschichtlich gedacht. Sobald aber Ranke in seinen Werkes und Darstellungen das Jahr 1701 überschritten hat, in dem der Kurfürst von Brandenburg König von Preußen wird, wandelt sich seine Grundhaltung / und sein europäischer Blick verengert sich zu einem preußischen. Die Großmächte des 18. Jahrhunderts interessieren Ranke vorwiegend als Verbündete Preußens im Kampf gegen Österreich. Die Weiterbildung des europäischen Großmächtesystems, das Problem des europäischen Gleichgewichtes — ohne Einbeziehung Österreichs nicht zu verstehen — hat Ranke nur noch in Vorträgen vor König Max II. von Bayern „Über die Epochen der neueren Geschichte“ angedeutet, nirgends ausführlich behandelt. Auch die eigentlich neue europäische Großmacht des 18. Jahrhunderts, Rußland unter Peter dem Großen, hat Ranke unbehandelt gelassen.

. Keines der zahlreichen größeren Werke Rankes ist speziell einem österreichischen Problem gewidmet. Ranke hat über England und über Frankreich mehr geschrieben als über Österreich. Mit stärkster Sympathie und Gefühlswärme dagegen schrieb er neun, im ganzen sogar „Zwölf Bücher Preußischer Geschichte“. Dieses Erbe Rankes ist jahrzehntelang — bis etwa 1920 lebendig geblieben. Reichsdeutsche Historiker haben, wenn sie nichtpreußische* Themata behandelten, über die Renaissance, über Richelieu, über Pitt, über Choiseul, wohl kaum über Metternich oder Kaunitz geschrieben und sich selten zu Darstellungen durchgerungen, die der Österreicher als Würdigung seiner Geschichte empfinden könnte.

Man möchte Rankes „Wallenstein“ als Einwand entgegenhalten. Aber eben dieses Werk erinnert — durch Wahl und Behandlung des Themas — an die Haltung Bismarcks„ die er schon auf der ersten Seite seiner „Gedanken und Erinnerungen“ geäußert hat: „Jeder deutsche Fürst, der vor dem Dreißigjährigen Kriege dem Kaiser widerstrebte, ärgerte mich; vom Großen Kurfürsten an aber war ich parteiisch genug, antikaiserlich zu urteilen und natürlich zn finden, daß der Siebenjäjfrige Krieg sich vorbereitete.“ Mit dieser Haltung ist die Rankes aufs engste verwandt. —

Wir verdanken ihm natürlich trotzdem eine Reihe weltgeschichtlicher Erkenntnisse, die auf uns wirken, als wären sie eben geschrieben worden. So seine Betrachtungen über das „System des Rechts“, das durch die Weltbewegungen zerstört, durch neuerliche Bemühungen wieder zusammengesetzt und vollendet wird. Und wieder in den „großen Mächten“ findet sich der tröstliche, nach den letzten Jahren des Dritten Reiches heute noch so aktuelle Satz: „In großen Gefahren kann man wohl getrost dem Genius vertrauen, der Europa noch immer vor der Herrschaft jeder einseitigen und gewaltsamen Richtung beschützt, jedem Druck von der einen Seite noch immer Widerstand von der anderen entgegengesetzt und bei einer Verbindung der Gesamtheit... die allgemeine Freiheit und Sonderung glücklich gerettet hat.“

Audi andere Befangenheiten Ran-1 k e s müssen erwähnt werden. Er spricht im Grunde nur über die äußere Politik der Staaten. Die „Literatur“, wozu er die Wissenschaft und Dichtung, die Schrift-stellerei insgesamt rechnet, und selbst religiöse Ideen sind für ihn nur Komponenten bei der Bildung und Stärkung des nationalen Willens. Daraus erklärt sich wohl auch die dürftige Behandlung der Person Jesu Christi in der „Weltgeschichte“, die bei ihm, dem ehemaligen evangelischen Theologiestudenten, geradezu peinlich wirkt. Auch das Problem der Verfassung sieht er nur unter dem Blickpunkt der Selbstbehauptung des Staates nach außen hin. Ranke hat, ein echtes Kind seiner Zeit, verkannt, daß die nationale Idee eine typisch bürgerliche Bildung und ia ihrer Wirkung zeitlich be-

•ehränEt ist Er Rat sfe rar eftw efer ew% bewegenden weltgeschichtlichen Kräfte gehalten. Ferner seine völlige Hilflosigkeit gegenüber allen sozialen Problemen! Er weiß wenig von den sozialen Spannungen, die bei der deutschen Reformation und bei der englischen ad Französischen Revolution mit am Werke sind; er ist auch mitverantwortlich dafür, daß die deutsche historische Wissenschaft, bis in die Gegenwart hinein, das Jahr 1848 nur in seiner nationalen, kaum in seiner sozialen Bedeutung sieht. Wie bahnbrechend — im wörtlichen Sinne — wirkt doch dagegen die „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis anf unsere Tage“ (geschrieben 1850), eine Jugendarbeit seines nur um wenige Jahre jüngeren Zeitgenossen Lorenz von Stein, der später aa der Wiener Universität wirkte.

Rankes eigentliche Stärke, der er einen

großen Teil Wirkung tbkJ seines Er-

folges verdankt, ist sein Stil und seine vollendet künstlerische Darstellung. Man hat Niebuhr den Schiller, Ranke den Goethe der geschichtlichen Wissenschaft genannt. Das deutsche Volk zählt — im allgemeinen — auch seine besten Historiker nicht zu den Klassikern der Literatur. Bei anderen Völkern ist dies anders und auch Ranke ist da von niehtdeutscher Seite manche überraschende Ehre erwiesen worden. In Österreich hat bereits vor etwa 50 Jahren Eugen Guglia neben anderen vieles zur Würdigung und Anerkennung Rankes beigetragen. Und schon vor mehr als einem Jahrhundert hat kein Geringerer als Macaulay die englische Übersetzung von Rankes „Päpsten“ mit folgenden Worten begrüßt: „It is, therefore, with the greatest pleasure that we now see this book take its place among the English classic.*'

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