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Österreichs goldener W esten

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ZEHN MINUTEN DONNERROLLEN von Stahl auf Stahl in enger, nässetriefender Röhre. Zehn Minuten Nacht, wie eine tiefe Kluft in den Tag gebrochen. Und dann in der Ferne, erst gelblichgrau, darnach grünsilbern, ein Stern, verharrend und plötzlich zur Sonne wachsend. Der Donner ebbt zum Prasseln ab, als ob man Erbsen auf den Tisch schüttete: der Zug durchjagt Langen, der Arlberg liegt hinter uns. Vorhin sagte die Mundart für „gewesen“ noch „gwesn“, und nun heißt das „gsi“ — was den Vorarlbergern auch den Namen „Gsiberger“ eingetragen hat. Aber vor wie hinter dem Arlberg breitet sich Oesterreich — seit 600 Jahren, da die Habsburger aus den verschiedenen Herrschaften das Land zusammenfügten. Man muß seine wechselvolle Gebietsgeschichte verfolgen, um den Sinn für gewachsene Freiheiten, für verbriefte Rechte zu verstehen, für das, das man anderweits wegwerfend „Kantönligeist“ nennt. Hier wohnt ein freiheitsgewohntes und geübtes Geschlecht seit den Tagen der Walser. Man hat es allen seit 1725, da der Name Vorarlberg zuerst auftritt, verübelt, wenn an den verbrieften Rechten gerüttelt wurde; man nahm das Josef II. übel, der das Vorarlberger Land von den alemannischen Vorlanden trennte und dem Innsbrucker „Gubernium" unterstellte; man rechnete es verstimmt den Bayern zwischen 1805 und 1814 nach; man murrte über die Fügung eines „Gaues Tirol-Vorarlberg“ 1958 und wacht nach der Wiederherstellung der Bundesverfassung von 1920 peinlich über seine Länderrechte. Warum nicht? Das tun andere Bundesländer auch. Aber vielleicht liegt es an der Kleinheit des Landes, die selbständige Regungen auffälliger werden läßt als anderswo; 2602 Quadratkilometer — ein Drittel kleiner als das Burgenland; 195.637 Einwohner — soviel wie die beiden Wiener Bezirke Landstraße und Leopoldstadt zusammen. Aber: ein kleiner Gärtner sieht achtsamer auf seinen Zaun und merkt genau, wo man anderwärts etwas besser macht, und eignet es sich an.

EIN MUSTERLÄNDLE also, wie die als böse Zentralisteh zuweilen verschrienen Wiener das Land vor dem Arlberg nennen? Ein gedeckter Tisch, eine Hotelpension eine Devisenstelle, ein gesättigtes Geschlecht von Reaktionären, Separatisten und Hinterwäldlern? Mit solchen Schlagworten bedachte man brüderlich auch andere Länder — weil man sie nicht kannte. Denn es ist nicht abzuleugnen, daß es mehr Oesterreicher gibt, die sich auf dem Markusplatz auskennen als auf dem Rathausplatz von Bludenz; die mehr über das soziale Gefüge Nordfrankreichs Bescheid wissen als über die Vorarlberger Textilwirtschaft. Vorarlberg ist nicht das mondäne Zürs, es ist auch nicht ausschließlich bei den glanzvollen Bregenzer Festspielen zu finden. Man findet das Herz dieses kleinsten österreichischen Bundeslandes nur, wenn man Zeit hat und nicht die Namen Bludenz, Feldkirch, Rankweil, Götzis, Hohenems und Dornbirn vom Wagenfenster als Stationsschilder vorbeifliegen läßt. Diesem Lande gelang es nach dem Kriege gewiß schneller als anderen, sich wirtschaftlich zu erneuern Aber ist das alles? Gewiß litt es durch den Krieg weniger als das östliche Oesterreich; aber es hat einen unverhältnismäßig hohen Blutzoll — dreieinhalb Prozent der damaligen Bevölkerung — entrichtet. lieber 10.000 Zuwanderer aus Südtirol mußten untergebracht werden, fast ein Fünftel der damals nach Oesterreich Gekommenen, dazu an die 6000 Angehörige der Oststaaten. Während Wien einen Bevölkerungsrückgang von

15.6 Prozent zu verzeichnen hatte, wies, gegenüber dem gesamtösterreichischen Plus von

2.6 Prozent, Vorarlberg eine Zunahme von

24.6 Prozent der Bevölkerung auf. In 80 der 96 Gemeinden sind neuerdings überdies gegen 2000 ungarische Flüchtlinge untergebracht (verhältnismäßig müßte Wien dann 160.000 beherbergen). Ein kleiner Garten — ein offener Garten.

MIT SYMBOLISCHER KRAFT ist daher das zweite Europadorf des belgischen Dominikaners P. Pire in Flörbranz, nächst Bregenz, gegründet worden. Ein Landeswohnbaufonds besteht seit 1950. In bloß vier Jahren haben die Kosten für 2000 Wohnungen über 200 Millionen Schilling ausgemacht. Die vom Lande gegründete Gemeinnützige Wohnungsbau- und Siedlungsgesell-

schaft ließ Bauten int Werte von 258 Millionen erstehen. In 65 von 96 Gemeinden entstanden neue Schulen. Spitäler, Neubauernhöfe, Anlagen für Wasserversorgung, Straßen (Silvretta, Hochtannberg) wurden gebaut. Die Regulierung des Rheins ist eines der größten österreichischen Bauvorhaben! Der Rhein bringt jährlich 100.000 Kubikmeter Aufschotterung. Im Zusammenhänge damit steht die Polderversuchsanlage Fußach als Vorarbeit für eine Eindeichung und künstliche Entwässerung des Rheindeltas. Die Lawinenkatastrophe im Walsertal führte zur Errichtung lawinensicherer Häuser mit bergwärtiger Abschirmung durch Ebenhöhen und Spaltkeilen. Da Vorarlberg seit dem Energielieferungsvertrag von 1922 ein bedeutender Faktor der europäischen Kraftversorgung ist — der Strom geht in die Schweiz und bis ins Ruhrgebiet —, kommt den Werkbauten wachsende Bedeutung zu. Die Lünersee-Werke werden augenblicklich ausgebaut. Der Lünersee liegt 1940 Meter hoch, sein Nutzinhalt beziffert sich auf 76 Millionen Kubikmeter, die Kraftlieferung Soll künftig 220 Millionen Kilowatt ausmachen. Vorarlberg ist das höchstindustrialisierte Bundesland Oesterreichs. Obwohl hier nur 2,6 Prozent der Bundesbevölkerung leben, entfielen 195 5 von dem Bruttoproduktionswert der Republik fünf Prozent auf Vorarlberg. Die Kopfquote der Textilerzeugung liegt mit 11.800 S zehnmal höher als der österreichische Durchschnitt, dessen Exportquote von 2600 S von Vorarlberg mit 4750 S geschlagen wird. Wir wären, wenn schon von Musterländles die Rede sein muß, recht froh, gäbe es noch zwei oder drei solcher Ländles. Man fragt sich — abgesehen von der Stammeseigentümlichkeit der Betriebsamkeit, des Fleißes und der Genügsamkeit —, womit solche Erfolge begründet wurden? Wie kommt es, daß Vorarlberg das kinderreichste Bundesland Oesterreichs ist (20,7 Promille; Wien rund 8)? Es ist wohl die allgemeine Geisteshaltung, das Lebensgefühl, ein besonderer Sinn für das Gewicht menschlicher Beziehungen innerhalb der Zelle Familie; diese Einstellung im kleinen wirkt bis ins Allgemeine, in das soziale Zusammenspiel, Derart gewachsene, gefestigte Familien bauen ein anderes Gemeinwesen. Für ein solches rief der Familienverband des Landes eine eigene Schule für Ehehelferinnen ins Leben und bietet Eltern mit Kindern Urlaubsgelegenheit, bei der die Kinder der Obhut geschulter Kindergärtnerinnen anvertraut sind.

HALTEN UND SCHAUEN! Da ist Bludenz, die alte Walgaustadt, deren Ansicht Merian für sein berühmtes Bilderwerk des 17. Jahrhunderts schon in Kupfer stechen ließ, das Doppeltor zum Arlberg und zum Montafon. Bludenz könnte auch eine „süße Stadt“ genannt werden, weil es gleich hinter dem Bahnhof von einer weltbekannten Schokoladefabrik her aromatisch duftet. Feldkirch umweht mehr noch als andere Städte Vorarlbergs der Hauch der Geschichte. Für die Freunde der Kunst ist der Flügelaltar Wolf Hubers in St. Nikolaus Grund genug zum Verweilen. Feldkirch ist aber ebenso eine Ge- . lehrtenstadt — hier entstand das erste Gymnasium des Landes —, und das mag wohl mit zum

Rufe des berühmten Jesuitenkollegs der Stella Matutina beigetragen haben. „Studierstädtlein" nannte es Josef Wichner-, der Volksschriftsteller und Freund Roseggers, im Titel eines Buches. Es gibt aber Orte, wo es noch stiller ist: in Hohenems und Götzis etwa. In jener Gegend liegen die Burgen der Emser und Montforter Grafen. Da lebte der Dienstmann des Grafen

Hugo, der Dichter Rudolf von Ems, Bewunderer Gottfried von Straßburgs. Von Hohenems aus ging Weltruf aus. Im Jahre 175 5 fanden der Lindauer Arzt Dr. Jakob Obereit und, 1778, der

Hohenemser Amtmann Franz Josef von Wöchner in den Archivgewölben des Neuen Schlosses je eine Handschrift des Nibelungenliedes (die später A und C genannten Handschriften). Die Burg Alt-Montfort ist schon lange Ruine, der Wald wächst über die Tage des Minnesängers Hugo von Montfort, grüne, immer wieder erneuerte Reiser. Dornbirn hat als Messestadt längst Rang und Namen. Hier kennt wohl jeder Arbeiter seinen Chef persönlich. Ehe es zur Textilmessemetropole, 1949, berufen wurde, nannte man Dornbirn gerne die Gartenstadt. Dort war man mit Recht stolz auf seinen Landessender, dessen Verstaatlichung Unwillen in dem Lande ausgelöst hat, welches das rundfunkdichteste Oesterreichs ist (87 Prozent der Haushalte mit Empfänger; Wien 70 Prozent). Bregenz, das alte Brigantium, ist seit 1946 Schauplatz der Festspiele. Auch heuer werden wieder zwischen dem 19. Juli und 20. August Scheinwerfer über den Bodensce strahlen und jeweils 6500 Zuschauern das Spiel auf dem See (diesmal baut man ein Klein-Holland auf für „Zar und Zimmermann") aus dem Dunkel der Nacht heben. Gespannt ist man auf das Ergebnis des von der Festspielleitung ausgeschriebenen internationalen Wettbewerbs zur Gewinnung dra matischer Werke.

AM LETZTEN TAGE, ehe man sich auf die zehnstündige Reise nach Wien macht, sollte man am Ufer des Bodensees sitzen, wenn der Föhn die blitzenden Firne näherrückt und der Gischt aufgewühlter Wogen mit hundert Zungen über die Ufermauern leckt. Das unablässige Rauschen der Flut tönt noch in den Ohren, wenn schon längst die Zugschlange durchs Klostertal sich höherringelt und den Augen im Arlbergtunnel das Westportal langsam entschwindet, jener freundliche Stern, dem wir, einkehrend, als wachsende Sonne, sehnsüchtig entgegengeblickt.

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