6761676-1968_19_04.jpg
Digital In Arbeit

ÖVP: Semmering-Prognose

Werbung
Werbung
Werbung

Die Kalendier dier ÖVP-Größen sind ausgebucht: Ministerrat und Bundesparteileitung am 7. Mai; abermals Ministerrat am 14.; Nationalratsplenarsitzungen am 15. und 16.; Tagung der Landesparteisekretäre am 29. und gleichsam als dramatischer Höhepunkt Klubtagung auf dem Semmering am 30. und 31. Mai.

Geht also doch die „Hofübergabe” über die Bühne?

Man wird enttäuscht sein. Denn die Messer bleiben ln der Scheide, weder der Ballhausplatz bekommt einen neuen Herrn noch in der Kärntnerstraße übersiedelt Doktor Withalm vom Walfischstraße-Eckraum ins Mahlerstraße-Zimmer. Personelle Fragen Anden sich auf keiner der Tagesordnungen von hier genannten oder nichtgenannten Sitzungen.

Auch Nationalratspräsident Doktor Maleta — ungeniertester Kritiker des Kanzlers — wird keine überstürzte Entwicklung heraufbeschwören: In der ÖVP ist man bereits gewillt, seine Absenz von wichtigen wirtschaftspolitischen und budgetären Entscheidungen der Wochen vor Ostern zu verzeihen, denn offensichtlich wollte er tatsächlich nicht opponieren, sondern lediglich „memorieren”, als er sich mit Assistenz zur Kur nach Vorarlberg zurückzog.

Was geschieht also auf dem Semmering? Wozu die Reise, wenn nicht einmal der „Hof” übergeben wird? Wo doch — fast möchte man sagen: extra deswegen — die Klausurtagung von den ersten Februartagen auf die vorpffngstliche Woche verschoben wurde! Die Absage des Februartermins erfolgte doch bekanntlich unter der vordergründigen Motivation, daß man auf der Klubtagung (fast) immer Probleme rund um das Budget besprochen habe und Anfang Februar diese Probleme keineswegs im Vordergrund der aktuellen Politik standen. Inzwischen hat man sich in Regierung und Parlamentsfraktion jedoch bereits über die Grundsätze des Staatshaushaltes 1969 geeinigt — die wichtigsten der hierfür notwendigen Gesetze werden am 14. Mai vom Ministerrat verabschiedet und am 15. bzw. 16. Mai dem Parlament vorgelegt und dem Finanz- und But- getausschuß zugewiesen. Für die Einsparungsseite der geplanten Maßnahmen ist es aber noch bei weitem zu früh. Diesen Brocken werden die ÖVP-Politiker im Plenum und auf der Regierungsbank erst im Herbst schlucken müssen. Also auch im Mai keine Budgetfragen auf dem Semmering!

Was schließlich den Koren-Plan, das wirtschaftspolitische Konzept der Bundesregierung, betifft, wäre eine Diskussion auf dem Semmering bereits ein Palaver über eine causa Anita — soweit nicht konkrete Maßnahmen zur Verwirklichung von manchmal nur überschriftenmäßig genannten Initiativen besprochen und beraten werden.

Der Semmering könnte also eine große Enttäuschung werden — und nicht nur für sensationslüsterne Affektkommentatoren, sondern auch für alle jene, die sich von derlei Tagungen handfeste Konkreta erwarten, mit denen man „etwas an- fangen” bann.

Selbstverständnis der Abgeordneten

Er könnte aber auch — das täte der österreichischen Innenpolitik bitter not — einmal etwas ganz anderes bringen: eine immaterielle Zwischenbilanz der Demokratie nach zwei Jahren des Beginnens eines für Österreich völlig neuen Experiments, nämlich des Versuchs der Demokratie nach westlichem Muster mit Alleinregierung und großer Opposition. Es könnten Probleme des Parlamentarismus, der Demokratie schlechthin besprochen werden. Es könnten Fragen der Kandidatenauswahl ernst durchberaten und — vielleicht — einer befriedigenden Lösung zugeführt werden. Es könnten — wenn schon Parlamentarier beisammensitzen — Standesfragen dieser eigenen Species „hominis sapientis” angerissen werden, also ruhig auch Fragen der Politikerbezüge und der Politikerbesteue- rung, Fragen überholter oder vielleicht notwendiger neuer Privilegien, Fragen des Verhältnisses zu den Kommunikationsorganen wie Presse und Rundfunk, Fragen der Würde des Abgeordneten innerhalb und außerhalb des Parlaments.

Es könnte auch ein Weg der Koexistenz mit der Opposition gesucht werden. Denn wenn schon die Opposition meint, Abgeordnete der Regierungspartei seien grundsätzlich unpersönliche Jasager und Minister erst recht Prügelknaben der alleinseligmachenden Meinung der Oppositionsabgeordneten, dann sollte wenigstens die Regierungsfraktion Selbsterkenntnis suchen und den Versuch einer würdigen Selbstdarstellung antreten.

Die ÖVP-Klubtagung auf dem Semmering könnte einiges zur StandortAndung der politischen Parteien in der Gesellschaft beitragen, sie könnte dazu beitragen, daß der Politiker nicht unbedingt in der Skala der geachteten Berufe tief unten rangiert.

Und schließlich — das hängt unmittelbar damit zusammen — könnten die ÖVP-Abgeordneten, Funktionäre und bestimmenden Angestellten des oft verkannten „Apparates” sich Gedanken über die charakterliche, politische und fachliche Schulung der Politiker aller Ebenen im eigenen Bereich machen.

Nicht zuletzt sollte eine illustre Versammlung, wie sie auf dem Semmering Zusammentritt, über diese Fragen hinaus auch an Österreich als Kleinstaat an der Schwelle der zweiten industriellen Revolution denken. Mit unserer sicher nicht zu verachtenden, langsam aber leicht barock anmutenden Industrie können wir nicht mehr lange Staat machen. Österreich braucht neue Industrien (zum Beispiel auf dem petrochemi- schen Sektor), Österreich braucht Ideen und braucht die Kraft und die Fähigkeit, diese Ideen zu verwirklichen. In der Politik wie in der Wirtschaft müssen wir lernen (um ein Wort des Fürsten de Ligne abzuwandeln), weniger zu verwalten und mehr zu regieren, mehr zu initiieren, mehr zu experimentieren. Träume der Vergangenheit müssen Visionen der Zukunft weichen.

Zugegeben: etwas viel für eine zweitägige Konferenz einer sehr heterogenen Gruppe von Politikern aller Qualitätsgrade in einem Kurhotel mit viel Tradition und wenig Visions-Appell. Doch immerhin. Wenn es wenigstens gelingt, einen winzigen Teil dieser Fragen anzupacken, wenn es gelingt, wenigstens einmal in einer solchen Tagung über den engen Trott des tagespolitischen Muß hinaus etwas zu leisten, zu erarbeiten, dann wird die Reise auf den Semmering wert sein, gereist zu werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung