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Offener Brief

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Sir, —

Dieses Schreiben geht nicht an eine gleichgültige Adresse, sondern an den Herausgeber der Londoner Wochenschrift „T h e Listener“, die als unparteiisches Organ der Britischen Broadcasting Company beanspruchen darf, als ein vornehmer publizistischer Träger englischer Geistigkeit eingeschätzt zu werden. Dieser Stellung entspricht eine Verantwortlichkeit, an die hier appelliert wird.

In seiner Nr. 1328 vom 12. August veröffentlichte „The Listener“ unter dem Titel „Konnte der Krieg 1914 bis 1918 abgewendet werden?“ eine von dem Historiker A. J. P. Taylor gezeichnete und auf eine Publikation des italienischen Autors Luigi Albertini quellenmäßig gestützte Darstellung, deren Ausgangsstellung und Richtung durch folgende Sätze gekennzeichnet sind:

„Man lasse mich die Ereignisse nehmen, s o wie wir sie kennen. Der Ausgangspunkt war die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand in Sarajewo. Warum war er überhaupt dort? Als eine Gebärde des Trotzes gegen den serbischen Nationalismus, als eine Demonstration, daß Bosnien, obwohl von Serben und Kroaten bewohnt, daran war, ein Teil des österreichischen Empire zu bleiben. Das erklärt, -warum Princip und seine Freunde sich aufmachten, den Erzherzog zu ermorden. Sie waren bosnische Serben, die nach ihrer nationalen Freiheit verlangten, weit davon entfernt, durch Serbien ermutigt zu werden, noch viel weniger handelnd unter serbischen Weisungen; ihre Aktivität war der serbischen Regierung höchst unwillkommen. Serbien war gerade daran, sich von den Balkankriegen des Vorjahres zu erholen, es hatte seine neuen Länder sich noch nicht einverleibt, und Krieg mit Oesterreich-Ungarn war gerade das allerletzte, das sich die serbische Regierung verlangte. Niemand war jemals imstande, zu zeigen, daß die serbische Regierung irgendeine Verbindung mit dem Komplott hatte. Sie mag irgendeine vage Kenntnis gehabt haben. In der Tat war es leicht zu erraten, daß ein österreichischer Erzherzog erschossen werden würde, -wenn er am 28. Juni, Serbiens Nationalfeiertag, Sarajewo besuchte. Ein einziger Serbe wußte um alles: Oberst Dimitrijevič oder Apis, wie er hieß, das Haupt einer geheimen nationalen Gesellschaft. Aber obwohl er die Pläne billigte, leitete er sie nicht ein und gab ihnen keine ernstliche Unterstützung. Das Komplott war das Werk von sechs jungen, hochgesinnten nationalen Idealisten high-minded national idealists'') … Der österreichischen Regierung war nicht viel daran gelegen, das Verbrechen von Sarajewo zu bestrafen. Es lag ihr daran, ein anderes Verbrechen zu bestrafen: das Verbrechen, das Serbien beging ,durch sein Dasein als freier nationaler Staat'." … Die vorstehende Zitierung geschieht ohne Auslassung und Zutat in wörtlicher Ueber- setzung. So und nicht anders schrieb A. J. P. Taylor, ein englischer Historiker von Rang, ohne Vorbehalt dem italienischen Autor folgend, über Geschehnisse, die eine Weltkatastrophe einleiteten. Deren fortwirkende Folgen überwinden zu helfen, ist heute noch Aufgabe gewissenhafter politischer Publizistik.

Die geschichtliche Skizze, die A. J. P. Taylor entwirft, beruht auf einem einfachen Verfahren: Das „österreichische Empire“ erstrebte die Vernichtung des friedfertigen serbischen Staates; eine Reaktion, der Fürstenmord von Sarajewo, war das Werk von einigen hochgesinnten jungen Leuten. Niemand sonst in ganz Serbien war in ihren Plan eingeweiht,und der serbischen Regierung einen ernsten Zusammenhang nachzuweisen, vermochte noch kein Mensch. Nur ein einziger (der bekannte Fachmann für Mordkomplotte gegen Könige und Prinzen), der Generalstabsoberst Dimitrijevič, wußte darum, aber auch er tat nichts von Bedeutung dazu. Somit bleiben als wirklich Beteiligte nur die sechs jungen, hochgesinnten nationalen Idealisten, die in Belgrad nicht etwa von Freunden aus der Spielzeugbranche mit Knallerbsen, sondern von Angehörigen eines politischen Gewerbes mit sechs Bomben und vier Revolvern ausgestattet und auf der Belgrader Militärschießstätte im Top- šider-Park im Gebrauche dieser Geschenke geschult wurden. Sollten zum Preise der Hochgesinnung und des Idealismus der sechs jungen Herren nicht auch noch Sänger und Harfenisten bestellt werden? Man möchte es nach dem zitierten Text fast erwarten. Doch es war besser, daß der Verfasser sich mit einer gedruckten Darstellung begnügte und erklärte, er habe sich an die Gegebenheiten gehalten, „as we know them", „w ie wir sie ken- n e n“. Diese Kenntnis ist jedoch bedauerlich lückenhaft und bedarf erheblicher Korrektur. Sein bisheriges Konzept harmoniert zwar mit Versionen einzelner Zeitgenossen, die gegen Oesterreich mit einer alten Malaise behaftet sind, aber es widerspricht der erschlossenen Dokumentation und den gerichtsordnungsmäßig erkundeten Tatsachen.

Deshalb sei, um nur einiges zu nennen, zur Kenntnisnahme empfohlen:

1. Die aus dem Dossier der bosnischen Landesregierung zum Sarajewoer Attentat stammende Aufzeichnung des serbischen Ministeriums des Innern von Anfang Juni 1914, enthaltend die genaue Beschreibung, wie die Attentäter mit den in Belgrad erhaltenen Waffen aus Serbien nach Sarajewo unter maßgebender Mitwirkung namentlich, nach Dienstgrad und Standort angeführter serbischer Grenzbeamten über die Grenzen nach Sarajewo gebracht wurden, mehr als 14 Tage vor dem Attentat, ohne irgendein ernstes Bemühen der wohlunterrichteten serbischen Regierung, den Verbrechern in den Arm zu fallen.

2. Das diesen Akt ergänzende, 1924 in der Belgrader Druckschrift „Krvo Slo- venska“ („Slawisches Blut“) erschienene und 1925 wiederholte Bekenntnis des Unterrichtsministers Ljuba Jovanovic, schon Ende Mai oder Anfang Juni 1914 durch Ministerpräsident Pašič gleichzeitig mit seinem Ministerkollegen von den Vorbereitungen zu diesem Anschlag erfahren zu haben.

4. Die schriftliche Aussage des Obersten Dimitrijevič als Angeklagter vor dem Militärgericht in Saloniki vom 28. März 1917, in der er sich mit Stolz als Urheber des Sarajewoer Anschlages bezeichnet und erklärt, den serbischen Spion Rade Ma- lobabic mit der Organisation des Attentates beauftragt zu haben, und sich rühmt: „Alle Hauptteilnehmer an dem Attentat waren meine Agenten.“ Das Plädoyer des Belgrader Rechtsanwaltes Dr. Prvoslav Vasil jevic, gehalten am 12. Juli 1953 vor dem Gerichtssenat zur Uebcrprüfung des Saloniki-Prozesses, im Wortlaut veröffentlicht am 13. Juli in der Belgrader Tageszeitung „Politika“, gipfelnd in der Erklärung, daß die bisher verbreitete Anschauung, das Verbrechen von Sarajewo habe auf österreichischungarischem Boden seinen Ursprung gehabt, heute auf Grund der in dem Prozeßverfahren erhobenen unwiderleglichen Tatsachen revidiert werden muß; eindeutig sei Dimitrijevic, der Führer des terroristischen Bundes „Vereinigung oder Tod“, Hauptorganisator des Verbrechens von Sarajewo gewesen. Die meisten seiner Mithelfer seien Serben.

5. Das Judikat des Belgrader Revisionsgerichtes (Juli 1953), das eindeutig, alle erhobenen Tatbestände und Sachbeweise zusammenfassend, in der Feststellung mündet, die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers sei auf serbischem Boden methodisch vorbereitet worden, ein Werk des Dimitrijevic und seiner aus Serbien stammenden Helfershelfer aus der Mitte des Belgrader Verschwörerbundes „Vereinigung oder Tod“; deren Tätigkeit sei sowohl direkt wie indirekt der Regierung Mila no v i č und Pašič bekannt gewesen und von ihnen zu außenpolitischen Zwecken gegen Oesterreich gebraucht worden.

Von den vielen Irrtümern und Wissensmängdln des englischen Historikers seien hier nur die gewichtigsten berichtigt. Alle Hauptpositionen, von denen er ausging, sind mit diesen Feststellungen gefallen. Wird er angesichts dieser Sachlage seine romantische Vorstellung von dem Privatunternehmen der sechs hoch gesinnten jungen Herren nun einer Korrektur unterziehen, weil nun doch der pflichtbewußte Historiker den Romantiker besiegt und weil die notwendige Korrektur auch dem gesunden Geschmack und dem Rechtsbewußtsein des englischen Volkes entspricht? Man darf dies wohl erwarten.

Es ist Zeit, die letzten Vernebelungen eines der verhängnisvollsten Kapitel europäischer Geschichte zu verjagen. Der beste Dienst für die Erhellung der letzten dunklen Passagen würde geschehen, würdenalleFreunde der geschichtlichen Wahrheit sich bemühen, die schon längst von Serbien zugesagte Eröff- n u n g seiner Archive für die Zeit von 1903 bis 1914 zu erreichen. Die Aufhebung der Sperre wäre der entscheidende Beitrag zur Säuberung der politischen Tribünen von verletzenden Geschichtsklitterungen und Fehlern, die Bitternis und Verheerung genug angerichtet haben.

Yours sincerely.

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