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Onkel Toms „flämische Hütte“

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Die liberale PW brannte darauf, den Wahlsieg, den sie den flämischwallonischen Gegensätzen verdankt, gründlicher auszunutzen. Gelegentlich des 7. nationalen Kongresses, der im Jänner in Lüttich abgehalten wurde, kam so etwas wie ein Sprachabkommen zustande, das aber für die Flamen in jeder Hinsicht unannehmlich erscheint. Belgische Zeitungen sprachen in diesem Zusammenhang von einem Tiefstand des flämischen Liberalismus.

Dr. P. C. Paardekooper, der bekannte niederländische Flamingist, qualifiziert in seiner Broschüre „Onkel Toms flämische Hütte“ (eine

Reihe von Rundfunkreden, die in Holland gesendet wurden) die PW wie folgt: „Keine Partei steht Flandern und seinem sozialen Fortschritt so feindlich gegenüber als die liberale PW. Wenn es nach dieser Partei ginge, würde Brüssel innerhalb von zehn Jahren im Norden an die Niederlande und im Westen an die Nordsee grenzen.“ Der neue Regierungschef Vanden Boeynants nennt sich selbst „einen echten Brüsseler“, was einen echten Flamen nicht besonders sympathisch berühren dürfte.

Die Bruchlinien im neuen Mißbund werden sich voraussichtlich allzubald zeigen. Es gibt in dieser Koalition doch wohl zu wenig Gemeinsames, zu viel, was trennt, um die Flut von Regierungsgeschäften bewältigen zu können. Die Sprachproblematik wird man kaum anzurühren wagen. Die Regierung setzt sich aus vierzehn katholischen und neun liberalen Ministern zusammen (zwölf davon sind niederländisch-, elf französischsprachig, eine Unterscheidung, die man nie außer acht lassen darf). Scheint die PW schon zahlenmäßig zu reichlich bedacht, ihre vorteilhafte Position in der Regierung tritt noch deutlicher hervor, wenn man erfährt, daß die wichtigsten Portefeuillen (Finanzen, nationale Bildung, Landesverteidigung, Außenhandel und innere Angelegenheiten) sich in liberalen Händen befinden. Wir vermissen un gern einige hervorragende Figuren aus der ab tretenden Mannschaft: Vizepremier Segers und der finanzielle Sachverständige Eyskens lehnten „aus Gesundheitsgründen“ ab. Expremier Harmel übernahm das Auswärtige Amt, da ja der Sozialist Spaak abseitsstehen muß. Das bedeutet eine empfindliche Schlappe auf internationaler Ebene.

So viel steht fest: Das Kabinett wird keinen progressiven, eher schon einen leicht konservativen Kurs steuern, und das Verhältnis zwischen der CVP und den christlichen Gewerkschaften dürfte einer ernsten Belastungsprobe ausgesetzt werden.

Ein zähes Kind

Einige wichtige Eigenschaften kann man Premier Vanden Boeynants wirklich nicht absprechen. Als Selfmademan ist er energisch und nicht leicht zu erschüttern. Und ein großer Optimist ist er obendrein. „Kinder, die unter schweren Um ständen zur Welt kommen, haben oft ein zähes Leben und gedeihen nicht selten vorzüglich“, meinte er zuversichtlich. Die neue Koalition kann zunächst auf 125 von den 212 Stimmen im Senat rechnen. Ob das genügt, die Zeit zu überdauern, auf der sein Dreijahresplan fußt, wird allgemein bezweifelt. Daß der gewesene Geschäftsmann sich zunächst mit einer Sanierung der erschütterten Finanzen befassen wird („ohne den sozialen Fortschritt zu gefährden“), eine Steuererhöhung jedoch ablehnt, läßt sich leicht verstehen. In einer Anzahl von fundamentalen Fragen auf finanziellem, ökonomischem und sozialem Gebiet sind sich beide Parteien schon von vornherein uneinig.

Die katholische CVP hat wieder einmal den höchsten Preis bezahlen müssen, um das gestrandete Schiff noch einmal seefähig zu machen. Den größten Vorteil werden die Extremisten davontragen, vor allem die sich in Vormarsch befindliche Flämische Volksunion.

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