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Osterreich der kleine Staat

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Europa zählt neben 5 Großmächten und 7 Zwergstaaten noch 6 Mittel- und 18 Kleinstaaten; zu den letzteren sind alle Staaten mit einer Einwohnerzahl unter 10 Millionen zu rechnen. Die Anschlußfreunde, die von der Lebensunfähigkeit Österreichs redeten, haben von diesem Staatenbild Europas grundsätzlich nicht Notiz genommen, es gibt aber auch heute noch Menschen genug, die sich über die Stellung Österreichs innerhalb Europa kein zutreffendes Bild machen. Die 18 Kleinstaaten sind nach Größe ihrer Bevölkerung in abnehmender Reihe die folgenden: Belgien, Ungarn, Niederlande, Österreich, Schweden, Griechenland, Portugal, Bulgarien, Schweiz, Finnland, Dänemark, Irland, Norwegen, Litauen, Lettland, Estland, Albanien und Island. Nicht weniger als 14 Staaten — in der übrigen Welt weitere 27! — sind kleiner als Österreich. Wenn Schweden, Schweiz und Dänemark immer zu jenen Staaten gezählt haben, in denen man am besten lebt, dann muß es auch für das größere Österreich einen Weg geben, der zu selbständiger und guter Existenz seiner Bürger führt.

Die Kleinstaaten haben in der Geschichte weniger aus Gründen des Lebensstandards ihrer Bewohner, denn aus politischen Ursachen ihre großen Schwierigkeiten. Diese .waren eher gering, als noch bis tief in das 19. Jahrhundert die Selbständigkeit freier Staaten meist eine Selbstverständlichkeit war und als die Aufteilung der Erde verbunden mit engverflpchtener Weltwirtschaft die Staaten och nicht in unmittelbarste Nachbarschaft gerückt hatte. Erst nach dem ersten Weltkrieg wurden die Kleinstaaten — auch durch den Völkerbund — mehr und mehr in international festgebundene Lagen gezwungen. Dies konnte natürlich unter Umständen auch ein Verteil sein, wenn die überstaatliche Organisation sich zum Hüter der Selbständigkeit auch der Kleinstaaten machte. War dies beim Völkerbund noch nicht ausgesprochen, so verspricht die Organisation der UNO ein tatsächlicher Schutz und Schirm der Kleinstaaten zu werden.

Die Selbständigkeit der Kleinstaaten war freilich immer bedroht und in fast allen großen Kriegen mußten Kleinstaaten die Macht des Stärkeren verspüren: 1701 begann der Krieg auf dem neutralen Boden der Republik Venedig, 1756 wurde Sachsen verkleinert, 1798 verlor die Schweiz ihre Freiheit, 1807 konnte sich Dänemark aus den Kriegshandlungcn nicht heraushalten, im ersten Weltkrieg mußten Belgien und Grie-, chenland daran glauben und 1938 entzündete sich der zweite Weltkrieg auf dem Boden des zum Kleinstaat gewordenen Österreich.

Dieses Hineingerissenwerden in den Strudel der Ereignisse erfolgt bei Kleinstaaten vornehmlich dann, wenn ihre geographische Lage eine Schlüsselstellung bedeutet. Eine solche Stellung hatte zum Beispiel Savoyen-Sardinien inne, zwischen Frankreich und Italien gelegen und gegen Norden an die Schweiz angrenzend. Der achtmalige politische Frontwechsel dieses Landes zwischen Frankreich und Habsburg, dieses immerwährende Parteitauschen mit dem Anstrich der Unverläßlichkeit und des Verrates, findet wohl darin seine Erklärung, daß es nicht immer einfach war, als Kleinstaat den beiderseitigen Begehrlichkeiten gerecht zu werden und die Politik entschloß sich deshalb jeweils für jene Partei, von welcher der geringere Schaden zu erwarten war. Belgien-Holland haben eine ähnliche Schlüsselstellung am Kanal — deshalb waren sie wiederholt das Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen der benachbarten Großmächte. Persien ist ein Schlüsselland in Asien, Albanien für die Adria und Österreich ein solches in Mitteleuropa.

Nicht immer ist es durchführbar, als Kleinstaat einem in der Nachbarschaft tobenden Kriege auszuweichen. Im zweiten Weltkrieg kann es als diplomatische Meisterleistung be zeichnet werden, daß Schweden, Schweiz und Türkei neutral geblieben sind. Leicht war es nicht, einmal nach der einen, das andere Mal nach der anderen Seite nachzugeben oder stark zu sein, gar oft mußten falsche Auslegungen bewußt in Kauf genommen werden, wenn es galt, unmittelbare Gefahren abzuwenden oder Zeit zu gewinnen, die oft alles bedeutete. Wie schwer eine solche Politik ist, erscheint durch das böse Schicksal so vieler anderer europäischer Kleinstaaten eindeutig bewiesen.

Der Nachteil der in der Kleinheit liegenden Schwäche eines Staates kann durch die Anlehnung an stärkere Nachbarn, also durch Bündnisse, ausgeglichen werden. Doch schloß dies ein Mitgehen in einem allfälligen Krieg bisher fast sicher in sich. Portugal ist es als Dauerverbündeten Englands 1939/45 zwar geglückt, der Beistellung militärischer Kräfte sich zu entziehen — was 1914/18 nicht gelang —, es mußte aber in anderer Art dem mächtigen Partner Dienste leisten. Oft schließen sich auch mehrere Kleinstaaten zu einem größeren Gebilde zusammen, wie es in der Kleinen Entente, im Balkanbund, in der nordischen Union der Fall war und wie es heute die arabische Liga anstrebt. Es ist zweifellos ein brauchbarer Weg zur Festigung der eigenen Stellung im Rahmen der Staatengesellschaft. Andererseits stehen Blockbildungen im Zeitalter der UNO nicht sehr in Gunst und sie fügen sich auch nicht reibungslos in . größere internationale Gebilde ein, mag auch die Charta der Vereinten Nationen sogenannte regionale Zusammenschlüsse zulassen.

Jeder Kleinstaat hat seine spezifische Krisenlage und diese ist eine unterstrichene, wenn der Kleinstaat in das beiderseitige 1 Spannungsfeld benachbarter stärkerer Machtgebilde gerät: in der Vergangenheit Finnland zwischen Schweden und Rußland, Belgien-Holland-Luxemburg zwischen Frankreich and Deutschland, Ungarn als Keil zwischen Nord- und Südslawentum, das alte Polen zwischen West und Ost und derzeit der ganze Kleinstaatenstreifen von Norwegen bis Griechenland quer durch Europa zwischen Weltmächten. Ob Verkehr oder Wirtschaft,

ob ethnische oder strategische Gesichtspunkte, irgendwelche Wellen spielen immer über die Grenzen der Kleinstaaten und exponieren sie dem Druck der Nachbarn. Im Grunde sind es die geographischen Gegebenheiten, die den Kern des Schicksals der Kleinstaaten bilden, und diesen unverrückbaren harten Tatsachen muß die gesamte Außenpolitik angepaßt werden

Die Außenpolitik jedes Kleinstaates hat ihre festen Voraussetzungen und bevor diese nicht sichergestellt sind, kann von einer eigentlichen Außenpolitik nicht gesprochen werden. Vor allem muß auch der Kleinstaat souverän sein, er muß Entschlußfreiheit in internationalen Fragen haben, und zwar in jenem Ausmaße, wie es je nach Zeitumständen möglich ist, es dürfen also nicht außergewöhnliche Beschränkungen vorliegen. Diese erste Voraussetzung besteht bei Österreich derzeit nicht. Sei es nun okkupiert oder halbsouverän, liege nun ein Protektorat vor, handle es sich um ein Mandats- oder Treuhänderverhältnis — das möge einmal eine völkerrechtliche Dissertation entscheiden; hier wäre nur die einfache Tatsache festzuhalten, daß Österreich eben nicht souverän ist. Es ist auch im Inneren in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung an fremdes Weisungsrecht gebunden. Die Währungsfreiheit fehlt, denn, solange ein Staat nicht weiß, ob er überhaupt einen Goldschatz besitzt, solange er weder seine Aktiven noch seine Passiven auch nur annähernd beziffern kann, solange er seine zukünftigen Belastungen nicht abzuwägen vermag, ebensolange fehlt eine weitere Voraussetzung voller Regierungstätigkeit innen und außen. Unter den Aktiven und Passiven scheinen auch die materiellen Güter auf, von denen — ob nun Bodenschätze oder Produktionsgüter, ob das private und staatliche Wirtschaftsinventar — Österreich nicht sagen kann, was ihm gehört, weil es ihm bestritten wird. Die Glieder der Kette: Arbeitskraft-Werkzeug - Produkt - Geld - Handel -Verk:hr sind ungleich und brüchig und eine solche Kette läßt auch geringste Anspannungen kaum zu. Hunderttausende Arbeitskräfte sind noch nicht heimgekehrt. Zu allem kommt noch die Frage der elementaren Sicherheit, welche erst den Staat — selbst den kleinsten unter kleinen — zu einem Faktor der Politik macht, mit dem auch Große und Starke rechnen müssen. Österreich hat eine unbewaffnete Polizei und keinen einzigen Soldaten, es ist nur ein Kartenhaus, doppelt bedenklich, da in unseren Zeiten die politischen Stürme gerade die stärksten sind. Schließlich entbehrt auch das innenpolitische Leben der vollen Entfaltung, denn man darf nicht übersehen, daß auch dieses international bewirtschaftet ist.

Österreich verfügt somit über fast keine Voraussetzungen, die für eine freie Außenpolitik unentbehrlich sind, und aus diesem Ergebnis unserer Betrachtung leitet sich die ungeheuer schwierige Aufgabe ab, vor der Österreich auf außenpolitischem Gebiete steht. Nichts ist in Österreich konkret, greifbar, endgültig, abgegrenzt — alles fließt, alles läuft dem Staatsmann unter den Fingern davon und in der ganzen langen Geschichte sucht man recht vergeblich nach einer historischen Parallele zur österreichischen Lage vom Jahre 1946. ■ Die österreichische Regierung hat angesichts ihrer Beschränkung Bewundernswertes geleistet und sie trägt mutig eine Verantwortung, die ihr mangels der Handlungsfreiheit nur in geringem Ausmaße aufgelastet werden darf. Sie hat die Aufgabe, einen Kleinstaat, der ein neuralgischer Punkt erster Klasse im Kräftespiel Europas ist, durch ■ hunderte Klippen durchzusteuern und diese Aufgabe erfordert jene Staatskunst, die sich erst am scheinbar Aussichtslosen erprobt. Die Siege eines Staatsmannes werden nicht nach den Quadratkilometern seines Landes gemessen — in diesem Falle wäre ein Ignaz S e i p e 1 nie zu wirklich staatsmännischer Größe emporgewachsen, als er vor bald fünfundzwanzig Jahren Österreich zu neuem Leben erweckte. Es ist wie beim Feldherrn: Radetzky bleibt als Führer seines nur 50.000 Mann starken Heeres für alle Zeiten berühmt, während so manche Feldherren von Millicnenarmeen ohne Siege und Ruhm von der Weltbühne abtreten.

Zur Lösung des österreichischen Problems gibt es natürlich keine Rezepte und es bleibt der außenpolitischen Kunst überlassen, hier individuellen Befähigungen jenen freien Spielraum zu gewähren, wie es die kaleidoskopartigen Veränderungen der großen Politik Zug um Zug verlangen. Doch große und klare Leitlinien, die zu verfolgen sind, erscheinen gegeben. Die solide Basis fruchtbarer Außenpolitik wird der Burgfrieden sein müssen, der unschwer zu erzielen ist, wenn es dabei bleibt, daß es in Österreich keine politischen Parteien mehr gibt, die — wie früher einmal — ihren programmatischen Schwerpunkt außerhalb der Landesgrenzen haben und die bestehende Verfassung bloß als Durchhaus betrachten, und wenn das österreichische Volk bei aller parteimäßiger Differenzierung doch eine einheitliche und selbstbewußte Masse bildet.

Eine der großen Leitlinien ist das Streben, die fehlenden Voraussetzungen für eine Außenpolitik in zähem Häuserkampf schrittweise zu erobern, sich nach und nach aller Fesseln zu entledigen, die jede Außenpolitik behindern, und dabei darauf bedacht zu bleiben, österreichische Substanz auch um den Preis langwährender Verpflichtungen als unbestrittenen Besitz, zu erhalten. Mag diese eine Leitlinie zwar sehr schwer, aber doch weniger problematisch erscheinen, ist die andere sicher der schwierigere Teil: das ebenfalls schrittweise Hineinführen Österreichs ia die Organisation der Vereinten Nationen.

Der Gewinn des Krieges stellt sich für die siegreichen Großmächte anders dar als für die Kleinstaaten, mögen es mitsiegreiche, befreite oder nach wie vor um ihre Neutralität bangende Staaten sein. Die ganze Front der Kleinstaaten bucht den einen überragenden Erfolg: die Möglichkeit, im Schöße der UNO einen bisher noch nie realisierbar gewesenen Sicherheitsgrad zu erreichen. Der Weg in die UNO ist streng abgegrenzt: verläßliche Ordnung im Inneren des Staates und strengste Korrektheit nach außen. Wenn zwei benachbarte Familien befreundet sind, ist dies keineswegs schon ein Komplott gegen andere Familien und wenn man als Staat gute Beziehungen zu dem einen pflegt, ist dies ebensowenig ein feindlicher Block gegen andere. Trotzdem wird es zu erstreben sein, sich keiner Orientierung, keiner Sphäre, keinem Block, keinem Bund und keiner Gruppe mit Haut und Haar zu verschreiben, unter selbstverständlicher Wahrung dankbarer Verbundenheit mit dem Befreier.Möchten wir zwischen West und Ost, Nord und Süd so frei und s unabhängig bleiben wie es nur überhaupt denkbar ist. Die UNO bieten ein Forum, vor dem jede Gefährdung der eigenen Existenz sofort der Welt angezeigt werden kann und wo nach menschlichem Voraussehen hinter billigen und einwandfreien Forderungen und Klagen die große Mehrheit der sich zu internationaler Moral, zu gemeinsamer Satzung, zu Frieden, Recht und Gerechtigkeit bekennenden Staaten geschlossen antreten wird. Der Weg dorthin ist weit, er ist aber der einzige, der Österreich eine vorteilhafte Zukunft bietet. Der Weg ist ein Programm von unbezwingbarer Logik, das zu erfüllen für Österreich eine Verpflichtung ist. Die altösterreichische Diplomatie eines Kaunitz und Metternich war auch eine „Schule der Welt“ und gerade Österreich als der Hüter solchen Erbes muß den Ehrgeiz aufbringen, der Lösung der ihm jetzt gestellten Aufgabe gerecht zu werden.

Aus Österreich Ist ein kleinerStaatge worden. Aber es gibt auch noch deren kleinere in Europa, die weniger Bevölkerungszahl oder Flächenausmaß aufzuweisen vermögen und dennoch eine beachtliche politische Rolle spielen, weil ihnen die Erfüllung einer geschichtlichen Aufgabe zukommt. Die Schweiz, Belgien, Holland, die nordischen Staaten zum Beispiel. Unser neuer Staat wäre nicht Österreich und nicht wert zu bestehen, wenn nicht in neuem, modernem Gewand die alte Sendung sich durchzusetzen vermöchte. Nur daß nicht Macht und Waffen, vielmehr daß Geist und kulturelle Arbeit Mittlerdienste leisten In einem von vielen Sprachen erklingenden Raum, der politisch in selbständige Staaten gegliedert ist, der aber geistig und auch wirtschaftlich nach wie vor des Gemeinsamen bedarf, um auf die Dauer bestehen zu können. Diesen Dienst an Europa kann heute nur leisten, wer nicht in Verdacht gerfit, imperialistische Nebenziele zu verfolgen.

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