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Ostpolitik - Wieviel davon ist Illusion?

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Der Fraktionsvorsitzende der CDU, Bainer Bärzel, wird nach mehreren Aussprachen mit der Bundesregierung über die im Zusammenhang mit dem deutsch-sowjetischen Vertrag stehenden Probleme klären, ob seine Fraktion dem Vertragswerk im Bundestag zustimmen kann. Die Entscheidung hängt in erster Linie von der Lösung des Berlin-Problems ab, weil sich hier zeigen wird, ob die Sowjetunion das Prinzip des Status quo auch für die andere Seite anerkennt, das heißt, die gewachsenen Bindungen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin zur Kenntnis nimmt. Das würde bedeuten, daß die außenpolitische Vertretung Berlins über die Delegierung durch die Westmächte der deutschen Bundesregierung zufällt, und somit Berlin in die ibternationalen Verträge der Bundesrepublik einbezogen wird.

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Der Fraktionsvorsitzende der CDU, Bainer Bärzel, wird nach mehreren Aussprachen mit der Bundesregierung über die im Zusammenhang mit dem deutsch-sowjetischen Vertrag stehenden Probleme klären, ob seine Fraktion dem Vertragswerk im Bundestag zustimmen kann. Die Entscheidung hängt in erster Linie von der Lösung des Berlin-Problems ab, weil sich hier zeigen wird, ob die Sowjetunion das Prinzip des Status quo auch für die andere Seite anerkennt, das heißt, die gewachsenen Bindungen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin zur Kenntnis nimmt. Das würde bedeuten, daß die außenpolitische Vertretung Berlins über die Delegierung durch die Westmächte der deutschen Bundesregierung zufällt, und somit Berlin in die ibternationalen Verträge der Bundesrepublik einbezogen wird.

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Die Opposition in Westdeutschland befindet sich augenblicklich in keiner sehr günstigen Lage, weil ein publizistisch angeheizter Euphemismus ein ruhiges Urteil über die Positiva und Negativa des am 12. August von Willy Brandt und Alexei Kossygin im Katharinensaal des Kreml unterzeichneten deutsch-sowjetischen Vertrages kaum zuläßt. Brandt und sein Außenminister Scheel werden als Staatsmänner gepriesen, und der Vertrag als Meisterwerk der Diplomatie hingestellt. In primitiver Vereinfachung werden die Kritiker des Vertrages als Feinde eines Ausgleiches mit dem Osten, als Nationalisten und Revanchisten gestempelt, während die Befürworter als die großen Freunde der Entspannung gefeiert werden. Es wäre schön, wenn alles so einfach wäre.

Zunächst sei festgestellt, daß der Vertrag den Status quo in Europa, wie ihn das Potsdamer Abkommen schuf, als unverletzlich anerkennt. Die Bundesrepublik verzichtet damit gewissermaßen auch rechtlich und moralisch, gegen das Unrecht, das die gegenwärtige Lage für mehrere Völker im Osten, vor allem für die Deutschen selbst, darstellt, auch mit friedlichen Mitteln anzukämpfen. Damit ist ein sowjetisches Traumziel erreicht. Dafür bietet die UdSSR der Bundesrepublik einen Gewaltverzicht, das heißt, die vertragliche Zusicherung, daß sie alle strittigen Probleme mit Westdeutschland auf friedliche Weise gemäß Artikel 2 der UNO-Charta lösen werde, wobei die Frage umstritten bleibt, ob damit die berüchtigten Artikel 53 und 107 der UNO-Charta, die den Siegermächten das Recht geben, in die von ihnen besiegten Staaten bei bestimmten Anlässen einzumarschieren, hinfällig geworden sind. Im Vertrag findet sich kein Hinweis, weder, daß die Sowjets darauf verzichten, noch, daß sie darauf weiterhin bestehen. Anderseits muß der Vertrag gegenüber dem sowjetischen Aide-Memoire vom 5. Juli 1968 an die BRD als Fortschritt gewertet werden, weil hier ausdrücklich auf die Artikel Nr. 53 und 107 hingewiesen und betont wurde, daß die BRD nicht den Anspruch auf die gleiche Stellung erheben könne wie die anderen europäischen Staaten. Diese Ansicht wurde von selten der Sowjets durch den Vertrag revidiert.

Nun besteht kein Zweifel, daß der Wunsch nach einer internationalem Entspannung in der westdeutschen Bevölkerung nicht minder groß ist als bei den anderen europäischen Völkern. In dieser ausschließlich von Gefühlen bestimmten Haltung liegt die Ursache des Dilemmas, in dem sich die deutsche Opposition befindet. Seit längerer Zeit bemühen sich die Amerikaner und Sowjets um Abmachungen, die das gegenseitige Rüstungspotential beschranken, was vor allem die SALT-Verhandlungen in Helsinki und Wien beweisen.

Diese Verhandlungen wurden tatsächlich erst möglich, nachdem die Regierung Brandt den Atomsperrvertrag gegen die Bedenken der Opposition unterschrieben hatte. Nun könnte man sagen, die Deutschen trennen ihre Außenpolitik von der Innenpolitik, das heißt, Regierung und Opposition betreiben die gleiche Außenpolitik mit verteilten Rollen. Die Opposition schraubt die Forderungen hinauf, um der Regierung bei ihren internationalen Verhandlungen den Rücken zu stärken. Das ist aber in Westdeutschland nicht der Fall. Die Regierung Brandt hat eine zu schwache Basis im Bundestag und muß deshalb mit allen Mitteln einen spektakulären Erfolg erzielen. Dies ist ihr mit dem Moskauer Vertrag bis zu einem gewissen Ausmaß gelungen. Er kommt der Sehnsucht nach Entspannung in der Welt und vor allem in Deutschland selbst entgegen, bietet der deutschen Wirtschaft neue Chancen im Osthandel, gibt nichts auf, was, wie Brandt es ausdrückte, nacht ohnehin „verspielt“ ist, und nährt bei vielen Illusionen. Die NATO-Verbüradeten begrüßten zunächst den Vertrag, insbesondere die drei Großmächte, weil er sie der Verpflichtung enthebt, die sie im Generalvertrag mit der BRD auf sich genommen haben, nämlich Westdeutschland in seinem Streben nach Wiedervereinigung in Freiheit zu unterstützen. Im Artikel 3 des Moskauer Vertrages wird nun das herausgestellt, worüber man nicht mehr verhandeln darf: das sind die Grenzen Europas im allgemeinen und die der DDR im besonderen. Zwar anerkennt die Bundesregierung im Vertrag nicht ausdrücklich die DDR, doch anerkennt sie deren Gleichberechtigung, Unabhängigkeit und Selbständigkeit, was tatsächlich einer Anerkennung gleichkommt, um so mehr, als in den Vorverhandlungen die westdeutsche Bereitschaft betont wird, die Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO zu unterstützen. Auf Grund dieser Haltung kann selbst der nationalste Deutsche den Westalliierten keinen Vorwurf machen, daß sie nicht deutscher sein wollen als die deutsche Bundesregierung selbst.

Auf der anderen Seite haben die Westalliiertan natürlich auch ihre Bedenken. Die bisherigen deutschrussischen Verträge führten immer große Wandlungen in der europäischen Geschichte herbei. Der Vertrag Friedrichs II. mit Zar Peter III. ermöglichte die Großmacht werdung Preußens und besiegelte das Schicksal Schlesiens, das endgültig an Preußen fdel. Der Friede von Tauroggen zwischen dem preußischen General Yorck von Wartenburg und dem russischen General Diebitsch leitete den Untergang Napoleons L ein und der deutschrussische Vertrag vom August 1939 zwischen Ribbentrop und Molotow gab Hitler die Bahn frei zum Uberfall auf Polen und war die Ursache für all das Unglück, das über Deutschland und Europa hereinbrach. Was wird nun der neue Vertrag für Europa bringen?

Zunächst muß die wirtschaftliche Entwicklung in Betracht gezogen werden. Die Bundesrepublik liegt im Handel mit der UdSSR, der DDR, Polen, der CSSR, Ungarn, Rumänien und Bulgarien an erster Stelle von allen westlichen Industriestaaten zusätzlich Japans. Von Japan wird sie übrigens nur im Warenaustausch mit China von der ersten Stelle verdrängt. Nach dem europäischen Osten ist der Handel der Bundesrepublik fast so groß wie der Italiens, Frankreichs und Großbritanniens zusammen und siebenmal so groß wie jener der USA. Dennoch macht der Handel mit der UdSSR nur zwischen 6 und 7 Prozent des gesamten deutschen Außenhandels aus. Hier bietet sich heute noch ein großes ungenütztes Feld für die deutsche Wirtschaft an. Der erste Schritt des noch engeren Wirtschaftsaustausches zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik wird der Lizenzvertrag zwischen Daimler-Benz und der Sowjetunion sein, der es dieser ermöglicht, in einem Riesenwerk an der Kama, etwa 1000 Kilometer von Moskau entfernt, 150.000 Lastkraftwagen im Jahr herzustellen. Die Bedeutung dieses Werkes für die Lösung des russischen Transportproblems kann man am besten daraus ermessen, daß die Sowjetunion im Jahre 1970 nicht mehr als 550.000 LKW ausstoßen wird, wobei es sich noch dazu um kleinere Typen handelt, während die im Lizenzverfahren erzeugten Typen zu einem Drittel 22-Tonnen-Schwerlaster sein werden. Der Gewinn, den Mercedes dabei einstreift, soll sich auf 40 Millionen DM jährlich beziffern. Dafür sichert die deutsche Bundesregierung 80 Prozent der Kreditsumme, die für die Verwirklichung des Projektes notwendig sind, durch staatliche Bürgschaften ab. Die Lieferungen der Produktionsanlage an der Kama werden durch ein europäisches Konsortium durchgeführt, in dem deutsche, italienische, französische und holländische Firmen beteiligt sein sollen. An dieser europäischen Lösung war Mercedes besonders interessiert, damit sie nicht in ihrem Amerikageschäft beeinträchtigt wird. Die US-Firma Ford, an die die Sowjets zuerst das Projekt herantrugen, lehnte nämlich aus strategischen Rücksichten ab. So werden deutsche Firmen den Sowjets den Bau von 150.000 Lastkraftwagen ermöglichen, mit denen nicht nur das russische Transportwesen verbessert, sondern auch das militärische Potential der Sowjets entscheidend aufgewertet wird. Doch an einen Krieg denkt niemand, wenn es um große Geschäfte geht.

Der deutsch-sowjetische Vertrag ver-anlaßte nun die Vertreter des amerikanischen Neo-Isolationismus, die Senatoren Fulbright und Mansfield, ihre alten Forderungen eines Abzugs amerikanischer Truppen aus Europa von neuem zu erheben. Der Regierung Nixon stärkt diese Entwicklung den Rücken bei den Verhandlungen mit der BRD über die Stationie-rungskosten, die nun die USA von derzeit 3,6 Milliarden auf 5 Milliarden DM hinaufschrauben wollen. Die Ansicht vieler deutscher Publizisten, daß die Bundesregierung den Amerikanern die kalte Schulter zeigen könnte, da diesen gar nichts übrig bleibt, als in Deutschland ihre Truppen zu belassen, weil sonst das Übergewicht der Sowjets in Europa zu groß würde, gehört zu den vielen Illusionen, die sich deutsche Publizisten im allgemeinen in der Politik machen.

Welche Befürchtungen auf westalliierter Seite und welche Hoffnungen bei vielen Deutschen verknüpfen sich nun mit dem deutsch-sowjetischen Vertrag? Die USA haben zweifellos Sorge, daß nun zwischen Frankreich und Deutschland ein Wettlauf um die Gunst in Moskau einsetzt, der dem westlichen Bündnis insgesamt schadet. Frankreich wiederum fürchtet, daß die BRD für die Sowjets der interessantere Partner ist, wobei jedoch gesagt werden muß, daß de Gaulle durch seine Bremspolitik in der Frage der europäischen Einigung und in seinem Streben, französische Großmachtpolitik zu betreiben, einen Teil der Schuld an dieser Entwicklung trägt. Die Mitglieder der EWG insgesamt haben die Befürchtung, daß die BRD trotz gegenteiliger Beteuerungen weniger Eifer für das europäische Einigungsbestreben an den Tag legen werde als bisher.

Die deutschen Hoffnungen aber sind:

1. Mit dem Moskau-Vertrag wurde die Bundesrepublik international aufgewertet.

2. Der Vertrag bietet zum ersten Mal die Möglichkeit, das innerdeutsche Problem aus seiner Verkrampfung zu lösen und die Deutschen in beiden Staaten wieder ins Gespräch zu bringen.

3. Die immer engere Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR und die ständige Verbesserung der Beziehungen mit den anderen Oststaaten könnten im Lauf der Zeit die Möglichkeit schaffen, auch politisch mit den Sowjets ins Geschäft zu kommen und Verständnis für das deutsche Problem zu erwecken. Immerhin hatten die Sowjets in einem gemeinsamen deutschrussischen Kommunique anläßlich des Adenauer-Besuches im September 1955 das Recht der Deutschen auf Wiedervereinigung anerkannt.

4. Der Friedenswille der Sowjetunion wird als gegeben angenommen, wobei sich Brandt auch auf einen Ausspruch Adenauers auf dem CDU-Parteitag vom März 1966 berufen kann, im dem der einstige Kanzler die Sowjetunion zum „Kreis der Völker, die den Frieden wollen“ zählte. Eng damit verbunden ist der Glaube der deutschen Links-intellektuellen und der jüngeren Generation in der SPD, daß sich auf der einen Seite die Regierungsform der UdSSR liberaüsieren, auf der anderen Seite die Entwicklung in Deutschland politisch progressiver gestalten werde, so daß sich die Verschiedenheit der Systeme in Ost und West ständig verringert. In gewisser Beziehung gehört hierher auch der Ausspruch Herbert Wehners anläßlich seines Jugoslawien-Besuches, daß die Vorurteile, die bei den Sozialdemokraten gegenüber dem Kommunisten und bei den Kommunisten gegenüber den Sozialdemokraten bestünden, überwunden werden müßten.

Wieviel von all dem Illusion, wieviel Realität ist, wird die Zukunft lehren. Die Bedenken und Sorgen der Opposition sind jedoch berechtigt und keineswegs der Ausdruck einer Gegnerschaft gegenüber politischen Entspanniungsversuchen oder gar revanchistischer Gefühle.

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