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Ostwind -Westwind

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In Skandinavien lebende Mitarbeiter deutschsprachiger Zeitungen und Zeitschriften beklagen sich mitunter über das geringe Interesse für skandinavische Fragen, auf das sie bei „ihren“ Zeitungen immer wieder stoßen. Von Hamburg nach Stockholm braucht das moderne Passagierflugzeug nur noch zwei Stunden, aber es scheint so, als läge jenseits des schmalen Wassergrabens der Ostsee eine andere Welt. Die Länder, die erst tausend und mehr Jahre nach Wien, Köln und Aachen in den Bannkreis der griechisch-römischen Zivilisation einbezogen wurden, sind dem Mitteleuropäer auf seltsame Art fremd geblieben.

An diesem Umstand ändern auch zahllose naiv-romantische Reiseberichte den Norden besuchender Touristen und flott geschriebene Reportagen ausgesandter Sonderberichterstatter nur wenig. Die besuchenden Journalisten haben den besten Willen, nur bringen sie eben allzuoft politische Vorstellungen mit, mit denen man im Norden nichts anfangen kann. So kann beispielsweise die Partei der schwedischen Konservativen nicht ohne weiteres etwa der Österreichischen Volkspartei gleichgesetzt werden; den schwedischen Sozialdemokraten sind bestimmte Anschauungen und Methoden der deutschen SPD ganz fremd und Ausgesandte der ostzonalen Sozialistischen Einheitspartei erlebten bei der Begegnung mit schwedischen Kommunisten bittere Enttäuschungen, ja, die Auffassung über kommunistische Politik waren so verschieden, daß es

zu einer eigentlichen Diskussion nicht einmal kam.

Die Klischees stimmen nicht

Bei einem Vorhandensein vorgefaßter falscher Meinungen fehlt dem Besucher der nordischen Länder oder dem aus räumlicher Distanz Beobachtenden der Schlüssel zum Verständnis nordischer Lebensart, nordischen Denkens und nordischer Politik, und das

gilt im besonderen Maße für die Beziehungen der skandinavischen Länder zu den Ländern des Ostblocks. Daß schwedische Sportler die Flagge der Sowjetzone grüßen, der schwedische Außenminister lange und freundschaftliche Gespräche in der Sowjetunion führt, dänische Studenten und Großkaufleute lange Reisen durch Rußland unternehmen und drei Regierungen im Norden Chruschtschow zu einem Besuche ihrer Länder eingeladen haben — oder einladen wollen — wirkt auf einen Beobachter in Berlin oder Wien vielleicht beunruhigend, und daß dies alles noch lange nicht bedeutet, daß der Norden dabei ist, kommunistisch zu werden oder den Marsch in den Ostblock anzutreten, fällt ihm einigermaßen schwer zu glauben.

Stockholm und Moskau: hin und zurück

Es kann nicht übersehen werden, daß sich die Sowjetunion und andere Länder des Ostblocks seit einer Reihe von Monaten sehr stark um eine Intensivierung der Beziehungen zu den skandinavischen Ländern bemühen. Anderseits sind besonders Dänemark und Schweden an einer Verstärkung ihres Osthandels sehr interessiert. Für einzelne Industriezweige, beispielsweise die Schiffbauindustrie, sind gute Ostverbindungen direkt eine Lebensnotwendigkeit. Hier nur einige Hinweise auf die Vielfalt der gegenseitigen persönlichen Begegnungen. * Eine Abordnung des dänischen Großhändlerverbandes besuchte vom

12. bis 22. Mai die Sowjetunion und schloß ein bemerkenswertes Abkommen über gegenseitige Handelsinformationen ab.

• Am 13. Mai traten mit „M/S Ka-linin“ 29 Vertreter des schwedischen Außenhandels und der Industrie eine dreiwöchige Studienreise durch die Sowjetunion an. Mit demselben Schiff reisten die Mitglieder eines Studentenorchesters von Göteborg nach Leningrad. Am selben Tag begann eine Rußlandreise für 60 Schüler und Lehrer der Volkshochschule in Sigtuna.

• Ebenfalls im Mai besuchten Delegationen des schwedischen Arbeiterbildungsverbandes, der schwedischen Beamtenverbände, des Kommunal-arbeiterverbandes und der Wohnbaugenossenschaft HSB Sowjetrußland. Nach den Rußlandreisen des dänischen Außenministers Haekkerup und des schwedischen Außenministers Nilsson wurde in diesen Wochen die Rußlandreise des dänischen Staatsministers Krag vorbreitet.

• Schwedische und dänische Techniker, die mit der Konstruktion von kompletten Industrieanlagen beschäftigt sind, wählten ebenfalls den Weg nach Osten. Der Chef des schwedischen Atomenergiebüros studierte Forschungs- und Ausbildungsmöglichkeiten in der Sowjetunion und wurde vsm stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates, Kosygin, in Moskau empfangen.

• Auf der anderen Seite besuchte der sowjetische Minister für die Papier-und Zelluloseindustrie schwedische Industrieanlagen und Konstruktionsbüros und diskutierte industrielle Großinvestitionen in Sibirien. Vom 10. bis 20. Juni besuchte der Finanzminister der Sowjetunion, V. Garbu-zow, Schweden, als Gast der schwedischen Regierung, und besichtigte zahlreiche wichtige Institutionen.

• Im Mai kam es ferner zu einem Gastspiel des Kirovtheaters von Leningrad in Stockholm, zu zahlreichen Einzelbesuchern russischer und polnischer Künstler und Wissenschaftler. Im Juni bereiste eine russische Fußballmannschaft, „Torpedo“, Tagan-rog, zum erstenmal Schweden Zur gleichen Zeit wird auf ausdrücklichen Wunsch Chruschtschows der Besuch einer sowjetischen landwirtschaftlichen Studienkommission in Schweden vorbereitet.

Diese Angaben beziehen sich zum großen Teil auf die schwedisch-russischen Beziehungen. Das darf jedoch nicht zur Auffassung führen, daß Dänemark und auch Norwegen, oder gar Finnland, außerhalb dieses Reisebetriebes liegen. Er umfaßt alle Länder, und unter den Besuchern Skandinaviens befinden sich auch viele Polen, Tschechen und andere Vertreter der Oststaaten.

Warten auf Chruschtschow...

Zur Einladung an Chruschtschow, die skandinavischen Länder zu besuchen, wäre vor allem zu sagen, daß dieser Besuch schon 1959 geplant war, damals aber wegen antisowjetischer Demonstrationen in den nordischen Ländern abgesagt wurde. Als eine Sondierung der Situation ergab, daß die bürgerlichen Parteien gegen den Besuch nicht protestieren würden, erneuerte Schwedens Außenminister Nilsson bei seinem Besuch in Moskau diese Einladung! Obwohl der dänische Staatsminister Krag seinen Moskaubesuch zum zweitenmal aufschob, nahm Chruschtschow die Einladung an und ließ das am 18. Juni den skandinavischen Regierungen mitteilen.

Der Fall Wennerström

36 Stunden später wurde in Stockholm ein Oberst der Luftwaffe, Erik Wennerström, wegen des Verdachtes der Spionage für die Sowjetunion verhaftet und die schwedischsowjetischen Beziehungen gerieten mit einem Schlag in ein völlig anderes Licht.

Es ist hier nicht der Platz, eine lückenlose Übersicht über diese bisher größte Spionageaffäre Schwedens zu geben; eine solche Übersicht besitzt noch nicht einmal die schwedische Sicherheitspolizei, und die Verhöre bringen fast jeden Tag neue Überraschungen. Nur soviel kann gesagt werden, daß der gesamte Plan der schwedischen Verteidigung, die Lage der unterirdischen Verteidigungsanlagen der Marine, der Luftwaffe und der Küstenartillerie, die Organisation und Funktion des Luftabwehrsystems „STRIL 60“, die Funktion des elektronischen Kontroll- und Alarmsystems, die Neukonstruktionen innerhalb

der Panzerwaffe und der Luftwaffe und darüber hinaus sicher noch der Mobilisierungsplan an die Sowjetunion verraten worden sind. Für die nun verratenen permanenten Verteidigungsanlagen — die nicht umgesiedelt werden können — dürfte Schweden den Betrag von 22 bis 25 Milliarden Kronen aufgewendet haben. Mit einem Betrag von gut 450 Kronen pro Einwohner gehören die Militärausgaben Schwedens zu den höchsten der Welt. Diese außerordentlichen Anstrengungen waren der Preis für die Politik der Bündnisfreiheit zwischen Ost und

West, die den Standpunkt der Neutralität in einem Kriegsfall ermöglichen sollte.

Es kann nicht ausbleiben, daß man in Schweden — und mehr noch außerhalb des Landes — die Frage stellt, ob eine solche Haltung noch weiterhin möglich ist. Beweist nicht gerade diese sowjetische Spionage, daß die Sowjetunion auch die Widerstandskraft der Neutralen zu unterminieren versucht? Daß die Neutralität und das angestrebte gutnachbarliche Verhältnis überhaupt keine Garantie gegen einen Angriff darstellen?

Aus Unkenntnis der Lage

Es gab sogar Zeitungen in neutralen Ländern („Luzerner Neueste Nachrichten“ vom 27. Juni 1963), die den Schweden in hämischen Worten vorrechneten, daß sie nun die Quittung für ihr Entgegenkommen in Handelsfragen erhalten haben und für ihren Verrat an den Westen in der Frage des Stahlrohrembargos: „ .. .nicht zu reden vom wertvollen Beitrag der schwedischen Außenpolitik, um Finnland im Sinn des Kremls von einer Bindung an den Westen fernzuhalten.“ In solchen Kommentaren zu einer unverschuldeten nationalen Katastrophe offenbart sich nur primitivste Biertischstrategie mit einer entwaffnenden Unkenntnis der Situation.

Berechtigt ist allerdings die Frage, ob es zu einer Überprüfung des Verhältnisses Schwedens zur Sowjetunion kommen wird, und zu ihr kann gesagt werden, daß sich sicher einiges ändern

wird, mit größter Wahrscheinlichkeit aber wird dies nicht die Hauptlinie der schwedischen Außenpolitik sein.

Nach dem Schock

Wenn man zugibt, daß dieser Oberst Wennerström die vitalen Teile der schwedischen Verteidigung an die Russen ausgeliefert hat, dann kann man daraus auch den Schluß ziehen, daß Schweden heute alles andere braucht als eine Verschlimmerung der außenpolitischen Beziehungen zu dem Osten! Der Hauptabschnitt der Spionage liegt immerhin schon über zwei Jahre zurück. In sechs bis sieben Jahren wird die Verteidigung bereits ein völlig anderes Gesicht haben. Kommt es zu keinem militärischen Konflikt, dann ist — von diesem Zeitpunkt an gesehen — auch diese Meisterspionage ohne böse Folgen geblieben. Mit all ihrer Schwere aber müßte sie ein Schweden treffen,

das jetzt eine Frontänderung vornimmt und — vielleicht gerade erst dadurch! — in einen militärischen Konflikt gerät. Erst dann würde dieser Fall des „schwedischen Oberst Redl“ alle seine bösen Früchte tragen!

Schweden verwendet heute in seinen Jagdflugzeugen hochwirksame amerikanische Raketen, die Bodenabwehr arbeitet mit dem besten englischen Roboter, in den Kampfflugzeugen befinden sich englische und amerikanische Motoren, in den Panzerwagen französische Roboter. Es wäre weltfremd, zu glauben, daß dies alles den Russen unbekannt geblieben ist oder sie niemals interessieren sollte. Man ist in schwedischen militärischen Kreisen auch darauf gefaßt gewesen, daß wichtige Teile der Landesverteidigung verraten werden könnten. Der richtige Fall Oberst Redl hatte nur deshalb so tragische Folgen, weil ihm der Ausbruch des Weltkrieges auf dem Fuß folgte. Kein emstzunehmender Politiker oder Militär in Schweden wünscht eine Parallele bis zum letzten sinnlos gefallenen Soldaten!

Schwedens Außenpolitik — und auch die der anderen skandinavischen Länder — wünscht möglichst gute nachbarschaftliche Verhältnisse zur Sowjetunion, einen möglichst spannungsfreien Zustand in diesem Teil der Welt und gute und umfassende Handelsbeziehungen. Der Wunsch nach Entspannung besteht immer noch, trotz dieses bösen Falles: Es wäre verhängnisvoll, wenn man sich die Außenpolitik von einer Spionagezentrale vorschreiben lassen würde!

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