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Ostzonenerlebnisse rund um den § 218

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18. Dezember 1947.

Heute hat der Landtag die Unterbrechung der Schwangerschaft aus sozialer und ethischer Indikation zum Gesetz gemacht. Das bedeutet, daß nicht mehr wie bisher allein die Rettung des mütterlichen Lebens, sondern der Geldbeutel der betreffenden Familie, beziehungsweise die Behauptung einer Vergewaltigung der Anlaß zu dieser tief eingreifenden Operation werden kann.

Sind das die Mittel, die die Achtung vor dem Leben, die auf Schlachtfeldern, in KZs und Heilanstalten gestorben war, wieder lebendig machen sollen?

20. Dezember 1947.

Die Ärzteschaft oder das, was hier noch von ihr übriggeblieben ist, horcht auf. Man spürt, daß das neue Gesetz an das Mark unserer Standesethik geht. Wie kann ich Arzt sein, wenn die Heiligkeit des Lebens nicht unantastbar bleibt? Wie viele, viele Male von der Kollegbank bis heute haben wir nicht um diese Probleme gerungen und sie bis zum Letzten durchdacht? Und sind wir — je mehr und je verantwortungsvoller wir darum kämpften — nicht zu einem immer entschiedeneren Nein gekommen? Es gibt kein Leben, das unserer Willkür preisgegeben wäre, weder krankes noch „lebensunwertes” noch auch das schutzlos keimende. Und es gibt kein Recht, auf das wir uns bei der Tötung berufen könnten. Nehmt dem Arzt die Ehrfurcht vor dem Leben und es gibt überhaupt kein ärztliches Sittengesetz mehr!

28. Dezember 1947.

Die Kirchen beider Konfessionen haben eindeutig - zu dem Kampf um den § 218 Stellung genommen. Meine Oberschwester zeigte mir heute Aufrufe der Kirchen von Mecklenburg und Brandenburg, in denen in großzügiger Weise die Bereitschaft erklärt wird, die Sorge für jedes Kind zu übernehmen, dessen Leben im Mutterleib „aus sozialer Indikation” bedroht ist. Damit ist an sich schon das Gesetz hinfällig, in dem es in § 2, Absatz 2, heißt: „Eine Unterbrechung der Schwangerschaft bleibt straffrei… weil die sozialen Verhältnisse der Schwangeren oder ihrer Familie beim Austragen des Kindes eine ernste Gefährdung für die Gesundheit von Mutter und Kind bedeuten und die Notlage durch soziale oder andere Maßnahmen nicht ausreichend beseitigt werden kann.” Mit ihrer Erklärung haben die Kirchen Maßnahmen angeboten, durch die die Not lage, die den Vorwand zur Abtreibung geben soll, behoben werden kann.

7. Jänner 1947.

In S. sind in der vorigen Woche zwei deutsche Ärzte verhaftet worden. Einer wurde sofort erschossen, der zweite soll nach Sibirien deportiert worden sein. Sie hatten beide Abtreibungen bei russischen Frauen vorgenommen. Vernünftige und strenge Vorschriften ihrer Heimat verbieten russischen Frauen, sich des keimenden Lebens zu entledigen.

Ein halbes Jahr später.

26. Juli 1948.

Gestern nacht wurde der Assistenzarzt der Frauenklinik K. von Russen und deutscher Polizei abgeholt. Niemand weiß, ob er noch lebt und wo er ist. Man munkelt, daß die Ursache zu seiner Verhaftung Äußerungen seien, die er einer Patientin gegenüber gemacht haben soll, der er ein Abtreibungsansinnen a b 1 e h n t e. Verhandlung, gerichtliche Vernehmung beider Parteien gibt es natürlich nicht. Die Anzeige genügt.

Ende Juli 1948.

Ich komme vom Gynäkologenkongreß der Zone zurück. Wie vorauszusehen war, stand im Mittelpunkt aller Diskussionen die Frage um die Abänderung des § 218. Die neue Fassung und damit Freigabe des Gesetzes wird mit selten erlebter Einmütigkeit abgelehnt. Man erkennt, daß die Folgen, die diese Durchbrechung des Prinzips der Achtung vor dem Leben für die Medizin, und zwar nicht nur die deutsche, sondern die Medizin der ganzen Welt, haben muß, unabsehbar sind. Die Gynäkologenschaft lehnt es einmütig ab, dem Staat Handlangerdienste für seine Tötungspolitik an den ungeborenen Kindern zu leisten. Aber sie ist sich klar darüber, daß sie in diesem Kampf gegen einen übermächtigen Gegner auf absolut verlorenem Posten steht, denn es wird ihr von keiner Seite diesseits oder jenseits der Zonengrenze Hilfe kommen. Dem Arzt der Ostzone bleibt bei weiterer Entwicklung der Dinge also nur die Wahl zwischen offener Ablehnung staatlicher Anordnungen, und das bedeutet fast immer Deportation, oder bewußter Verletzung der ethischen Fundamente des Arzttums.

Der Kongreß faßte eine Resolution, die den zuständigen politischen und militärischen Stellen vorgelegt werden soll und aus der die Stellungnahme der Gynäkologenschaft deutlich ersichtlich ist. Einige praktische Forderungen werden darin erhoben, die einen gewissen Schutz der beteiligten Ärzte bezwecken sollen. Man verlangt, daß die die Unterbrechung beschließende Kommission nicht wie bisher aus einem Arzt und zwei medizinischen Laien (die bisher als gute SED-Mitglieder getreu ihrer Parteianweisung den Arzt zu überstimmen pflegten), sondern aus zwei Ärzten und zwei Laien bestehen soll, wobei den Ausschlag die Stimme des Vorsitzenden geben muß. Sodann wird gefordert, daß die Verantwortung für die Bescheide nicht mehr prinzipiell der Vorsitzende, also der vom Gesundheitsamt bestimmte Arzt, allein tragen soll. Manch ernstes, manch bitteres, manch beschwörendes Wort wurde gesprochen. Wir wissen wohl alle, worum es hiebei wieder geht. Aber wer in der Welt hört uns? Wer weiß etwas von dem neuen Kampf, zu dem wir verurteilt sind? Wer jenseits der Zonengrenzen kümmert sich darum?

12. August 1948.

Man sucht in der Ostzone überall dringen Fachärzte für die überall eröffneten „Ambulatorien”. Der Verwaltungsdirektor einer solchen großen Anstalt — er war früher Vorarbeiter auf einem Ölfeld — tritt mit einem verlockenden Angebot an mich heran. Interessant ist mir, zu hören, daß der in einer solchen Poliklinik angestellte Arzt einer höheren, das heißt, besseren Ernährungskategorie .zugeteilt ist als der frei praktizierende Kollege. Ich erkundige mich nach den näheren Verhältnissen der Poliklinik. Sie hat ein sehr großes Hinterland und muß infolgedessen wahrscheinlich einen großen Anfall von geburtshilflichen Fällen haben. „Geburtshilfe?” kommt die gedehnte Antwort, „die tritt zur Zeit ganz hinter der Zahl der Schwangerschaftsunterbrechungen zurück, die uns täglich zugewiesen werden.” Blitzartig wird mir die lückenlose Organisation klar, mit der man arbeitet. Die kleinen, von privater Initiative und privatem Verantwortungsgeist getragenen Kliniken werden systematisch durch ärztliche Massenfabriken ersetzt, die im Auftrag des Staates arbeiten und die erhaltenen Weisungen ausführen. Dort arbeitende Ärzte sind Angestellte des Staates. Auflehnung in irgendeiner Form gegen den Arbeitgeber ist Sabotage und wird entsprechend bestraft.

19. August 1948.

Beim Vorbeigehen am Wartezimmer wurde ich heute Zeuge eines Gesprächs, das die dort wartenden Patientinnen führten. Eine berichtete, die anderen lauschten andächtig. Die Wortführerin vertrat den Hausfrauentyp, den wir in Frau Scholz- Klinks Frauenschaft seligen Angedenkens schon einmal genauestens kennengelernt haben. Äußeres: bieder und solide, meist mit Brille. Innenleben: sehr fortschrittlich, von einer wahren Gier nach Reformen beseelt. Geistig: äußerst wißbegierig, aber sehr beschränkt. Spricht prinzipiell über alles, auch wenn sie keine Ahnung davon hat. Das hier vertretene Exemplar jenes Typs verkündete gerade mit selbstgefälliger Wichtigkeit, sie sei nun also das vom demokratischen Frauenbund eingesetzte Mitglied der Kommission, die über die Schwangerschaftsunterbrechungen zu beurteilen habe. Natürlich habe sie dadurch viel zu tun. Aber schließlich tue man es ja doch gern, denn man könne doch so mancher Frau helfen, wie zum Beispiel… folgt die eingehende Erläuterung eines Falles mit Namensangabe und interessantesten Einzelheiten. Warum auch nicht? Die empfindlichen Strafen, die wir Ärzte bei Verletzung der Schweigepflicht zu gewärtigen haben, gibt es natürlich für die übrigen Mitglieder der Kommissionen nicht…

12. September 1948.

Ich bin erschüttert über ein Gespräch mit Prof. L., dem Nestor der Frauenheilkunde und langjährigen Leiter der hiesigen städtischen Frauenklinik. Gebückt, um Jahre gealtert, saß er an seinem Schreibtisch. Nach wenigen Worten waren wir gleich bei dem uns alle bewegenden Thema. Mit unendlich müden und gequälten Augen sah mich Z. an und sagte zu mir, dem um so viele Jahre Jüngeren: „Ja, Kollege, ich bin ein Lump und weiß, daß ich die Berufsehre verwirkt habe mit der ersten Abtreibung, die auf staatlichem Befehl an meinem Krankenhaus durchgeführt wurde. Als die ersten Fälle kamen, habe ich mich dagegen gewehrt. Bis zum Minister bin ich gegangen. Der hat die Achseln gezuckt und auf meine Bedenken gesagt: .Dann sind Sie als Leiter eines städtischen Krankenhauses für uns nicht tragbar.’ Tja, Kollege, ich habe für elf Leute zu sorgen und da bin ich denn ein charakterloser Lump geworden!”

17. September 1948.

Eine Mutter von drei Kindern war heute bei mir. Der Mann, Jurist, ist stellungs- und erwerbslos, wurde völlig enteignet. Die sechsköpfige Familie lebt in einem Zimmer. Jetzt will ein viertes Kind kommen. Die Mutter war bei mir, um die zur Einleitung der Schwangerschaftsunterbrechung nötigen.

Papiere zu bekommen. Ich habe sehr ernst mit ihr gesprochen, habe ihre ganze Not begreifen gelernt und hatte den Eindruck, daß sie unendlicHerleichtert war, als ich, statt ihr da gewünschte Papier auszustellen, sie auf den Weg der Hilfe durch die Kirche verwies. Viele Mütter lehnen diese Möglichkeit rundweg ab, diese Frau ergriff sie dankbar. Ich habe mich sofort mit den betreffenden kirchlichen Stellen in Verbindung gesetzt. Der zuständige Pfarrer war eine ausgesprochene und von der Not der Zeit ergriffene Persönlichkeit. Unter dem Eindruck meines Gesprächs mit Prof. L. ließ ich mich zu der Frage verleiten, ob es für die unter schwerem Gewissensdruck stehenden Ärzte, die ihre Pflicht als Arzt und Mensch erfüllen, aber von Sorge für ihre Familien erfüllt sind, irgendeinen Rückhalt gäbe. Ehrwürden meinte, jeder müsse ganz allein für die Folgen seines Tuns aufkommen, und eine mutige Tat habe dann ihren ethischen Wert verloren, wenn sie in der Aussicht auf Hilfe und Unterstützung geschehe. „Ach, Herr Pfarrer”, antwortete ich ihm, „Ihre Antwort ist keine ganze Antwort auf meine Frage. Gewissenhafte Ärzte gehen vor die Hunde oder zerbrechen, weil sie ohne Beistand sind …”

20. September 1948.

Auf meinem Schreibtisch liegt eine sehr höflich, aber recht kategorisch gehaltene Anfrage der allmächtigen Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands nach meiner Einstellung zur Frage der Schwangerschaftsunterbrechung. Dieser Brief, der an alle Gynäkologen kam, spricht Bände. Die Schlinge, die uns um den Hals gelegt wurde, wird immer enger gezogen. Wie lange wird man in unserer Zone noch mit sauberen Händen Arzt bleiben können? Wie lange werden wir noch auf verlorenem Posten aussichtslose Kämpfe führen müssen? Wie lange noch?…

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