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Papst Pius XII. und die Medizin

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Unter dem Titel „Pius XII. über ärztliche Fragen“ hat die Katholische Aerztegilde gemeinsam mit der Aerztegemeinschaft der Katholischen Aktion zu Weihnachten 1953 ein Heft herausgegeben, in dem die Ansprachen in deutscher Uebersetzung zusammengefaßt sind, die der Heilige Vater seit 1944 über Gegenwartsfragen der Medizin gehalten hat; größtenteils vor ärztlichen Kongreßteilnehmern, die in einer Papstaudienz empfangen worden sind.

Die bisher erörterten Themen sind von größter Bedeutung — nicht nur für die Pastoralmedizin, sondern für die ärztliche Ethik (Deontologie) schlechthin; sie sind auch für die Sozialhygiene durchaus richtungweisend. Bis unmittelbar vor seiner letzten schweren Erkrankung hat der Heilige Vater damit sein außerordentliches Interesse an diesen Fragen zum Ausdruck gebracht, die ihm mehr am Herzen lagen, als irgendeinem seiner Vorgänger — abgesehen von der Enzyklika ,,C a s t i c o n n u b i i“ seines unmittelbaren Vorgängers P i u s XI.

Die erste Ansprache aus dieser Sammlung über „Die Aufgaben des christlichen Arztes“ wurde am 12. November 1944 an die italienischen Mitglieder der internationalen Aerztegilde ,,St. Lukas“ gehalten. Schon diese Ansprache ist ein kurzes Kompendium der D e-o n t o 1 o g i e für den christlichen Arzt. In ihr kommt die hohe Achtung zum Ausdruck, die der Heilige Vater der medizinischen Wissenschaft und Praxis entgegenbringt. Tiefste Gedanken über den Sinn von Schmerz und Tod werden vorgetragen; ebenso über die notwendige Unterordnung der Person des Arztes unter die ewigen Sittengesetze, und seine Verantwortlichkeit vor Gott. Der Heilige Vater verwirft ausdrücklich die weit verbreitete Ansicht, es könne eine christliche Medizin nicht geben, wie es auch keine spezifisch christliche Mathematik oder Chemie gibt. Diese Ansicht eines wissenschaftlichen Positivismus wird für falsch erklärt, weil es der Arzt mit dem Menschen zu tun hat. der „dem Gesetze der ewigen und transzendenten Zweckbestimmung unterworfen ist“. Von Einzelfragen der ärztlichen Ethik werden in dieser Ansprache erörtert die Pflicht des Arztes zur Erhaltung des Lebens, auch besonders im Hinblick auf das Leben des Ungeborenen; die Pflicht, vor naturwidrigem Mißbrauch des Sexuallebens zu warnen, insbesondere im Hinblick auf die Geburtenverhütung; das Problem der Wahrheitspflicht und der Schweigepflicht des Arztes wird tiefgründig erörtert, endlich die Pflicht des Arztes zu beruflicher und wissenschaftlicher Fortbildung.

Die zweite Ansprache „Das Problem der künstlichen Befruchtung“ hat der Heilige Vater am 29. September 1949 vor den Teilnehmern des IV. Internationalen Kongresses katholischer Aerztc gehalten. Der Papst warnt den christlichen Arzt davor, der Faszination der Technik zu erliegen, die keine Rücksicht auf das Sittengesetz kennt. Er verweist auf die Würde des menschlichen Körpers, den Vorrang der Seele vor dem Körper. Deshalb kann die Praxis der künstlichen Befruchtung sich nicht ausschließlich nach rein biologischen Gesichtspunkten richten, wie etwa beim Tier, sondern darf den Standpunkt der Moral und des Rechtes nicht außer Betracht lassen. Vor allem ist die künstliche Befruchtung außerhalb der Ehe als völlig unmoralisch zu verurteilen (das gilt speziell von der Heranziehung sogenannter „Spender“ zur Befruchtung).

Die Ansprache „Ueber Ehe und Mutterschaft“, die am 29. Oktober 1951 an den Kongreß katholischer Hebammen Italiens gehalten wurde, ist seinerzeit viel diskutiert und zum Teil böswillig mißverstanden worden. Man hat damals vielfach behauptet, der Heilige Vater habe gelehrt, daß in Fällen von schwierigen Geburten das Leben des Kindes unter allen Umständen den Vorrang vor dem der Mutter habe, daß daher das Leben der Mutter zu opfern sei. Diese Entstellung hat dazu geführt, daß man in manchen Ländern katholische Aerzte von der geburtshilflichen Tätigkeit für die Krankenkassen auszuschließen versucht hat. In Wirklichkeit hat der Heilige Vater nur das selbstverständliche Lebensrecht auch des Ungeborenen verteidigt; er hat sich gegen die verbreitete Auffassung gewendet, daß das Leben der Mutter unter allen Umständen den Vorrang vor dem des Kindes habe. „Gleich heilig ist beider Leben“, hat schon Pius XI. gelehrt; Aufgabe des Arztes ist, alles daranzusetzen, beider Leben zu erhalten und nicht das eine dem anderen aufzuopfern.

Der zweite Teil dieser Ansprache befaßt sich mit den Problemen der „Zeitenwahl“ nach Knaus und Ogino und warnt ausdrücklich vor dem weit verbreiteten Irrtum, daß die Führung einer Ehe allein unter Beobachtung der „unfruchtbaren Tage“ ohne Einschränkung statthaft sei. Das Berufsapostolat der Hebammen hat der Verteidigung der rechten Weltordnung und der Würde der menschlichen Person zu dienen.

Die Ansprache „Die sittlichen Grenzen ärztlicher Forschungs- und Behandlungsmethoden“ wurde am 14. September 1952 an die Teilmedizinischen Forschung und Behandlung. Auf diese Grundhaltung ist jeder christliche Psychologe und Psychotherapeut verpflichtet. Die Psychotherapie und klinische Psychologie müssen daher den Menschen betrachten: 1. als psychische Einheit und Ganzheit; 2. als eine in sich selbst geschlossene Einheit; 3. als soziale Einheit; 4. als transzendente, das heißt, zu Gott strebende Einheit.

Ad 1. wird erklärt: psychische Dynamismen bzw. Mechanismen können i n der Seele sein, sie sind jedoch nicht d i e Seele, nicht der Mensch. Sie sind Kräfte von beträchtlicher Intensität, ihre Leitung hat jedoch die Natur einer Zentralstelle anvertraut, der Geistseele. Daß diese Dynamismen auf ' eine bestimmte Tätigkeit drängen, bedeutet nicht notwendig, daß sie sie erzwingen. Wenn man an Stelle der Eigengesetzlichkeit des freien Willens die Fremdherrschaft der instinktiven Grundkräfte setzt, so erklärt der Papst: So hat der Schöpfer den Menschen nicht gebildet. Die Erbsünde nimmt ihm nicht die Möglichkeit zu verantwortlicher EntFiir persönliche Freiheit und Eigentum! Daher Siedlungshäuser Eigentumswohnungen durch die Gemeinnützige Bau- und Siedlungsgenossenschaft Wien IV, Karlsgasse 14/8 ff Frieden** Telephon U 410 62 nehmer des internationalen Kongresses für Histo-pathologie des Nervensystems gehalten. Sie legt dar, daß die allgemeinen Grundsätze des Sittengesetzes für den Arzt ebenso verbindlich sind wie für jedermann; daß der Arzt kein Sondervorrecht hat, sich über das Lebensrecht anderer Menschen hinwegzusetzen; daß ihm daher auch als Forscher, speziell hinsichtlich der Experi-mentalforschung gewisse Grenzen gezogen sind, die er unbedingt zu respektieren hat. Wir gehen sicher nicht fehl in der Annahme, daß diese Ansprache auch die maßiose Nichtachtung dieser Grenzen im Auge hatte, über welche der Nürnberger Aerzteprozeß gerade hinsichtlieh der Experimente am Menschen geurteilt hat. Das Interesse der Wissenschaft wie das des Patienten rechtfertigen neue medizinische Forschungs- und Xenandlungsiftethoden; aber weder der Arzt noch der Patient hat ein Verfügungsre.cht über seinen Körper, wenn durch die Versuche Zerstörung, Verstümmelung, ernste Schädigung oder Gefährdung bewirkt werden kann. Der Mensch ist nicht Herr, sondern nur Nutznießer der Organe seines Körpers. Auch die staatliche Autorität hat kein Recht, diese Grenzen zu überschreiten, wie schon Pius XI. in „Casti connubii“ hinsichtlich der Zwangssterilisation erklärt hat.Die letzte in diesem Heft wiedergegebene Ansprache (ein weiteres Heft ist in Vorbereitung) behandelt „Möglichkeiten und Grenzen der Psychotherapeutik“. Sie wurde am 13. April 1953 an die Teilnehmer des Kongresses für Psychotherapeutik und klinische Psychologie gehalten und hat ganz besondere Beachtung gefunden. Manche“ Interpretatoren haben aus dieser Ansprache eine ausdrückliche Verurteilung der Psychoanalyse und der Tiefeii-psychologie herausgelesen.Der Heilige Vater hat einleitend bemerkt, er wolle an die Vertreter der Psychotherapie e i n Wort der Ermutigung sprechen. Wenn die Wissenschaft behauptet, daß durch Erforschung der Tiefenschichten der menschlichen Seele Dynamismen. Determinismen und Mechanismen aufgedeckt würden, die immanenten Gesetzen gehorchen, so sind das Fragen ihres Forschungsgebietes, die nach den Gesetzen der wissenschaftlichen Psychologie zu erforschen sind. Das gleiche gilt für die Nutzbarmachung neuer psychischer Methoden. Die Psychologie möge sich aber bewußt bleiben, daß sie die Wahrheiten, die durch Vernunft und Glauben sichergestellt sind, und die bindenden Gebote der Moral nicht außer acht lassen darf. Ausdrücklich verweist der Heilige Vater auf seine Ausführungen über die sittlichen Grenzen der Scheidung. Der sittliche Kampf, auf dem rechten Weg zu bleiben, beweist nicht die Unmöglichkeit, ihn einzuhalten und gibt keine Berechtigung, von ihm abzuweichen.

Ad 2. Der Mensch ist eine Ganzheit, ein Mikrokosmos, ist vom Zweck aufs Ganze bestimmt. Man hat einen Gegensatz zwischen der traditionellen Psychologie und Ethik und der modernen Psychotherapie betonen wollen. Wer die Struktur des wirklichen Menschen studiert, muß vom „existentiellen“ Menschen, dem „homo ut hic“ ausgehen. Der „existentielle“ Mensch wäre aber mit dem essentiellen Menschen identisch. Der Existentialismus verfällt in den Fehler einer bloßen personalistischen Ethik, der Situationsethik des „hic et nunc“. Die Grundgesetze der sittlichen Ordnung sind aber nicht zu konstruieren, sondern anzuwenden.

Ad 3. Der Sozialpsychismus fehlt in der Wertung durch ein Zuviel wie durch ein Zuwenig: Das Zuwenig besteht in einer psychologisch wie sittlich krankhaften Ichverhaftung (Individualismus); das Zuviel in einer ungesunden Ueberwertung der Gemeinschaft (Kollektivismus). Das erstere führt zur Neigung, den Menschen zum Triebwesen zu degradieren. Das letztere führt zur bedingungslosen Ichunterdrückung. Es wird vom Menschen an Altruismus nicht mehr verlangt als das Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“

Der Heilige Vater erwähnt in diesem Zusammenhang einige Abirrungen auf dem Gebiete des Sexuellen; er meint vor allem die totale sexuelle Aufklärung, die nichts verschweigen will. Sie beruht auf verhängnisvoller Ueber-schätzung des Wissens. Wirksame sexuelle Erziehung hat in ruhiger Sachlichkeit das mitzuteilen, was jeder junge Mensch wissen muß; in der sexuellen Erziehung hat aber der Akzent vorzüglich auf der Selbstbeherrschung und der religiösen Formung zu liegen. Die hierauf bezüglichen Normen Pius' XL sind weder ausdrücklich noch via facti zurückgenommen worden.

Was von der schrankenlosen Aufklärung gesagt wurde, gilt auch von bestimmten Formen der Psychoanalyse. Man sollte sie nicht als den einzigen Weg bezeichnen, sexuellpsychische Störungen zu mildern oder zu heilen. Die These, daß sexuelle Störungen des Unbewußten nur durch Bewußtmachen behoben werden können, gilt nicht in uneingeschränkter Allgemeinheit. Die indirekte Behandlung ist wirksam und oft genügend. Es kann nicht als sittlich zulässig bezeichnet werden, den ganzen

im Unbewußten schlummernden Inhalt sexueller Vorstellungen ins Bewußtsein zu rufen. Wenn man den Einspruch der Menschenwürde nicht überhören will, wer würde wagen, zu behaupten, daß dieses Verfahren keine sittliche Gefährdung in sich schließe, wo die therapeutische Notwendigkeit eines hemmungslosen Aufdeckens bis jetzt nicht erwiesen ist.

Es gibt auch Geheimnisse, die zu offenbaren der Mensch kein Recht hat, und die ihm zu entreißen niemand ein Recht hat. Der Grundsatz, daß man aus entsprechend schwerwiegendem Grunde einem gewissenhaften und verläßlichen Menschen ein Geheimnis offenbaren darf, gilt für bestimmte Arten von Geheimnissen. Man darf ihn aber nicht hemmungslos in der psychoanalytischen Praxis zur Anwendung bringen. Mit Rücksicht auf die Sittlichkeit und auf das Allgemeinwohl kann der Grundsatz der Diskretion in der Psychoanalyse nicht stark genug unterstrichen werden.

Ad 4. Die letzte, transzendente Schau wirft Fragen auf nach dem letzten Sinn und Ziel des menschlichen Lebens. Die Frage nach dem Ursprung der Religion wird aufgeworfen. Dieser Abschnitt ist von manchen Autoren so aufgefaßt worden, als wenn der Heilige Vater darin die religionspsychologischen Annahmen von C. G. Jung gutgeheißen hätte. Eine solche Deutung ist sicher fehl am Platze. Gerade die Ansichten von C. G. Jung über den Ursprung der Religion sind viel bedenklicher als der unverhüllte Materialismus von Freud. Dieser hat die Religion mit brutaler Offenheit für eine „Illusion“ und „neurotische Flucht“ erklärt. Jung aber sieht in der Libido die tiefste Wurzel der Religion, die Religion selbst nur als „Wandlungsform der Libido“ Man darf sich über die gefährliche Tragweite der Lehre von Jung nicht dadurch täuschen lassen, daß er den Menschen auch als Geistwesen anerkennt. Das allein genügt nicht: das tut der Existentialismus in gewissem Sinne schließlich auch; und damit ist die J u n g s cTi e Vater, daß die Psychotherapie hier vor einem Phänomen steht, das nicht zu ihrer ausschließlichen Zuständigkeit gehört. Ein wirkliches Schuldiggewordensein kann durch keine nur psychologische Behandlung geheilt werden. Der Weg, die Schuld zu tilgen, liegt außerhalb des rein Psychologischen; er liegt in der Reue und der sakramentalen Lossprechung. Die Psychotherapie darf der materiellen Sünde nicht mehr gleichgültig gegenüberstehen. Sie mag dulden, was für den Augenblick unvermeidlich ist. Aber sie muß wissen, daß Gott die Sünde nicht billigen kann. Noch weniger darf sie dem Kranken den Rat erteilen, das materiell Verkehrte ruhig weiter zu tun, da der Kranke ohne subjektive Schuld sei.

Abschließend begleitet der Heilige Vater die Bemühungen und Forschungen um die Psychotherapie mit warmer Teilnahme und den besten Wünschen. ,,Sie arbeiten auf einem sehr schwierigen Feld. Aber Ihr Schaffen kann für die Heilkunde, für die Kenntnis des Seelischen überhaupt und für die religiöse Anlage und Vervollkommnung des Menschen wertvolle Ergebnisse zeitigen.“

In seiner jüngsten Ansprache hat Papst Pius XII. am 8. Jänner 1956 vor etwa 700 Aerzten und Geburtshelfern das Thema „Schmerzlose Geburt“ behandelt. Er ging aus von der Lehre russischer Forscher, daß der Geburtsschmerz nicht in der Natur begründet sei. Ein Naturvorgang wäre demnach bei normalem Ablauf nicht schmerzhaft. Die russische Methode basiert auf P a w 1 o w s Lehre von den „bedingten Reflexen“ — die allerdings der Lieberprüfung bedarf. Der Geburtsschmerz sei darnach wie ein bedingter Reflex „andressiert“ und könne ebenso auch „abdressiert“ werden, und zwar durch eine Art ,,Konditionierung“, durch die „psychoprophylaktische Methode“, die vom Beginn der Schwangerschaft mit starker Suggestion in Verbindung mit Lockerungsgymnastik wirkt.

Papst Pius führte zur moralischen Würdigung der Methode aus, daß sie der christlichen Moral nicht darum widersprechen müsse, weil sie von materialistischen Forschern auf Grund materialistischer Prinzipien ausgearbeitet sei. Vielmehr bestünden keine Bedenken dagegen, das, was an ihr richtig ist und sich in der Praxis bewährt, anzuwenden, wenn es nur im richtigen Geiste geschieht.

Eine Anerkennung der materialistischen Reflexpsychologie („Reflexologie“) wird man aus diesen Worten nicht herauslesen dürfen.

In diesen Ansprachen (discorsi e radio-messaggi) hat Papst Pius XII. die wichtigsten Gegenwartsprobleme der Pastoralmedi-z i n, der ärztlichen Deontologie und der Sozialhygiene von höchster Warte erläutert: im vollsten Sinne sub specie aeternitatis.

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