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Paradoxa um de Gaulle

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Es scheint, als ob alles, was mit ihm in Zusammenhang steht, auf Paradoxa aufgebaut wäre. De Gaulles Zauber ist jenem eines Sternes zu vergleichen, dessen Licht aus der erhabenen Ferne kommend erhellt und leuchtet, aber nicht erwärmt. Im Vergleich zu seinem Volke ist er kalt und zurückgezogen und bei weitem nicht eine Figur, wie man sich einen volkstümlichen Politiker vorstellen möchte. De Gaulle ist aber auch nicht Politiker im hergebrachten Sinne und hat dazu weder Talent noch Bereitschaft. Er macht kein Hehl daraus, daß er diesen Durchschnitt von Politikern, die ihre Parteiintercssen hinter Phrasen von nationalem Klang verstecken wollen und bei denen das Parteiinteresse manchmal das persönliche Interesse birgt, nur Verachtung übrig hat. Er ist mit ihnen unzufrieden. Und weil er erklärt, kein Politiker zu sein, hat er das Vertrauen in sich gestärkt.

Nein, er ist wahrlich kein Politiker, wie man sie zu sehen gewohnt ist. Bis in die allerletzten Jahre überwiegt das militärische Element in seiner Karriere und in seiner Persönlichkeit auch heute noch. Der jüngste Sohn eines Professors, widmet er sich der militärischen Laufbahn. Und diese Laufbahn — erstes Paradoxon — ist aufs engste mit jener Petains verstrickt. Er ist kaum 24 Jahre alt, als der erste Weltkrieg ausbricht, und er als Leutnant des 33. Infanterieregiments unter dem Kommando des Obersten Petain in den Krieg zieht. Er wird mehrmals verwundet, nimmt an der Verteidigung Verduns teil, und gerät im März 1916 schwer verwundet in deutsche Kriegsgefangenschaft. In einem Tagesbefehl an seine Armee würdigt General Petain seine Verdienste als „unvergleichlicher Offizier in allen Beziehungen“.

Fünf Fluchtversuche des Gefangenen schlagen fehl. Dann bricht Deutschland zusammen, und de Gaulle kehrt nach Frankreich zurück. Kaum angekommen, sucht er schon wieder den Kampf. Er reist nach Polen, wo General Weygand den Widerstand gegen die Roten Truppen organisiert und wird seinem Generalstab zugeteilt. Nach dem polnischen Feldzug kommt er nach Saint-Cyr als Professor der Kriegsgeschichte, dann auf die Kriegsschule, die er als Generalstabsoffizier verläßt. Hier beginnt seine Tätigkeit als Autor, und hier finden wir auch die Anfänge seiner Theorie, die er in den Manövern von 1925 beweist: die Doktrin von der Überlegenheit der Bewegung über jene der statischen Verteidigung. Denken wir an den Bau der Maginot-Linie, um uns die Bedeutung seiner These zu verwirklichen. Seinem gleichzeitig veröffentlichten Buche über die Uneinigkeit bei dem Feinde zollt Petain größte Anerkennung: „Eines Tages wird das dankbare Frankreich auf ihn zurückgreifen.“

Seine Laufbahn zeichnet sich weiterhin in den vorausbestimmten Bahnen ab. Er wird

Adjutant Petains. Dann führen ihn verschiedene Missionen nach Persien und Ägypten. Wieder ist es Petain, der seine Bedeutung früh erkennt und auf dessen Einfluß de Gaulles Ernennung zum Generalsekretär des Obersten Verteidigungsrates zurückzuführen ist. Als solcher schreibt er sein 1934 veröffentlichtes Buch über die „Armfe de metier", in dem er die Grundlagen der modernen Panzerwaffen aufzählt, auf die sich dann später die deutsche Fachliteratur auch beruft.

Aber seine Thesen finden bei den Berufspolitikern keine günstige Aufnahme. Diese ziehen es vor, an die Uneinnehmbarkeit von Stahl und Beton zu glauben, und de Gaulle, der ausreichend Gelegenheit hatte, ihre Mentalität kennenzulernen, übernimmt ein Kommando von Panzertrpppen in Metz. Immer wieder finden wir an seinem früheren Lebensweg Namen, die später berühmt werden und noch einmal mit ihm in Verbindung kommen. Juin, heute General und Resident in Marokko, seit der Befreiung Generalstabschef, war Jahrgangserster im Jahrgang de Gaulles. Lind in Metz ist der Kommandant des Infanterieregiments der durch seine Härte und Disziplin bekannte Oberst de Lattre de Tassigny, während der kommandierende General kein anderer als Giraud ist.

Im Kriege an der Front ist es de Gaulle, der die wenigen französischen Siege des „dröle de guerre“ erringen kann. Er wird auf dem Schlachtfeld zum jüngsten General der französischen Armee befördert. Diesmal würdigt General Weygand seine Persönlichkeit in einem Tagesbefehl an die Armee. Doch der örtliche Erfolg von Laon genügte nicht, um den Krieg zu gewinnen. Alles, was de Gaulle voraussagte, der die deutschen Vorbereitungen seit Jahren aufmerksam verfolgt hatte — er spricht selber ein ausgezeichnetes Deutsch —, bewahrheitete sich. Noch am 26. Jänner 1940 unterbreitet er ein Memorandum dem Oberkommando, aber vergebens. In letzter Minute beruft ihn Ministerpräsident Reynaud als Unterstaatssekretär des Kriegsministeriums. Es ist der 7. Juni 1940. Reynaud versichert ihm, er sei entschlossen, den Krieg bis zum äußersten zu führen. Und de Gaulle erklärt am 15. Juni in Bordeaux, wohin sich die Regierung- zurückziehen mußte: „Und wenn wir nur mehr die Hälfte Marokkos halten können, selbst dann müssen wir weiterkämpfen, um jenen Augenblick zu erleben, dessen Kommen gewiß ist, wenn die materielle Überlegenheit den Sieg uns geben wird."

Die weiteren Ereignisse, seine Radioansprache am 18. Juni 1940, der stille Kampf um die Anerkennung ip London und nach der Invasion Nordafrikas gegen Washington, sind ebensogut bekannt, wie die legendären Einzelbilder, die sich aus den Aktionen von General Ledere, Admiral

Thierry d’Argenlieu und anderen Kameraden zusammenstellen. Aber um de Gaulle zu verstehen — wenigstens einigermaßen, denn ihn ganz zu ergründen dürfte nur wenigen gelingen —, ist es wesentlich, diese Vorgeschichte zu kennen. Denn während dieser Jahre bildet sich die Persönlichkeit heran, die schon reif und tatbereit ist, als sie in London vor das Mikrophon tritt...

De Gaulle ist in erster Linie Soldat, kein Politiker —, erklären viele. Und sie haben in vielem recht. Es war die Unbeugsamkeit des Soldaten, die ihn den britischen und amerikanischen Vorschlägen gegenüber halsstarrig machte, als er noch über wenig mehr als einen Haufen Truppen verfügte, aber schon die Verantwortung über die Gesamtsouveränität Frankreichs vor den Augen hatte. Es’ war auch der großzügige Traum des Soldaten, der am Kongreß zu Brazzaville den Plan der Französischen Union verkünden ließ. Und es blieb das Charakteristikum des Militärs, wenig und in abgehackt unleidenschaftlichen Sätzen zu reden, die, auf jeden rhetorischen Kniff verzichtend, Kraft ihres Inhalts die Zuhörer packen.

Aber das Paradoxon de Gaulles wird um so krasser, wenn ihm andere vorwerfen, eigentlich nur ein „politischer" General zu sein, jemand, der sich viel mehr um die Politik als um sein „Fach" kümmert. Auch diese scheinen recht zu behalten. Denn es war wahrlich eine politische Handlung, als de Gaulle — trotz seiner damals geheimen Überzeugungen, die jedem Berufsmilitär mehr oder weniger eigen sind — nach Moskau verhandeln ging, um sich durch die Anerkennung Moskaus und dann durch den Bündnisvertrag mit der Sowjetunion das nötige Gewidit den noch zweifelnden Amerikanern und Engländern gegenüber zu verschaffen, die ihre Unentschiedenheit durch ihre Experimente mit Darlan — dem Stellvertreter Petains — und mit Giraud zur Genüge bewiesen hatten. Und es war auch der Politiker und nicht der Soldat, der einwilligte, den Kommunistenführer Thorez nicht nur nicht vors Kriegsgericht zu stellen — er wurde wegen Fahnenflucht gesucht —, sondern ihn sogar mit seiner Partei an der Regierung, an seiner eigenen Regierung teilnehmen zu lassen ...

De Gaulle hat zweifellos eine Synthese zwischen dem Soldaten und dem Politiker zustande gebracht, mit einem Erfolg, der bisher keinem ähnlichen Experiment in der französischen Geschichte beschieden war, außer einem einzigen. Aber er läßt keinen Zweifel darüber, daß er keinen Staatsstreich machen will...

Die Stärke des Staatsmannes ist seine Umgebung, erklärte einmal ein Staatswissenschaftler. Wer ist de Gaulles Umgebung? Wir finden viele gescheite und viele faszinierende Köpfe unter ihnen. Manche kommen von der Rechten, manche von der Linken. Sie alle werden aber von dem General dominiert. Von de Gaulle, der von seinen Anhängern als „Le General", und von seinen Gegnern halb spöttisch, im geheimen aber halb anerkennend, „le grand Charles" genannt wird.

Diese Anerkennung hat er sich wohl verdient. Obwohl er die Berufspolitiker verachtet, hat ihn dies nicht verhindert, ihre Kunst nicht nur zu lernen, sondern anzuwenden. Die Tage der Zurückgezogenheit in Colombey-les-deux-Eglises — wo er heute noch wohnt — wurden gut ausgenützt. Seine absolute Beherrschung der Mechanik des politischen Apparats und sein klarer Blick gaben ihm den Ruf der Voraussicht, und viele schauen zu ihm mit fast magischem Glauben als Mann der Vorsehung auf. Ob de Gaulle eine solche Huldigung gefällt? Man weiß es nicht. Aber er selbst hat oft erklärt, daß er Frankreich, wenn nötig, auch ein zweitesmal zu retten bereit ist.

Diese fast blinde Huldigung und der oft gehörte Beinamen „Mann der Vorsehung“ machen aber manche gutwillige und nichtmarxistische Republikaner stutzig. Sie ziehen eine Parallele zwischen den Entwicklungen der französischen Gegenwart und jenen Deutschlands im Anfang der dreißiger Jahre. Immerhin gibt es einen gewaltigen Unterschied: jenen, der zwischen de Gaulle und Hitler besteht. Und dieser Unterschied allein ist unendlich mehr Leuten genügend, um über die Personen in seinem Stab hinwegzugehen, die sich nicht ungeteilter Volkstümlichkeit erfreuen. Dies wäre auch fast unmöglich. Denn wie diese Leutnants, kommen auch die Masse der RPF de Gaulles aus den verschiedensten Lagern und aus allen Parteien — mit Ausnahme der Kommunisten. Die Unzufriedenheit des Generals den Politikern und dem System des Heute gegenüber, ist auch ihre Unzufriedenheit. Und wie er, glauben auch sie an das Morgen. Der General glaubt an das Morgen,

weil er an seine Fähigkeit, aus seinen Anhängern die größten Leistungen im Interesse Frankreichs herausholen zu können, glaubt. Jene aber glauben in erster Linie an ihn.

Diese verschieden geartete Masse der Unzufriedenen bildet das Gefahrenmoment und auch die Angriffsfläche für de Gaulle. Zahlreiche Richtungen sind in seiner RPF zusammengefaßt, und man sagt voraus, daß, wenn einmal die Krisenzeit vorbei ist, die alte französische Vorliebe zu den Nuancen in Parteikredos wieder zum Vorschein kommen wird. Die Unzufriedenheit und die Kritik werden als etwas Negatives dahingestellt, und man wirft de Gaulle vor, er skizziere nur die großen Linien, gebe aber kein detailliertes Programm.

Solche Vorwürfe haben bei ihm bisher auch taube Ohren gefunden. Und wenn man ihn nach den Details seiner Pläne fragt, erklärt er lächelnd, er habe doch alles klargelegt in seinen Reden. Ist er augenblicklich am Höhepunkt seiner Volkstümlichkeit angelangt? Obwohl er zur Zeit, als er Staatschef war, bedeutend volkstümlicher gewesen ist, hoffen es einige Gegner so. Sie sagen sich de Gaulles Volkstümlichkeit hätte in den Gemeindewahlen die RPF in den Sattel verholfen, und nunmehr sei de Gaulle von der RPF abhängig: die Lage habe sich geändert.

Ein jeder versucht sich, de Gaulle zu erklären. Da man schwer seine Persönlichkeit ergründen kann, nimmt man die äußeren Zeichen seiner Erfolge her. Man seziert und analysiert die Erscheinungen, ohne sich viel um die Ursache, um den Urgrund zu kümmern. Es mangelt nicht an realen Gründen für den Erfolg de Gaulles. Wir glauben dennoch, daß die wichtigsten für seine jetzige Geltung die sentimentalen sind. Denn — um das letzte Paradoxon zu erwähnen — der Mann, der, es immer verstanden hat, „nein" zu sagen, erscheint vielen als das Versprechen der besseren Zukunft, als Verkörperer eines Optimismus trotz seines Pessimismus. Und da ist es plötzlich gar nicht mehr wichtig, zu wissen, ob der General tatsächlich an die Macht kommen wird oder nicht. Ob er diese oder jene Lösung vorziehen würde. Es genügt — ganz abgewandt von der politischen Sphäre —, wenn der Franzose seine Zeitung durchliest, die Ereignisse der letzten sechs Monate in Gedanken durchläuft und dann träumend an die Stimme im Londoner Rundfunk zurückdenkt, an die Stimme dieses Franzosen, der Frankreich verließ, um Frankreich zu retten:

„Ist aber das letzte Wort gesprochen? Soll die Hoffnung weichen? Ist die Niederlage endgültig? Nein."

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