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Paris und Prag marschieren

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So bestätigte Szokoll den Abschluß der Ereignisse. Er ist offenbar der letzte der Offiziere des Wehrkreises XVII gewesen, der mit Stauffenberg gesprochen hat. Was sich außerhalb des Wehrkreisgebäudes ereignete, läßt sich aus dem Kaltenbrunner- Bericht nur teilweise ersehen: Generalleutnant Sinzinger scheint Festnahmen und Sicherungsmaßnahmen durchgeführt zu haben, darunter auch die Festsetzung des Wiener Polizeipräsidenten.

Zur selben Zeit aber marschierte in Paris noch immer das Sicherungsregiment 1, das die Festnahme der Führer des SD und der SS durchführte. Um 21 Uhr wurde im Rundfunk Hitlers Rede angekündigt, um 22.30 Uhr begann die Gegenbewegung in der Bendlerstraße, wo eine Gruppe von Offizieren unter der Führung des Oberstleutnants Karl P r i d u n (ehemals Leutnant im Wiener Pionierbataillon 1) sich unter der Parole „für oder gegen den Führer” sammelte. Die Verhaftung Stauffenbergs und die Befreiung des Generalobersten Fromm leitete die noch ungeregelte Gegenaktion ein. Noch herrschte im Führerhauptquartier und bei Himmler Unklarheit über die Lage, selbst die raschen Exekutionen, die Generaloberst Fromm am 21. Juli zwischen 0.15 Uhr und 0.30 Uhr durchführen ließ, bei denen General O 1 brich t, Oberleutnant von Haefte n, Oberst Merz und Oberst Stauffenberg erschossen wurden, bewirkten noch immer nicht ein völliges Abflauen der Aktion in allen Wehrkreisen und besetzten Gebieten. In Paris bedurfte es des Ultimatums der Marineeinheiten und verschiedener SS-Verbände, um die Inhaftierten freizubekommen. In Prag war noch bis 22.40 Uhr die Situation unklar. General S c h a a 1 hatte dort hartnäckig versucht, Stauffenbergs Befehle durchzusetzen und — wie aus den Aufzeichnungen Bollhammers hervorgeht — Wien um 19.48 Uhr vom Inkrafttreten des Stichwortes „Odin” (wie „Walküre” für das Protektorat hieß) in Kenntnis zu setzen. Zwischen Wien und Prag wurde — nach der gleichen Notiz Bollhammers — noch einmal, um 22.50 Uhr. ein Gespräch geführt, zehn Minuten nachdem in Prag über Forderung des SS-Gruppenführers Karl Hermann Frank die Aktion abgebrochen worden war. Überhaupt zeigt sich aus der Liste der Telephonate die Unsicherheit, die noch herrschte. Anrufe des befreiten SS-Obergruppenfüh-

rers Querner, Scharizers, Frauenfelds und Sinzingers dienten wahrscheinlich der Lageklärung nach Mitternacht. Niemand wußte im Zimmer der Wehrkreisadjutanten, wo Esebeck und Kodrė zusammensaßen, was der nächste Tag bringen würde.

Die Verschwörung war zusammengebrochen. Über Fernschreiber und Telephon gingen die ersten Befehle an die Dienststellen der Partei, des SD und der Gestapo an die Wehrmacht. Die Reden Hitlers, Görings und Dönitz’ hatten gezeigt, daß die Erhebung zu Ende war. Himmler, der nach allen vorliegenden Forschungsergebnissen mehr von der Vorgeschichte de 20. Juli wußte, als der Führer der SS zuzugeben bereit war, der sogar durch seinen persönlichen Vertrauten SS-Obergrup- penführer Wolff Fühlung zu den Männern des 20. Juli hatte, war Oberbefehlshaber des Ersatzheeres geworden. Damit hatte ein Kapitel der deutschen Heeresgeschichte seinen Abschluß im Sinne jenes Mannes gefunden, den Hitler einstmals wegen seiner Feindschaft gegen das Heer am 30. Juni 1934 erbarmungslos erschießen ließ, nämlich Ernst Rohm. Ausgerechnet Heinrich Himmler, der in einem unheiligen Bündnis zwischen Reichswehr und SS den revolutionären Soldaten Ernst Rohm, der von einer nationalsozialistischen Volksarmee der Zukunft träumte, in den Junitagen des Jahres 1934 mit Zustimmung der Generäle der Reichswehr ermorden ließ, wurde nunmehr sein geistiger Erbe. Das Aufgehen der bisherigen Heeresorganisation in ein zukünftiges Volksheer na- tionalsoziali isoher Prägung war die offene Absicht Himmlers und die Er füllung der Ideen des Stabschefs der SA, Ernst Rohm.

Die unmittelbar betroffenen Offiziere konnten nur abwarten, was in den einzelnen Wehrkreisen am nächsten Tag geschehen würde. Zunächst hatte auch in Wien die Partei das Wort. Bei einer Kundgebung auf dem Schwarzenbergplatz, Freitag, den 21. Juli 1944, wurden nach der Meldung des „Völkischen Beobachters” neben Gauleiter Schirach, in der Teilnehmerliste SS- Obergruppenführer Querner und Generalleutnant Stümpfl, der einstmalige Stadtkommandant von Wien, genannt, aber nicht mehr Generalleutnant Sinzinger.

Ein Sündenbock wird gesucht

Inzwischen war nämlich im Wehrkreiskommando einiges geschehen, was der Öffentlichkeit noch verborgen blieb. Kodrė berichtet, daß General Schubert, der seinen Kuraufenthalt unterbrochen hatte, überraschend zurückkehrte und zornig seinem Chef des Stabes versicherte, daß bei seiner Anwesenheit die Dinge einen anderen Verlauf genommen hätten. Dies hat Schubert auch gegenüber Schirach erklärt. Somit wurde in den Augen Schirachs Kodrė zum Hauptschuldigen, der die Ereignisse ins Rollen gebracht hatte. Reichsleiter S c h i r a c h war nur durch Zufall der möglichen Verhaftung entgangen. Seine Mutter wurde bei einem Fliegerangriff auf Wiesbaden getötet und, von ihrem Begräbnis zurückkehrend, hielt sich Schirach in seinem Schloß Kochel in Bayern auf. Auf die Nachrichten aus Wien wollte er mit einem Bataillon der Division „Großdeutschland” nach Wien fahren, um „Ordnung zu machen”. So bedrohlich schien die Lage zu sein, wie man aus einem internen Akt der Parteikanzlei vom 21. September 1944 entnehmen kann— ein Dokument, das übrigens auch für die weitere Verantwortung Kodrės in der Frage der Passivität der höheren SS- und Polizeifunktionäre äußerst aufschlußreich ist.

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