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Pariser Gespräche

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Der Ausgleich der Zahlungsbilanzdefizite der Teilnehmerstaaten am Marshall-Plan ist die grundlegende Voraussetzung für die zahlungstechnische Abwicklung dieses Hilfsprogramms, das eine auf freier Vereinbarung aufgebaute Wirtschaftsgemeinschaft der europäischen Staaten schaffen helfen soll. Hiebei handelt es sich jedoch nicht nur um die Finanzierung von Dollarabgängen, die im Zahlungsverkehr mit der Westhemisphäre aufscheinen, sondern auch um die Lösung des Problems, wie die Staaten des europäischen Teilnehmerkreises ihre gegenseitigen Zahlungen unter möglichster Vermeidung der Überweisung von Gold oder Dollars ausgleichen können.

Die Pariser Konvention über die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa vom 16. April 1948, sieht in Artikel 4 gemeinsame Anstrengungen aller Mitgliedstaaten vor, durch Schaffung geeigneter zahlungstechnischer Grundlagen zu einer multilateralen (also freieren) Gestaltung des innereuropäischen Zahlungsverkehrs zu kommen. Auf Grund dieser Bestimmung und in konsequenter Fortentwicklung des im engeren Rahmen gehaltenen Brüsseler Verrechnungsabkommens vom 18. November 1947 wurde am 16. Oktober 1948 in Paris durch die Teilnehmerstaaten der Marshall-Plan-Kon- zeption ein neues und umfassendes Kompen- sations- und Zahlungsabkommen mit Wirksamkeit vom 1. Oktober 1948 und einer Laufzeit bis 30. Juni 1949 abgeschlossen.

Ein Jahr ist seit dem Abschluß dieses Vertragswerkes hingegangen, und die praktischen Ergebnisse liegen nun vor. Im Zusammenhang mit der nun notwendig gewordenen Prolongation wurde jedoch eine Reihe von Problemen aufgerollt, deren Lösung zunächst außerordentlich schwierig schien und für den Außenstehenden vielfach den Eindruck krisenhaften Charakters machten. Es sind in der Tat Probleme von weltweiter Bedeutung, die nicht nur allein den europäischen Horizont berühren; sie bilden den Hintergrund der abgebrochenen Brüsseler Finanzbesprechungen, zum Kurssturz auf der Londoner Börse, dem sogar die „Consols“ sich nicht zu entziehen vermochten, zu den außerplanmäßigen Besprechungen des amerikanischen Sonderbotschafters für den Marshall-Plan, Averell Harriman, mit dem britischen Finanzminister Sir Stafford Cripps, zur Einberufung einer Konferenz der Finanzminister des britischen Commonwealth und schließlich zur Zusammenkunft des amerikanischen Finanzministers John Snyder mit Cripps und europäischen Wirtschaftssachverständigen in Paris. Die Kommentare, die an diese Ereignisse in der Weltpresse geknüpft wurden, fielen selbstverständlich je nach politischer Blickrichtung verschieden aus. Was steht hier wirklich zur Diskussion?

Das umstrittene Abkommen, dessen Geltungsdauer am 30. Juni 1949 abgelaufen war, zerfällt in eine Präambel und in drei Abschnitte, die die Richtlinien für ein innereuropäisches Kompensationssystem, das neue Instrument der sogenannten „Drawing Rights“ (Ziehungsrechte) und allgemeine Schlußbestimmungen umfaßt. Mit diesem Abkommen trat zu der unbedingten Hilfe (Basic Aid, unconditional Aid), die die Dollardefizite der europäischen Länder gegenüber der Westhemisphäre abdecken sollten, die bedingte Dollarhilfe (conditional Aid, beziehungsweise supplymentary Aid), die von seiten der empfangenden Staaten an ihre defizitären europäischen Handelspartner (in Landeswährung) weiterzugeben waren, wobei im Wege eines Schemas multilateraler Kompensation der größtmögliche Ausgleich der innereuropäischen Zahlungsbilanzen erreicht werden sollte. Durch den Begriff der Ziehungsrechte wurde — wie bereits erwähnt — ein zusätzliches Instrument des innereuropäischen Zahlungsausgleichs geschaffen, das seine Entsprechung in der bedingten Dollarhilfe fand, die die USA dem die Ziehungsrechte einräumenden Staat in Form von Gütern und Hilfsleistungen zur Deckung dieser Fazilität zur Verfügung stellten. Praktisch kam diese Operation dem Kauf der Landeswährung des die bedingte Dollarhilfe empfangenden Staates von seiten der USA gegen Dollar gleich, während der derart geschaffene Devisenfonds jeweils einem anderen europäischen (Schuldner-) Land zur Abdeckung seiner Güterkäufe zur Verfügung gestellt wurde. Zweck dieses Abkommens war, zu einer Auflockerung des innereuropäischen Zahlungsverkehrs zu kommen, notwendig werdende Überweisungen in Gold oder Dollar zwischen den Teilnehmerstaaten auf ein Minimum herabzudrücken und dadurch der akuten Dollar- und Geldknappheit Europas einigermaßen entgegenzuwirken.

Insgesamt wurden für das erste Marshall- Plan-Jahr 1948/49 von seiten der USA den einzelnen Teilnehmerstaaten eine unbedingte Dollarhilfe in der Höhe von 4875 Millionen Dollar und eine bedingte DollarKilfe in der Höhe von 810,4 Millionen Dollar einge-räumt, welch letztere in der Form der erwähnten „Drawing Rights“ von den einzelnen Teilnehmerstaaten weitergegeben, beziehungsweise empfangen wurden. In diesem Rahmen wurden zum Beispiel Österreich im Jahre 1948/49 66,6 Millionen Dollar Ziehungsredite gegenüber den einzelnen europäischen Partnern zuerkannt, während es selbst 3,1 Millionen Dollar zur Verfügung zu stellen hatte. Grundsätzlich tragen die Ziehungsrechte bilateralen Charakter, Drawing Rights aber, die am Ende der Geltungsdauer des laufenden Abkommens noch nicht ausgenützt waren, können zu den gleich günstigen Bedingungen, wie sie ursprünglich eingeräumt wurden, auf eine spätere Periode übertragen werden. Für den Fall besonderer Entwicklungen aber war auch eine Revision, beziehungsweise Wieder- verteilung der Ziehungsrechte vorgesehen. Ihre Mobilisierung in handelspolitischer Beziehung sollte in der Weise erfolgen, daß dem ziehungsberechtigten Staat „essentielle Güter“ geliefert wurden, wobei jedoch zugunsten des Lieferstaates die Einschränkung normiert wurde, daß diese Lieferungen kein „vitalen Interessen“ des Lieferstaates verletzten durften (Schutz der dem Lieferstaat wichtig erscheinenden Exportinteressen). Hier zeichnen sich bereits gewisse Schwierigkeiten ab, die in den jüngsten Verhandlungen zur Bereinigung standen.

Die Entwicklung im letzten Jahr zeigt, daß die Zahlungsverhältnisse zwischen den einzelnen europäischen Ländern von drei wesentlichen Faktoren beherrscht wurden. Der Großteil der Ausweitung des europäischen Handels war auf bilateraler (zweiseitiger) Grundlage erfolgt, die durch die Vergrößerung des Produktionsvolumens im Wege der Marshall-Plan-Hilf gütermäßig untermauert war. Auch in der Wiederherstellung eines multilateralen (allseitigen) Handels- und Zahlungsverkehrs sind Fortschritte gemacht worden, wobei in dieser Richtung interessanterweise die stärkeren Impulse vom Ost- West-Handel kamen. Im allgemeinen aber war die Zunahme des Europahandels im Jahre 1948 nur im Wege der Finanzierungsbeihilfen der USA möglich, die die unausgeglichenen Zahlungsbilanzpositionen der einzelnen europäischen Länder direkt oder indirekt deckten. Im Hintergrund aber stand das große, den Welthandel überhaupt umschattende Problem der akuten europäischen Dollarknappheit, dessen Anfänge bis in die Zeit vor 1939 zurückreichen; in ein kritisches Stadium trat es durch die Entwicklung der Kriegs- und Nachkriegszeit.

Es ist klar, daß sich bei dieser Sachlage hüben und drüben gewisse Schwierigkeiten ergeben, die der Lösung harren. Heute wird allerdings die Dollarknappheit zeitlich durch die Refinanzierungshilfe des Marshall-Plans überbrückt. Die Tendenz aber, Dollar oder Gold für Exporte zu lösen, bleibt bestehen und ist verständlich, wobei dieser Wunsch insbesondere an den größten europäischen Partner der Marshall-Plan-Konzeption: Großbritannien (beziehungsweise an den Sterlingbereich) von seiten der kleineren europäischen Teilnehmerländer nachdrück- lichst in Erscheinung tritt. Die freie Konvertierbarkeit des Pfundes steht somit auf der Tagesordnung der präsentierten Wunschliste. Es ist klar, daß sich England diesem Wunsch im Hinblick auf seine allgemeine Wirtschaftsund Zahlungslage verschlossen hält. Ein Land, das die freie Konvertierbarkeit seiner Währung im gegenwärtigen (vielfach noch undurchsichtigen) Zeitpunkte erklärt, läuft Gefahr, die Vorzüge des Bilateralismus, der Käufer und Schuldner (und hier wieder in besonderem Maße im Wege der „Drawing Rights“) aneinanderkettet, verlustig zu gehen, da das Gläubigerland im Wege der freien Konversion seiner Guthaben in die Lage versetzt wird, dort einzukaufen, wo es preis- und qualitätsmäßig am besten abschneidet. Dies kann aber gerade heute England nicht gleichgültig sein, zumal es vielfach bereits für Auslandsmärkte zu teuer produziert und ein Absinken seiner lebenswichtigen Exporte und damit weitere Importdrosselungen mit allen ihren Rückwirkungen auf das soziale und wirtschaftliche Gefüge befürchten müßte.

Wie andere Länder des Marshall-Plan- Kreises hat auch Großbritannien im ersten Marshall-Plan-Jahr Ziehungsrechte in der Höhe von rund 312 Millionen Dollar oder 77 Millionen Pfund Sterling an andere Partner eingeräumt. Die hohen Gestehungskosten der englischen Produktion aber waren der Ausnützung dieser Drawing Rights vielfach hemmend, so daß eine Reihe von europäischen Ländern, insbesondere Belgien, gehindert waren, ebensoviel Güter aus England zu beziehen, als sie nach dort geliefert hatten. Die Folge war ein gewisser Dispositionsüberschuß, der auf Grund der belgischen Wünsche und im Hinblick auf die allgemeine Dollarlage in Gold oder Dollar abgelöst werden sollte, um auf diese Weise die Deckung für den Einkauf auf anderen Märkten zu erhalten. Damit war eine prinzipielle Frage aufgeworfen, die gerade im Hinblick auf die englische Planwirtschaft starken Widerhall in englischen Kreisen finden mußte.

Die Schwierigkeiten des internationalen Zahlungsausgleichs, denen sich Großbritannien zur Zeit gegenübersieht, haben letzten Endes nicht zuletzt ihre Wurzel in den im Gefolge der Verstaatlichungspolitik aufgetretenen Strukturänderungen, vor allem in dem Absinken der Produktivität in einer Reihe führender Wirtschaftzweige. Dagegen konnte sich Belgien nach dem Krieg verhältnismäßig rasch erholen. Die Verpachtung der belgischen Kupferminen in Bel- gisch-Kongo an die USA während des Krieges, die Lend-Lease-Forderungen, die Belgien aus dem Titel der Überlassung der Hafenanlagen von Antwerpen für alliierte Zwecke als einziger europäischer Staat an die USA, die Tatsache der auf diese Weise gestärkten monetären Grundlagen der belgischen Nationalbank, di rasch und zielbewußt durchgeführte Rationalisierung der belgischen Eisenindustrie und der Kohlenminen, haben dazu beigetragen, die internationale Stellung Belgiens in den letzten Jahren außerordentlich zu festigen. Sicher ist, daß die gefundene Kompromißlösung, die unter bestimmten Voraussetzungen eine Multilateralisation der Drawing Rights (Übertragung an Dritte) möglich macht, für England in der Übergangszeit vielleicht manche Unzukömmlichkeiten bringt, letzten Endes aber zweifellos der Konsolidierung (Normalisierung) der gesamteuropäischen Wirtschaftsverhältnisse dient und damit dem Ziel des Marshall- Plans, Europa im Jahre 1952 von fremder Hilfe unabhängig zu machen, näherrückt.

Die eingangs aufgeworfene Frage, ob es sich im konkreten Fall um eine politischwirtschaftliche Meinungsverschiedenheit oder letzen Endes um die Lösung eines zahlungstechnischen Prinzips handelt, kann wohl im letzteren Sinne beantwortet werden. Sicher ist, daß die Regelung des innereuropäischen Zahlungsausgleiches und darüber hinaus des Finanz- und Produktionsgefälles zwischen den USA und Europa noch manche Schwierigkeiten in den kommenden Jahren aufwerfen wird. Gerade das Pariser Kompromiß aber zeigt, daß eine Lösung dieser Schwierigkeiten, die für alle Partner tragbar ist, auch in Zukunft möglich sein wird.

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