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„Pax americana" in Österreich

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Am 5. Juni 1947 fiel mit einer Rede des US-Außenministers Marshall der Startschuß für den gleichnamigen Plan, dem Osterreich so viel verdankt.

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Am 5. Juni 1947 fiel mit einer Rede des US-Außenministers Marshall der Startschuß für den gleichnamigen Plan, dem Osterreich so viel verdankt.

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Der Marshallplan wird manchmal als „der bedeutendste Erfolg der amerikanischen Außenpolitik in der Nachkriegsära" bezeichnet. Wie kam es dazu, daß die Amerikaner in den Jahren 1948 bis 1952 beinahe 14 Milliarden Dollar Wirtschaftshilfe an 16 westeuropäische Länder ausschütteten? Nach der heutigen Kaufkraft des Dollars käme dies 100 Milliarden an Hilfsleistungen gleich. Wie konnte man das amerikanische Volk davon überzeugen, jährlich ein bis zwei Prozent ihres Bruttonationalprodukts (fünfmal soviel wie heute) an Auslandshilfe auszugeben? Die Österreicher erhielten knapp eine Milliarde Dollar - nach Norwegen den höchsten per capita Anteil an Marshallplan-Mitteln -, jeder Österreicher also zirka 130 Dollar pro Kopf und Nase.

Wo ist das European Recovery Pro-gram (ERP) - der offizielle Name des Programms - in die amerikanische Nachkriegspolitik einzuordnen? Im Frühjahr 1947 wurde es den Entscheidungsträgern in Washington klar, daß die den Zweiten Weltkrieg entscheidende Allianz mit der Sowjetunion kurz vor dem Zusammenbrach stand. Die beiden Supermächte gerieten auf dem europäischen Kontinent zunehmend in Interessenkonflikte. Die Sowjets zeigten sich auf der Moskauer Außenministerkonferenz im März/April 1947 in den deutschen Wirtschaftsfragen (vor allem Reparationen) und in den Verhandlungen zum österreichischen Friedensvertrag wenig kompromißbereit. Zudem schienen die verschiedenen kommunistischen Parteien Westeuropas zunehmend von den tiefsitzenden kriegsbedingten Dislokationen der europäischen Wirtschaft zu profitieren. Das wirtschaftliche Chaos schien durch den strengen Winter 1946/47 noch größer zu werden und ließ für den Sommer 1947 bedrohliche politische Konsequenzen erwarten.

In diesem Kontext nun hatten der neue amerikanische Außenminister George C. Marshall und seine Berater eine Reihe wichtiger Fragen zu entscheiden. Im universalhistorischen Gesamtzusammenhang stellt die Wende der amerikanischen Außenpolitik im Jahre 1947 von den Traditionen des nach innen gewandten Isolationismus hin zum nach außen orientierten aktivistischen Internationalismus eine bedeutende weltpolitische Wende dar. Wenn man so will, trat das amerikanische Empire in die Fußstapfen des britischen.

Das von den Nazis besetzte Österreich stand am Kriegsende völlig zerrüttet da. In dieser schweren Zeit gab es meist noch weniger zu essen als während des Krieges - nirgendwo in Westeuropa weniger als in Deutschland und Österreich. Die Nahrungsmittelsituation war im Herbst 1946 so ernst, daß die Regierang von Leopold Figl sogar überlegte, zu demissionieren - dies geht aus bisher vom Österreichischen Staatsarchiv geheimgehaltenen und noch unveröffentlichten Protokollen des Ministerrats hervor. Im Mai 1947 kam es zu Hungerrevolten im Land. Überlegt man sich, was 1947 in Ungarn und 1948 in der Tschechoslowakei bei ähnlichen Regierungskrisen passiert ist, kann man sich vorstellen, wozu eine solche Entscheidung hätte führen können, vor allem wenn man bedenkt, daß die Kommunistische Partei Österreichs fleißig an Umsturzplänen für solche Eventualitäten arbeitete.

Im Dickicht dieser Hiobsbotschaften vom alten Kontinent nun fiel nach der Moskauer Außenministerkonferenz Marshalls berühmtes Diktum -„der Patient liegt im Sterben, während die Ärzte lediglich Prognosen erstellen" -noch vor der berühmten Harvardrede am 5. Juni 1947 (siehe Kasten), dem Startschuß zum Marshallplan. Verschiedene Motivationen kamen am Zustandekommen des Marshallplans ins Spiel. Aus der europäischen Perspektive werden dabei die humanitären Motive der Amerikaner gerne belächelt oder gar ignoriert. Sie spielten jedoch zweifelsohne eine wichtige Rolle. Wie sonst hätte man einem Volk beibringen können - dessen Wirtschaft in der Weltwirtschaftskrise gewaltig ins Trudeln geraten war -, im Zweiten Weltkrieg und unmittelbar danach die unvorstellbare Summe von 85 Milliarden Dollar an Steuermitteln zur Besiegung von Aggressoren und zur Rekonstruktion der Weltwirtschaft auszugeben?

Natürlich waren wirtschaftliche Eigeninteressen noch wichtiger: Nach zwei Jahren Hungerhilfen waren die Amerikaner nicht länger bereit, lediglich Santa Claus zu spielen. Das gewaltige europäische Handelsdefizit' drohte die noch im Krieg in Bretton Woods geborene amerikanische Vision eines liberalen Welthandels mit geregelten Währungsverhältnissen noch vor ihrer wirklichen Genesis in Gefahr zu bringen. Die Lehren der Geschichte aus den dreißiger Jahren waren bedrückend: Wirtschaftskrisen in Amerika und Europa und der alt-väterische Rückzug in nationale Autarkien, Zollschranken und geschlossene Märkte waren keine gültigen Rezepte mehr, das war allen Beteiligten klar. Die daraus folgende Pauperisierung würde Millionen in die Hände der Kommunisten treiben. „Die Roten" aber war man in Washington seit Trumans berühmter Rede im März wild entschlossen, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln einzudämmen. Dazu gehörten auch die wüsten propagandistischen Übertreibungen der „roten Gefahr"

im Zeitalter des McCarthyismus, das mit der Marshallplanära deckungsgleich war. Auch das sollte man nicht vergessen.

Für das beste Rezept zum containment der kommunistischen Gefahr hielt man, amerikanische Fxfolgsre-zepte aus der Ära des New Deal zur Er -zeugung von breitem Wohlstand nach Europa auszuführen. Diese „Politik der Produktivitätssteigerung" wurde auch in Österreich zum Markenzeichen des Marshallplans. Die Zusammenarbeit von Regierungen mit Gewerkschaften und Unternehmen - in Österreich als „Sozialpartner" bekannt - sollte einen größeren gesamtwirtschaftlichen Kuchen erzeugen, von dem alle Klassen profitieren würden. Uncle Sams Antwort auf Karl Marx waren die Urwahrhei-ten von Adam Smith: „politics of productivity" und die Teilhabe aller Klassen am Wohlstand sollten den Klassenkampf ersetzen.

Dazu war aber die Initialzündung eines breitangelegten Hilfsprogramms notwendig, das nicht nur

George C. Marshall ist im Zweiten Weltkrieg als Vorsitzender der amerikanischen Vereinigten Stabschefs als „Organisator des Sieges" in die Geschichte eingegangen. Im Jänner 1947 ernannte ihn Präsident Harry S. Truman zum Außenminister der USA. Die Harvard Universität lud ihn zur Commen-cement-Feier ein, um ihm ein Ehrendoktorat zu verleihen. Er las seine schlichte 1.200 Worte umfassende Rede in zwölf Minuten ab. Keiner der 7.000 Zuhörer konnte ahnen, daß es sich um die berühmteste Rede in der damals beinahe 350jährigen Geschichte der altehrwürdigen Universität handeln würde. Es handelte sich um die Ankündigung des European Recovery Programs - eine Einladung an den europäischen Kontinent, durch „Hilfe zur Selbsthilfe" das Wirtschaftsleben wieder in Schwung zu bringen.

Heftpflästerchen für national orientierte Einzelvolkswirtschaften verteilen würde (wie dies 1945/46 geschehen war), sondern die Europäer zu Zusammenarbeit und Integration ihrer Nationalökonomien anregen würde. Das sture Beharren Washingtons auf gesamteuropäischer wirtschaftlicher (und politischer) Zusammenarbeit im Bahmen der zentralen Marshallplan-Organisation in Paris stellte langfristig das genialste Geschenk der Amerikaner an Nachkriegseuropa dar.

Auch das von

den vier Mächten besetzte Österreich fand mittels des Marshallplans seinen für die Zukunft des Landes entscheidenden Anschluß an Westeuropa. Es hätte anders kommen können, hätte die Figl-Regierung auf das amerikanische Hilfsangebot nicht besonders vorsichtig und umsichtig reagiert. Man ging die Sache „auf sanften Pfoten gehend" an (siehe Faksimile), denn man mußte auch auf die Sowjets Rücksicht nehmen, die sich noch im Iand befanden. Aus neu erschlossenen Moskauer Archivquellen wissen wir heute, daß Stalin den Marshallplan als Versuch interpretierte, Moskau seine Einflußsphäre im Osten strittig zu machen. Mit der Ablehnung des amerikanischen Angebotes isolierte Stalin die Sowjetunion weiter. Somit führte der Marshallplan endgültig zur Teilung Europas. Zur Teilung Österreichs kam es jedoch nicht. Die österreichische Ostzone wurde zum einzigen von den Sowjets besetzten Landstrich Europas, in den europäische ERP-Mittel flössen. Entgegen den Wünschen vieler antikommunistischer Politiker im Washingtoner Kongreß bestanden die amerikanischen Besatzer in Österreich auf einer Konstruktion, auf deren Grundlage die Russenzone nicht ganz vom ERP-Segen ausgeschlossen blieb. Man sollte nicht vergessen, daß damit den US-Besatzern ein entscheidender

Anteil an der Wahrung der Einheit des Landes zukommt. Aber auch Moskau erhoffte sich von einer Teilung keine entscheidenden Vorteile - was hätte man auch mit der kleinen Ostzone Österreichs machen sollen? Sie wäre wirtschaftlich nicht lebensfähig gewesen, und Zuschußgebiete hatte man schon mehr als genug im Osten.

In gewisser Weise steckt die Forschung zu den Auswirkungen des Marshallplans auf die österreichische politische Ökonomie der Nachkriegsära noch in den Kinderschuhen. Die wichtigsten anglo-amerikani-schen Forschungsansätze der letzten Jahre wurden hierzulande verschlafen beziehungsweise ignoriert, da sie nicht in die ideologischen Prädispositionen des Großteils der heimischen Zeitgeschichteforschung paßten.

Aber auch die Wirtschaftshistoriker steuerten keine bedeutenden neuen Erkenntnisse zum

Wirken des Marshallplans in Österreich bei. Die makroökonomischen Folgen des European Recovery Programs auf Österreich sind einigermaßen erforscht. Es fehlt aber an mikroökonomischen Fallstudien zu ganzen Industriesektoren und einzelnen Betrieben, die die Tiefenwirkung des Marshallplans in Österreich ausloten würden.

Auch die Debatte über den Einfluß, den amerikanische Marshallplan-Beamte auf die österreichische Wirtschaftspolitik im Einsatz der ERP-Mittel hatten, steht noch an den Anfängen. Wir wissen heute, daß die österreichische Regierang im Einsatz der ERP-Gegenwertmittel nicht nach einer „ausländischen Pfeife" tanzte. Hierzulande wurden die ERP-Programme zur Produktivitätssteigerang der heimischen Wirtschaft nur mitgetragen, solange sie keine Arbeitsplätze kosteten. Trotz massiven ameri-kanischeti Drucks konnten die Amerikaner den gewieften heimischen Politikern und Gewerkschaftsbossen oft nur verbale Unterstützungserklärungen abringen. Gegen die angestammten Traditionen des heimischen Austrokorporatismus hatte der amerikanische New-Deal-Korporatismus nie eine Chance. Österreich degradierte nicht zur Kolonie im amerikanischen Weltreich, wie es die Kritiker des Marshallplans gerne hätten. Auch die Forschung zu Frankreich und Italien kommt zu ganz ähnlichen Schlüssen.

Hierzulande täte man also auch gut daran, sich in Erinnerung zu rufen, daß es ohne Marshallplan kein österreichisches Wirtschaftswunder gegeben hätte, zumindest nicht schon in den fünfziger Jahren. Die Amerikaner verlangen keine ewige Dankbarkeit. Ein wenig Erinnerangsarbeit in der österreichischen Öffentlichkeit aber verdienen sie für ihre Anstrengungen zum Wiederaufbau von Österreichs Nachkriegswirtschaft und -Wohlstand allemal.

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