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Pekings Spiel mit der Zeit

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Obwohl sich die Geheimverhandlungen der beiden kommunistischen Großmächte seit sechs Wochen dahinziehen, erfolgte bisher keinerlei offizielle Bekanntgabe irgendwelcher greifbarer Resultate. Dabei sind diese Gespräche in Peking so wichtig, daß sie erst nach tagelangen geheimen Sitzungen der Führungsspitzen in Moskau und Peking in Gang gesetzt wurden.

Da nach wochenlangen Debatten hinter verschlossenen Türen offenbar der tote Punkt der Gespräche noch immer nicht überwunden werden konnte, glauben die meisten asiatischen Beobachter außerhalb Rotchinas, daß es Peking noch nicht gelungen ist, die Zustimmung Moskaus zur Schaffung entmilitarisierter Zonen in den umstrittenen Grenzgebieten zu erhalten und daß Sowjetrußland noch immer keine Bereitschaft zeigt, offen zuzugeben, daß China vom früheren Rußland sogenannte „ungleiche“ Grenzverträge aufgezwungen wurden. Auch decken sich ihre Ansichten mit der Meinung eines angesehenen englischen Kommentators, daß nach wie vor zwischen den Auffassungen der beiden kommunistischen Weltmächte so gewaltige Gegensätze bestehen, daß außer unwesentlichen Vereinbaiungen über Grenzkorrekturen keine wesentliche Einigung zu erwarten ist, „solange in Sowjetrußland und in Rotchina die heutigen Führungsspitzen an der Macht bleiben“.

Es fällt auch auf, daß in diesen Tagen bei einem Empfang in der albanischen Botschaft in Peking Tschu En-lai die bisher schärfsten Angriffe seit Beginn der Geheimverhandlungen an die Adresse der Sowjetunion richtete, die eine Reihe von Diplomaten der Ostblockstaaten mit dem demonstratives! Verlassen der Veranstaltung beantwortete. Auch die Tatsache, daß ab 1. Dezember 1969 die sich noch in Peking aufhaltenden Ausländer die ihnen bisher noch gewährte geringe Bewegungsfreiheit einbüßen, wird von manchen asiatischen Beurteilern mit den gegenwärtigen Geheimverhandlungen in Peking in Verbindung gebracht. Sie sei eine mit der Geheimhaltung der Verstärkung der Verteidigungsbereitschaft Rotchinas zusammenhängende Maßnahme, als „Warnung“ an die Sowjetunion für den Fall eines völligen Zusammenbruches der Geheimverhandlungen. Schon einige Zeit vorher berichteten aus der chinesischen Hauptstadt gekommene Reisende, daß in ihrem Bereich viele Fabriken zur Tarnung grün und braun gestrichen und mit einer dicken Erdschicht zugedeckt wurden, auf die dann kleine Bäume und Sträucher gepflanzt wurden.

Gleichzeitig zirkulieren in Hongkong Gerüchte, daß in Peking mit großer, wenn auch nicht völlig durchführbarer Geheimhaltung eine unterirdische Bunkerstadt gebaut wird, mit einem Eisenbahnnetz und Straßen für den unterirdischen Transport von Kriegsmaterial und Lebensmitteln.

Manche asiatische Beobachter der Pekinger Geheimverhandlungen gehen soweit, sie der Absicht Rotchinas zuzuschreiben, Zeit zu gewinnen, bis die jetzt vor sich gehende allmähliche Verlagerung der rotchinesischen Atomanlagen aus Sinkiang in das vor militärischen Aktionen viel besser geschützte Tibet mit seinen ebenfalls reichen Uranerzvor- kommen beendet ist.

Trotz der jetzigen Geheimverhandlungen der beiden kommunistischen Weltmächte geht selbstverständlich der ideologische Kampf mit voller Kraft weiter. In der Sowjetunion arbeitet der dorthin emigrierte chinesische Altkommunist Wang Ming weiter am Aufbau einer Revolutionsbewegung gegen Mao Tse-tung, deren Propagandamaterial trotz schwerster Strafandrohungen in die chinesischen Großstädte einzudringen beginnt. Überhaupt wird die Abkapselung des chinesischen Festlandes von allen Nachrichten aus dem Ausland trotz aller Gegenmaßnahmen an nicht wenigen Stellen durchbrochen.

Ausländische Zeitungen und Zeitschriften werden nur von einer kleinen Zahl „verläßlicher“ und dazu noch unter ständiger Bewachung stehender Beamter gelesen. Obwohl jedoch der Besitz eines Radioapparates durch die Möglichkeit des Abhörens ausländischer Kurzwellensender illegal und gefährlich ist, basteln manche erfinderische Chinesen aus geschickt gehamstertem Material kleine Transistorenempfänger zum Durchbrechen der Sperre von Auslandsnachrichten.

Sogar die Mondlandung der Amerikaner wurde bisher im Bereich des festländischen China offiziell verschwiegen. Dort, wo diesbezügliche Gerüchte zirkulieren, setzt alsbald eine umfassende Fahndung ein, um dem Behelfsempfangsgerät auf die Spur zu kommen, aus dem diese angebliche „kapitalistische Lüge" herausgesickert ist. Aber trotzdem kommen auch sehr vertrauliche Nachrichten immer wieder von und nach Rotchina. Auch solche, die direkt oder indirekt mit den Geheimverhandlungen Zusammenhängen, bilden keine Ausnahme.

Wird der große chinesisch-sowjetische Konflikt also vertagt? Kommt es nicht zum militärischen Kräftemessen?

Ohne Zweifel ist die Rüstung der Chinesen auf zahlreichen Gebieten noch unzureichend. Besonders im Bereich der Raketenwaffen klafft eine große Lücke. Was immer das Ziel der Sowjets auch ist — die Chinesen haben das größere Interesse am Zeitgewinn.

Den Russen mag es vorläufig nur darum gehen, der Welt ihren Friedenswillen deutlich zu dokumentieren. Den Chinesen geht es um mehr: um die Chance, noch einige Zeit ungestört ihre Milliarde Menschen auf die Stunde Null zu trainieren. Wann sich der „große Sprung“ und die „Kulturrevolution" lohnt.

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