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Petöfis Geist geht um...

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Während die Welt auf Posen blickte, brach in Ungarn ebenfalls das Eis der Diktatur — der Petöfi-Kreis machte von sich reden. Was ist der Petöfi-Kreis? Er wurde von der Kommunistischen Jugendorganisation DISZ als Diskussionsklub gegründet. Seit einigen Monaten kamen jeden Mittwoch nachmittag eine Anzahl Studenten, Assistenten, sonstige junge Vertreter der Wissenschaft, der Kunst, Journalisten und auch Politiker in den Klubräumen des Budapester Armeeoffiziershauses zusammen, um Probleme zu diskutieren, die seit dem 20. Moskauer Parteikongreß neu formuliert und neuartigen Lösungen zugeführt werden sollten. Initiatoren dieser Diskussionsnachmittage, die bald großen Zulauf erhielten und jeweils bis in die späten Nachtstunden dauerten, waren Kommunisten, die zunächst kaum anderes im Sinn führten, als daß man dem Beispiel der Moskauer Genossen folgen müsse. Es hat sich jedoch gezeigt, daß der Petöfi-Kreis über seine ursprüngliche Bestimmung bald hinauswuchs.

Es dürfte im Westen kaum allgemein bekannt sein, daß in Ungarn in Zeitungen und Zeitschriften ein mehr oder weniger offenherziges Streitgespräch zwischen den Theoretikern und Taktikern der Partei einerseits und den Schriftstellern anderseits bereits seit Jahren über Sinn, Möglichkeiten und Grenzen der Literatur im „Staat des Sozialismus“ im Gang war. So wurde etwa der Romanschriftsteller Tibor Dery, der mit seinen sechzig Jahren auf eine immerhin sechsunddreißigjährige Mitgliedschaft bei der kommunistischen Partei zurückblicken kann, bereits vor vier bis fünf Jahren, also noch zu Stalins Zeiten, von dem damaligen Volkserziehungsminister und Parteiästheten Jözsef Revai wegen „aristokratischen Benehmens“ (da er den erzieherischen Einfluß der Partei auf den Einzelmenschen in seinen Romanen stets unterschätzt hatte) häufig aufs Korn genommen. Man könnte also sagen, daß eine gewisse Stabilität in der Krise in den letzten Jahren, besonders seitdem der verhältnismäßig „liberale“ Kurs des Ministerpräsidenten Imre Nagy zwischen 1953 und 1954 eine freiere Aussprache ermöglicht hatte, auch in den breiteren Kreisen der Partei nicht mehr zu überhören war. Im Hintergrund dieser Gespräche über Literatur vermutete man stets sehr reale Vorgänge: Verschiebungen der Machtverhältnisse innerhalb des Zentralkomitees, die ihrerseits wiederum immer der Niederschlag dessen waren, was in Moskau vor sich ging.

Eine völlig neue Lage entstand, als diese kommunistischen Schriftsteller die Zwecklosig-keit ihrer akademischen Dispute erkannten und zur Tat übergingen. Im Herbst 1955 wurde eine Fraktion gebildet, die den Kampf gegen die Diktatur des Zentralkomitees aufnahm. In einer Resolution, die die Unterschrift fast aller Schriftsteller Ungarns trug, unter ihnen Kossuth-und Stalin-Preisträger, wurde Freiheit für den Geist, Befreiung von dem Terror der Lektorate und der Dramaturgien gefordert. Der Skandal war groß. Das Zentralkomitee war offensichtlich überrascht und wartete einen Monat lang,- bis es zur Antwort ausholte. In einem am 10. Dezember veröffentlichten Beschluß wurden die Drahtzieher der Rebellion — eine glanzvolle Liste der gerade in der Stalin-Zeit mit Auszeichnungen überhäuften literarischen Größen — als „Hausierer mit lügenhaften Behauptungen“ bezeichnet, die „bourgeoise Verleumdungen über Lage und Lebensstandard der Arbeiterklasse und der Bauernschaft plapperten“ und ihre parteitreuen Kollegen durch Lügen und Drohungen zu terrorisieren versuchten.

Man konnte damals glauben, daß der Rebellion damit ein Ende gesetzt wurde. Dem war aber nicht so. Es zeigte sich vielmehr damals zum erstenmal, daß die Stalinisten unter den Schriftstellern hoffnungslos isoliert sind. Die Rebellen zeigten sich alles eher als eingeschüchtert. Sie gewöhnten sich an, mit den „Stalinisten“, die sie „Sektarier“ nannten, kein Gespräch mehr zu führen, sondern deren sporadischen Angriffe mit dem höhnischen Hinweis auf ihre Beschränktheit und ihren Provinzialismus abzutun. Andere schrieben Gedichte, in denen von Friedhof, Tod und Auferstehung die Rede war. Dann kam der Februar 1956, der 20. Moskauer Parteikongreß. Läszlö Rajk wurde rehabilitiert, auch Bela Kun und mit ihnen viele Ketzer, Rebellen, Titoisten, Kosmopoliten und Spanienkämpfer, Helden der „illegalen Zeit“. Der Moskaubesuch des jugoslawischen Staatschefs stand vor der Tür und KP-Führer Togliatti fuhr nach der Insel Brioni auf Besuch. Das war die Stunde der Neugeburt des „Petöfi-Krei-ses“: des Gesprächs, das seit der Machtergreifung der Kommunisten in den literarischen Zirkeln nie ganz verstummt war. Nur wurde jetzt auf einmal alles klarer und deutlicher als früher.

Der erste große Anlaß war der Diskussionsabend über die Philosophie. Vor 1300 Studenten und Professoren vollzog sich die Abrechnung mit dem Dogmatismus und der „Zitatologie“ der Stalin-Zeit. Sie war lückenlos und rücksichtslos. „Wir müssen darüber im klaren sein, daß es noch keine marxistische Logik, marxistische Aesthetik, Ethik, Pädagogie, Psychologie gibt.. .“ Das waren Worte von Georg Lukäcs. Der ganze Abend war ein einziger Triumph dieses Mannes, der im Westen zwar immer als der repräsentative Literaturwissenschaftler der Kommunisten galt, der aber in Ungarn seit 1950 wegen seiner Weigerung, den sowjetischen „Sozialistischen Realismus“ als den Höhepunkt in der gesamten Entwicklung der Weltliteratur darzustellen, den heftigsten Angriffen ausgesetzt war. Diese Angriffe führten zu seiner Enthebung als Professor aa der Universität Budapest. Lukäcs wurde damals auf die Ebene der Weltfriedenskongresse abgeschoben. Jetzt sagte er in seinem Schlußwort spät in der Nacht: „Worte des Lobes und der Anerkennung berühren mich überhaupt nicht. Das Wesentliche an der Sache ist nicht, daß man bisher auf Lukäcs geschimpft hat und daß man ihn jetzt loben wird ... An die Stelle des Stalinismus muß die Methode Lenins treten ...“ — aber wirklich die Methode, denn aus Lenin könne man ebenso Dogmatismus machen wie aus Stalin.

Aenderung der Methode: Diese Forderung war Gegenstand auch der nächsten Zusammenkunft des Petöfi-Kreises eine Woche später, bei welcher das Thema „Presse und Propaganda“ zur Diskussion stand. Um es kurz zu schildern: Der Chefredakteur des Parteiorgans „Szabad Nep“ und Mitarbeiter Räkosis, Märton Horväth, wurde von den 6000 Studenten, die den großen Saal des Offiziersklubs, die Nebenräume, die Korridore füllten und auch noch vor dem Haus in dichten Reihen standen, niedergeschrien. Der Schriftsteller Tibor Dery analysierte die „Krankheitserreger des öffentlichen Lebens“ und erkannte sie darin, daß es an jener Freiheit fehlt, die der einzelne in der sozialistischen Gesellschaft besitzen müsse. Er kritisierte scharf den gewesenen und gegenwärtigen Volkserziehungsminister Revai und Darvas und die Redakteure der Parteizeitungen. Ein anderer Schriftsteller, Tibor Tardos, berief sich auf das Beispiel des Revolutionärs Petöfi und Yief zum Aufbau einer „Neuen Welt des Sozialismus“ auf, wobei er die dogmatischen Methoden der Presse und die Führer der Partei schärfstens angriff. Der Abend artete in eine einzige große Demonstration aus, Zwischenrufe forderten den Rücktritt Räkosis und der übrigen „Stalinisten“. Niemand konnte sagen, wer und was an ihre Stelle treten sollte — man munkelte allerdings von einer Verbindung zwischen den Schriftstellern um Tibor Dery und dem im April vergangenen Jahres von seinem Posten als Ministerpräsident abgesetzten „Rechtsabweicher“ Imre Nagy —, aber man einigte sich leidenschaftlich in dem Wunsch: die bisherigen Methoden und die bisherigen Führer müssen weg! Es kam indessen zu keinen Handgreiflichkeiten, und die heftig diskutierenden Gruppen zerstreuten sich schließlich — weil niemand ihnen ernstlich widersprach. Nichtsdestoweniger war es jedoch ein Aufstand, dieser Abend im Petöfi-Kreis am 27. Juni. Ein unblutiger Aufstand der Geistesarbeiter.

Das Debakel der wahrscheinlich „wohlmeinenden“ Veranstalter war nicht mehr zu übersehen. Nun mußte das Zentralkomitee seinerseits auch Farbe bekennen. So kam der eingangs erwähnte Beschluß zustande. Es wurde darin eine „bestimmte Gruppe um Imre Nagy“ genannt, die mit ihrer Demagogie gegen die Partei arbeite. Die Kommunisten wurden zur Einheit und Disziplin gemahnt. Die „Provokation von Posen“ sollte zur Warnung dienen. Die Diskussionen würden fortgesetzt, jedoch nur über Themen der Wissenschaft und Kunst. Dery und Tardos wurden aus der Partei ausgeschlossen. Diese Resolution ist gewiß nicht der letzte Akt des Dramas. Ein Blick in die Zeitungen genügt, um festzustellen, daß im Bereich des Kommunismus heute mehr als je alles in Bewegung ist. Die Schuld der Experten des Westens, die — in ihrem Bestreben, die kommunistische Wirklichkeit möglichst blutig und in den düstersten Farben darzustellen — von den Ansätzen eines Gesprächs, das niemals ganz verstummt, nichts wissen wollten, ist groß. Das ist die erste Folgerung. Die zweite ist, daß man klar aussprechen muß: Das Gespräch wird gegenwärtig (noch), zwischen Kommunisten alter und neuer Observanz, zwischen „Stalinisten“ und „Leninisten“ geführt, wobei insbesondere Leninismus nur ein Name ist, der heute noch nichts bedeutet, aber vielleicht bald vieles bedeuten wird. Der Prozeß der Klärung oder Zersetzung muß ohne Einflußnahme von außen vor sich gehen. Der Befreiungskampf der Geister war im strategischen Plan des kalten Krieges nicht eingezeichnet.

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