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Phäaken und Komplexe

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Ein junger Österreicher spezialisierte eich in der Nachkriegszeit auf die Produktion von Sonnen- schutzmitteln, die damals Mangelware waren. Er stellte sie anfangs in der Küche seiner Kleinwohnung her, erzeugte aber trotzdem nicht billigen Ersatz, sondern ein wissenschaftlich fundiertes Produkt, das er ständig verbesserte und das in vieler Hinsicht die bisher angebotenen Präparate übertraf.

Er war in einer Person Betriebschemiker, Produzent und Verkaufsleiter. Auf dem Fahrrad fuhr er von Ort zu Ort, stellte es in irgendeinem Hof ab, bürstete sein Gewand aus und trat nun als „Unternehmer“ auf, der die Erzeugnisse seines Betriebes anbot.

Dank der Qualität der Erzeugnisse gelang es ihm, sich durchzusetzen. Aus dem Küchenlabor wurde ein Kleinbetrieb, der sich Schritt für Schritt zu einem immer größeren Unternehmen herausmauserte. Heute stehen bereits zwei modernst eingerichtete, weitgehend automatisierte Fabriken in Vorarlberg und ein Zentralverwaltungsgebäude in der Nähe von Wien; dort werden mit der neuesten Datenverarbeitungsmaschine die Produktion und der Verkauf gesteuert, und in einem kleinen, aber mit hochwertigen Instrumenten ausgerüsteten Labor wird wissenschaftliche Forschung betrieben.

Als der junge Unternehmer kürzlich seine fast amerikanisch anmutende Laufbahn schilderte, wunderten sich einige Zuhörer über seine gute österreichische Aussprache, da er doch gebürtiger Deutscher sei. Sie gerieten sichtlich aus der Fassung, als sie erfuhren, daß die Wiege eines so tüchtigen Mannes, dessen Erzeugnisse international anerkannt sind, nicht an der Spree oder Elbe gestanden hat, sondern im heimatlichen Tirol. Daß ein Österreicher etwas leistet, noch dazu in Österreich selbst, erschien ihnen ganz unglaublich.

Wohl sei es richtig, daß er 1946 aus Ostdeutschland zugewandert sei, erläuterte der Unternehmer, doch hatten ihn nur die Kriegswirren dorthin verschlagen, wobei er auch eine Frau aus dieser Gegend geheiratet hatte.

„Also Ihre Frau ist Deutsche“, stellten die Zuhörer erleichtert fest, denen offenbar beinahe ihr ganzes Weltbild ins Wanken geraten war.

Unsere Nationalkrankheit

Die Auffassung, die in diesem Gespräch wieder mit erschreckender Deutlichkeit zutage trat, ist leider kein Kuriosum, sondern für viele Österreicher typisch. Es handelt sich dabei oft um gute Österreicher und keineswegs um professionelle Leugner des österreichertums. Dennoch ist ihnen der Glaube an die österreichische Untüchtigkeit — meist unbewußt und ohne ideologischen Hintergrund — zur fixen Idee geworden.

Wir haben es hier mit einem wohlausgebildeten Fall der österreichischen Nationalkrankheit zu tun — dem Minderwertigkeitskomplex. Es ist bestimmt kein Zufall, daß Alfred Adler, der Entdecker dieses Komplexes, Österreicher war, denn wenige andere Länder hatten ihm so reiches Anschauungsmaterial geboten.

Wie lebendig er noch immer ist, bewies die Debatte über eine eventuelle Assoziierung an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Sachliche Erwägungen des Für und Wider wurden von Emotionen einfach überflutet.

Auf der einen Seite stehen die „einsamen Herzen“, die der zarten Rebe Österreich ein trauriges Ende prophezeien, wenn sie sich nicht bald um den starken Weinstock EWG ranken kann, auf der anderen Seite ste(hen die „Überfremdeten“, die von jeder Annäherung an den Gemeinsamen Markt sofort den Verlust der wirtschaftlichen und späterhin auch der politischen Eigenständigkeit befürchten, da sich doch das verträumte Phäakenland Österreich gegenüber seinen überlegenen und tüchtigen Nachbarn unmöglich behaupten könne.

Beide diese rein emotionellen Haltungen stammen aus derselben Wurzel, dem österreichischen Min-

derwertigkeitskomplex. In beiden Haltungen feiert die Überzeugung von der österreichischen Lebensunfähigkeit — wenn auch in verschämter Verkleidung — fröhliche Urständ.

Daß die österreichische Wirtschaft verschlafen und untüchtig sei, daß sie mit den Leistungen des Auslandes nicht Schritt halten könne und ihre Erzeugnisse dem „internationalen Standard“ (was ist das, bitte?) nicht entsprechen, steht für viele Menschen — sogar für solche mit durchaus patriotischer Gesinnung — fest. Die vielen Beispiele, die dagegen sprechen, werden einfach nicht zur Kenntnis genommen.

Man kann natürlich die Wirtschaft aus dem österreichischen Staatsbewußtsein „auszuklammern“ versuchen. Ist das realistisch? Vergessen wir nicht, daß die „Lebensunfähigkeit“ der Ersten Republik mit wirtschaftlichen Behauptungen

„bewiesen“ wurde. Von dieser harmlosen „Sachlichkeit“ nahm das politische Unheil seinen Ausgang.

Wir kommen daher nicht darum herum, auch die technisch-wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes gründlich und unvoreingenommen zu prüfen.

Doch Prophet im Vaterland

Die Nachkriegszeit bescherte uns eine ganze Reihe junger Unternehmer, die sowohl als Techniker wie auch als Wirtschaftspraktiker ihren Mann stellten. Von ihnen stammen zahlreiche Erfindungen, die — ebenso wie das in der Öffentlichkeit bekanntere LD-Blasstahlverfahren, das gleichfalls eine bedeutende österreichische Leistung ist — internationale Anerkennung gefunden haben.

Wenige werden wissen, daß das Turmgewächshaus, das eines der beachtlichsten Schaustücke der WIG war und wofür sich das westliche und östliche Ausland gleichermaßen interessiert, die Erfindung eines österreichischen Ingenieurs ist, dessen Karriere nach 1945 praktisch ohne Kapital begann. Im kleinsten Rahmen errichtete er ein Ingenieurbüro, wobei er sich in erster Linie mit dem Stahlbau und mit dem Entwurf von Metallbeizanlagen befaßte. Dank zahlreicher Patente hatte er bald in der Fachwelt einen guten Namen und konnte schließlich mit der Auswertung seiner Erfindungen im eigenen Unternehmen beginnen. Sein rastloser Erfindergeist beschränkte sich nicht auf dieses Spezialgebiet, sondern warf sich auch auf verschiedene andere Probleme, unter denen die „Automatisierung des Gartenbaues“ nur eines ist. Er befaßte sich ebenso mit neuen Systemen der Gewässer- und Luftreinhaltung und vielen anderen zukunftsträchtigen Aufgaben.

Ein anderer österreichischer Unternehmer, der einen Kleinbetrieb ererbt hatte, konnte sich durch selbstentwickelte und mit vielen Patenten versehene Schwingförderer international einen Namen machen. Daneben fand seine „runde Fabrik“

— eine weitere Neuheit — in aller Welt Interessenten.

Oralpenicillin, also Penicillin, das nicht intravenös eingespritzt, sondern in Pillenform eingenommen werden kann, ist gleichfalls eine österreichische Erfindung. Ein anderer österreichischer Ingenieur wurde zum international anerkannten Spezialisten für den Bau von Gaswerken, während sich ein weiterer auf Verbrennungsmotoren spezialisiert hat und als selbständiger Konstrukteur für die bedeutendsten Fahrzeugfabriken Europas arbeitet.

Ein österreichischer Unternehmer, der neuartige elektrische Schaltanlagen erzeugt, wurde zum Lieferanten amerikanischer Großkonzeme. Seine Schaltanlagen werden überall dort verwendet, wo besondere Präzision erforderlich ist, unter anderem auf Kap Kennedy.

Auch bei Konsumgütern und kleinen Erfindungen für den Alltags- gebrauch waren Österreicher erfolgreich. österreichische Schmalfilmkameras sind in aller Welt führend und dank ständigen Neuerungen den meisten Konkurrenzprodukten fast immer um Längen voraus.

Ein österreichischer Kraftfahrzeugmechaniker hatte den Einfall, sich auf die Erzeugung von Autozubehör zu spezialisieren. Er beliefert heute fast alle großen Automobilfabriken Europas. Österreich ist auch eines der wenigen Länder der Welt, in denen Dieseleinspritzpumpen erzeugt werden; sie werden von den Kraftfahrbetrieben aus aller Welt bezogen.

Einige nach dem Kriege gegründete Glashütten stellen feinstes Tafelglas her und gehören zu den Lieferanten der internationalen Luxuskaufhäuser, unter anderem Tiffany in New York. Ein österreichischer Lüsterfabrikant, der aus einer kinderreichen Arbeiterfamilie stammt und gleichfalls ganz aus eigener Kraft zum Industriellen geworden ist, exportiert den Großteil seiner Produktion in alle Welt, wobei seine Entwürfe vielfach tonangebend sind.

Etwas fehlt noch

Natürlich ist das Bild dieses technischen Österreich nicht ungetrübt. So erstaunlich auch die in unserem Land vollbrachten Leistungen sind

— um so erstaunlicher, als sie oft unter sehr widrigen Umständen erzielt wurden —, so unbefriedigend ist die Forschungsförderung in unserem Land, so daß die vorhandene technische Begabung bei weitern nicht in jenem Maße genutzt werden kann, in dem sie vorhanden ist.

Gerade da wir mit Naturschätzen nicht überreich bedacht sind und noch dazu geographisch ungünstig liegen, wäre die Pflege und Aufwertung unseres reichen „Gehirnkapitals, um so dringlicher. Resignation ist völlig falsch am Platz. Die bisher vollbrachte österreichische Leistung beweist, daß die notwendigen Kräfte vorhanden sind, die mit verhältnismäßig geringen Mitteln mobilisiert werden können.

Was der Österreicher braucht, ist mehr Zutrauen zur eigenen Leistung auch im Wirtschaftlichen, ganz gleich, ob es darum geht, den österreichischen Erfinder- und Unternehmergeist zu mobilisieren oder dem österreichischen Erzeugnis Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die wirtschaftliche Lebensfähigkeit Österreichs muß täglich neu geschaffen werden, und wir alle sind dazu aufgerufen, mitzuhelfen— als Arbeitgeber und Arbeitnehmer, als Produzenten und Konsumenten, als Männer der Praxis und der Wissenschaft

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