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Plädoyer für Nüchternheit

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Wenn der Ausspruch „Österreichs Schicksal ist heute vom Export abhängig” tatsächlich volle Gültigkeit besitzen sollte, dann darf Österreich, nach dem Außenhandel der letzten Jahre zu urteilen, eine ge sicherte wirtschaftliche Zukunft erhoffen. An der Handelsbilanz des ersten Vierteljahres 1964 sind nämlich die wirksamen Tendenzen deutlich erkennbar. Trotz einigen momentanen Verzerrungen entfielen, in Prozenten berechnet, vom Gesamtexport auf die EWG 48,7, die EFTA einschließlich Finnland 20,5, den Ostblock 12,9 und die überseeischen’’ ‘Länder 13 Prozent. Den Rest beanspruchten vor allem Spanien, Jugoslawien und Griechenland. Im Vergleich zum „Verteilungsschlüssel 1959” beobachtet man eine erstaunliche Stabilität der EWG-, einen enormen Aufschwung der EFTA-, relatives Absinken der Ostblock- und einen absoluten Rückgang der Übersee-Exporte. Die wirklichen Sorgen Österreichs liegen anscheinend gar nicht beim Export nach der EWG, der sich trotz einer Diskriminierung vorbildlich gehalten und alle Bedrohungen bisher glänzend überstanden hat. Die wirklichen Schwierigkeiten, verursacht durch eine ungünstige Transportlage, liegen vielmehr beim Export nach Ubersee, der von 1959 bis 1963 um 6 Prozent zurückgegangen ist, besonders nach Amerika (minus 15 Prozent).

Bedeutung der Kennedy-Runde

Die Kennedy-Runde des GATT erscheint daher im Augenblick vielleicht von noch größerer Dringlichkeit und Wichtigkeit als die Assoziierung mit der EWG. Unter der Voraussetzung, daß sich das freie Europa zu einem ähnlichen Schritt entschließt, unterbreiteten die Vereinigten Staaten bekanntlich den wahrhaft großzügigen Vorschlag einer Zollreduktion um 50 Prozent. Für Österreich rückte dieses Angebot zwei Vorteile in greifbare Nähe. Seine Durchführung würde zunächst einmal das größte Absatzgebiet der Welt öffnen und neue Chancen einigen österreichischen Spezialprodukten bieten, nämlich Glaswaren und Phantasieschmuck, Kleidung, Geweben und Schuhwaren, Fahrrädern, Kunstfasern und Sportgeräten. Zugleich würden die Zollschranken zwischen der Freihandelszone und der Wirtschaftsgemeinschaft teilweise abgebaut, eine Entwicklung, die allerdings im radikalen Widerspruch zur Handelspolitik der EWG-Zentrale stünde. Brüssel hoffte zuerst, die GATT-Verhandlungen mit Hilfe einer umfangreichen Liste der Zolldisparitäten zu verschleppen. Schließlich geriet die Kennedy- Runde noch in Gegensatz zur Agrarpolitik der EWG, die unter allen Umständen einheitliche Ge treidepreise manipulieren möchte, um endlich zu ihren ersehnten Preisabschöpfungen zu gelangen. Im Widerspruch zur EWG hat sich die EFTA sofort klar und entschieden für die Kennedy-Runde aus gesprochen, die gegenwärtig die einzige Möglichkeit darstellt, den Zollkrieg zwischen den freien Staaten Europas zu mildern und Brüssel wenigstens zu einer partiellen Liberalisierung zu veranlassen.

Es ist kein Geheimnis, daß Bundeskanzler Erhard der Kennedy- Runde einen vollen Erfolg wünscht, aber in seiner Bewegungsfreiheit durch “Rücksichten auf das verbündete Frankreich einigermaßen gehemmt erscheint. Auch Holland und Italien ziehen am gleichen Strang. Zuletzt kam noch eine Verzögerung durch die Krise der Welthandelskonferenz, die wegen des Radikalismus der Entwicklungsländer in Asien und Afrika geradezu aus den Fugen geriet. Trotz dieser Hindernisse wird doch erwartet, daß die Kennedy-Runde vielleicht nicht eine Zollreduktion um 50, aber in einigen Sektoren immerhin um 30 bis 40 Prozent bringen dürfte. Jedenfalls erfuhr der Protektionismus der EWG eine gewisse Begrenzung.

Krise in Brüssel

Gleichzeitig wurde der Mansholt- Plan in eine Sackgasse getrieben, aus der es keinen Ausweg gibt. Nach wie vor beharrte Paris auf einem erweiterten Absatz seiner Agrarprodukte, vor allem in Italien und Westdeutschland, wobei Einheitspreise erlassen und die Konkurrenz der lästigen „Drittländer” nach Möglichkeit ausgeschaltet werden sollten. Brüssel vermochte den „Brathühnerkrieg”, ferner alle Schwierigkeiten bei Reis und Fleisch durch glanzvolle Kompromisse seines „Perfektionismus” zu überwinden, der mit Hilfe von Klauseln, Paragraphen und Statistiken auf dem Papier wahre Meisterwerke der Planwirtschaft produziert, während das Wirtschaftsleben natürlich einen ganz anderen Verlauf nimmt. Zuerst glaubte man, Frankreich, das schon jede Zusammenarbeit mit Großbritannien torpediert hatte, werde die EWG sprengen, wenn sie eine Kapitulation vor den wiederholten Ultimaten verweigern sollte, doch brachte die jüngste Interpretation des Römer-Vertrags eine völlig neuartige Wendung. Im französischen Parlament wurde erklärt, daß seine Bestimmungen einfach nicht durchgeführt würden, wenn sie wichtige Interessen des souveränen Frankreich verletzen; denn im neuen „Europa der Vaterländer” könne keine Großmacht ihre Lebensinteressen preisgeben, noch dazu wegen Theorien, die vielfach umstritten wären. Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, hat Außenminister Couve de Murville diesen Standpunkt nachträglich in Brüssel eingehend erläutert, womit auch die Streitfrage künftiger Mehrheitsbeschlüsse ‘ endgültig geklärt ; ist: Frankreich läßt sich nicht überstimmen. Anderseits kann Westdeutschland der von Brüssel geforderten raschen Senkung seiner Getreidepreise niemals zustimmen, so daß alle im EWG-Programm vorgesehenen Termine gegenstandslos geworden sind. Immer häufiger enden die Sitzungen des strapazierten Ministerrats der EWG mit einer Vertagung. Bei heiklen Themen erwies sich eine einheitliche Beschlußfassung vielfach als unmöglich.

Unter diesen Umständen stößt eine Assoziierung Österreichs gerade im gegenwärtigen Augenblick auf größere Schwierigkeiten, als man bei uns zulande zugibt. Der alte Streit, ob ein Industrieland überhaupt assoziiert werden könne, ist noch immer nicht beigelegt; denn nach dem ursprünglichen Sinn des Römer-Vertrages sollten Assoziierungen den unterentwickelten Ländern Vorbehalten bleiben, in Sonderheit den ehemaligen französischen Kolonien und einigen Randgebieten des Kontinents. Außerdem überwiegt in Brüssel zur Zeit das begreifliche Streben, zunächst die dringenden Probleme und alle akuten Gefahren zu überwinden, um die zentrifugalen Kräfte zu bändigen. Es ist ohnehin ein Wunder, daß Brüssel bei der gewaltigen Überlastung überhaupt Zeit gefunden hat, sich mit der österreichischen Frage zu befassen und die Konsequenzen der Neutralitätsakte zu studieren, die selbstverständlich wieder den alten Konflikt aufrollen, nämlich das grundsätzliche Verhältnis zu den Drittländern, die unter gar keinen Umständen in der Lage sind, einen vollwertigen Beitritt ins Auge zu fassen, aber auch nicht dauernd bagatellisiert werden können. Obwohl man das Problem als nicht aktuell bezeichnet, blockieren die ungeklärten Beziehungen zwischen EWG und EFTA doch die gesamte Handelspolitik des Kontinents. Niemand zweifelt, daß der tragische Zustand eines jahrelangen offenen Zollkriegs unhaltbar ist. Gewiß möchte Brüssel manche Erleichterungen bieten, aber es kann und will keinen Präzedenzfall schaffen, obwohl eine Sprengung der EFTA verlockend erscheint. Wien sollte daher mit neuen Wartefristen, weiteren Rückfragen und einigen Ergänzungen des ersten Referates rechnen; denn die EWG-Kommis-

sion hat sich in keiner Weise festgelegt.

Das Leben geht weiter

Mittlerweile ist aber das Leben nicht stehengeblieben. Der Außenhandel Österreichs hat einen Auf-Schwung genommen, der selbst die größten Optimisten überraschen mußte. Im Verlauf von vier Jahren — von 1959 bis 1963 — sind nämlich die Importe aus der EWG um 49,4, dem Ostblock um 56,3 und der EFTA um 72,5 Prozent, dagegen die Exporte nach der EWG um 38,9, dem Ostblock um 53,6 und der EFTA um — 88,5 Prozent gestiegen! Wie aus den beiden Tabellen (siehe „Handel mit der EFTA” und „Handel mit der EWG”) hervorgeht, beruhte die jüngste Expansion der Exporte nach der EWG auf lebenden Tieren, Kleidung und Metallwaren, nach der EFTA auf Textilien und Kleidung, Tonbandgeräten und Molkereiprodukten. Neuerdings hört man oft die Frage, warum Österreich die günstige Position räumen will, die ihm die Konvention von Stockholm an der Seite Schwedens und der Schweiz gesichert hat, um sich kopfüber in die fragwürdige Zukunft eines Mitläufers der EWG zu stürzen. Als erster assoziierter Staat Europas hat Griechenland in Brüssel bereits die Erklärung abgegeben, die angeblichen Vorteile wären weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die Gründe dieser Enttäuschung lagen in einer übertriebenen Propaganda, die nur die Vorzüge einer Assoziierung angepriesen, aber die Nachteile und unvermeidlichen Opfer totgeschwiegen hatte.

Politik und Handel

Im österreichischen Fall gibt es neben der Neutralitätsakte und ihren wichtigen „Punktationen von Rättvik” noch zwei Momente, die keinesfalls übersehen werden dürfen. Die Krise im Ostblock, die infolge der Konflikte zwischen China und Rußland entstehen mußte, bietet den Satelliten eine größere Bewegungsfreiheit, besonders den Donauländern, die seit langem auf diesen günstigen Augenblick warten und schon das Beispiel Jugoslawiens vorfinden, dessen Außenhandel nicht den beklemmenden Vorschriften des COMECON unterliegt. Der erste Staat, der aus einer Lockerung der Handelspolitik Rumäniens und Bulgariens, Ungarns und der Tschechoslowakei einigen Nutzen ziehen mag, ist Österreich. Nachdem Wien seit Unterzeichnung des Staatsvertrages mit Hilfe langfristiger Abkommen seine Handelsbeziehungen zu allen Staaten des Ostblocks geordnet hat und der Warenverkehr auf eingefahrenen Schienen verläuft, ist es ausgeschlossen, diese Fortschritte preiszugeben und sich den Befehlen Brüssels zu unterwerfen, das die Probleme des Osthandels unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachtet und überhaupt noch gar keine praktischen Erfahrungen besitzt. Österreich kann niemals eine Handelspolitik führen, die seine geographische Brückenstellung zwischen dem Westen und dem Osten nicht sorgfältig berücksichtigt. Bedenkliche Folgen Der zweite Punkt, der beim „Einzelgang nach Brüssel” regelmäßig vergessen wird, betrifft die Preisgestaltung. Österreich ist im freien Europa noch immer das Land mit den billigsten Lebensmitteln, besonders bei Fleisch und Molkereiprodukten. Die Agrarpolitik der EWG läuft jedoch auf eine Teuerung hinaus. Jede Assoziierung führt automatisch zu einem Preisdruck auf verschiedene Industriewaren, besonders Kleidung, Textilien und Schuhwaren, zugleich aber zu fühlbaren Preiserhöhungen im Sektor der Lebensmittel, woraus sich neue Lohn- und Gehaltsforderungen, zuletzt sogar erhöhte Staatsausgaben ergeben. Mit Recht wurde die Erhaltung des Preis- und Lohnniveaus als das oberste Prinzip der Wirtschaftspolitik verkündet. Natürlich erweisen sich fortlaufende Anpassungen und Korrekturen als unvermeidlich, aber das Tempo der Teuerungswelle, die ganz Europa heimsucht, wurde in Österreich mit Erfolg gebremst. Nachdem die Öffentlichkeit die Assoziierung bisher ausschließlich unter dem Gesichtspunkt einer Sicherung der Exporte betrachtet hat, sollten die Sachverständigen auch einmal die Gefahren einer uferlosen Importschwemme untersuchen.

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