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Polen vor den Sejm-Wahlen

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Herzlicher als irgendwo sonst in Osteuropa können sich heute sowjetische Staatsführer dort umarmt fühlen, wo man sie vor achteinhalb Jahren fast nicht landen ließ: in Warschau. Und doch ist der Empfang, den die polnischen Kommunisten Breschnew und Kossygin vor kurzem bereiteten, alles andere als das Ergebnis sentimentaler Empfindungen; es ist Ausdruck einer nicht ganz widerspruchslosen, doch auch von den meisten polnischen Nicht-kommunisten so verstandenen Staatsräson — und zugleich einer Räson der Partei, die sich glücklich schätzt, nicht nur das Land, sondern auch ihre eigene, ideologisch schwach verwurzelte Macht unter den Fittichen des großen Nachbars geborgen zu wissen. Zumal seit sich dieser Nachbar nicht mehr als lästiger Vormund gebärdet.

Denn das steht außer Frage: Wenn von Moskau aus mit dem XX. Parteitag von 1956 die große Reformbewegung und Differenzierung im Weltkommunismus nicht in Gang gesetzt worden wäre, so hätte heute nicht Gomulka die Sowjetführer begrüßt. Nicht der Mann, der den Irrweg der Zwangskollektivierung endgültig verließ, sich zur (wenn auch spannungsreichen) Koexistenz mit den „Andersgläubigen“ entschloß und 1956 das erste große Tauwetter Osteuropas in einem Lande' einleitete^in dem Liberalität schon immer leicht in Anarchie~umzüschlagen drohte —' wenn kein gestrenger Präzeptor „Disziplin“ wie eine bittere Arznei verordnete...

Was ist daraus geworden? So fragt man sich im Westen, so fragen sich die Polen selbst, besonders jene, die 1956 hochgespannte Erwartungen hegten und heute Polen nicht mehr in der Avantgarde, sondern in der Nachhut des europäischen Reformkommunismus marschieren sehen. „Einen Leierkasten kann man rückwärtsdrehen — die Melodie nicht.“ Diese schlichte Erinnerung von Lee, dem polnischen Meister des Aphorismus, sollten übereifrige „Mechaniker“ beherzigen; das gilt für alle wesentlichen Veränderungen, die seit jenem Oktober 1956 datieren, es gilt aber auch für die Grundentscheidungen, die in Polen seit 1945 fielen, als eine Minorität von Kommunisten im Schutz sowjetischer Bajonette die Macht übernahm. „Einige Genossen meinen, die Führungsrolle der Partei... könne nur mit Hilfe der Roten Armee realisiert werden“, klagte Gomulka im Mai .1945 in einer .(erst' 17 Jahre später veröffentlichten) Rede und wandte sich gegen jene, die eine „Sowjetisierung Polens“ anstrebten: „Wir stehen auf dem Boden der Unabhängigkeit, Freiheit und Souveränität des polnischen Staates.“ Aber im gleichen Atemzug pries er jenen polnisch-sowjetischen Freundschaftspakt, der am 21. April 1945 für zwanzig Jahre geschlossen wurde.

Dieser Vertrag ist es, der nun nicht etwa verlängert, sondern erneuert wurde. Auch da läßt sich die Melodie nicht rückwärtsdrehen. Eine — auch machtpolitisch — veränderte Landkarte Europas stellt die Frage der Sicherheit Polens anders als vor zwanzig Jahren: Aus dem geschlagenen Deutschland ist trotz seiner Teilung ein Machtfaktor geworden, und trotz ihrer Position als atomare Weltmacht steht die Sowjetunion vor dem Zerfall des stalinschen Imperiums. Gibt es für Polen keine Wahl zwischen den beiden starken Nachbarn,, dem unbefriedigten und dem übermächtigen? Gomulka scheint zu fürchten, daß sich manche Leute in Polen die Frage immerhin stellen. Kaum je vorher sprach er so ausführlich und so heftig von den inneren und äußeren „Feinden“ wie beim März-Plenum seines Zentralkomitees, vor dem er den neuen Pakt mit Moskau begründete. Jene Feinde wollten, so behauptete er, Polen von der Sowjetunoin trennen — durch Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Eigentlich müßte Gomulka wissen, daß die seriöse Politik des Westens längst nicht solche naive Spekulationen hegt, vielmehr versteht, daß ein Land, das Rußland zum Nachbarn hat, guter Beziehungen zu Moskau bedarf.

Freilich, der spezifische Gehalt des polnisch-sowjetischen Verhältnisses wird heute noch immer davon bestimmt, daß die Sowjetunion als einzige Großmacht die Oder-Neiße-Grenze porantiert. Nicht von ungefähr wurde deshalb jetzt diese Sicherheit noch einmal eigens in das Bündnis eingebaut. Würde sich der Westen oder gar Bonn an solcher Garantie beteiligen, dann könnte sich (so meinen manche polnische Kommunisten, die mit dem rumäni-

sehen Beispiel liebäugeln) die polnisch-sowjetische Bindung weniger einseitig gestalten. Daran ist etwas Richtiges, doch sind auch zwei andere Faktoren nicht zu übersehen: Das wachsende Industriepotential Polens wird für unabsehbare Zeit fast ausschließlich auf die sowjetischen Rohstofflieferungen (öl und Erze) angewiesen sein — eine Bindung, die solider ist als manche politische Partnerschaft und zum Beispiel im Fall Rumäniens nicht besteht. Anderseits aber bedarf heute die Sowjetunion auch Polens; Gomulka wies kürzlich ziemlich unverblümt darauf hin und nannte das Bündnis „ein wichtiges Element der Einheit des sozialistischen Lagers“.

Nicht nur strategisch hat Moskau Interesse an den 31 Millionen Polen zwischen Bug und Oder, an den Verbindungsstraßen zu seinen 22 vorgeschobensten Divisionen an Elbe und Werra. Polen, der größte Partner Moskaus im osteuropäischen Bündnissystem, wirkt zugleich auch mäßigend und ausgleichend auf die divergierenden Kräfte im Weltkommunismus. Seit Jahren bemüht sich Gomulka, den sowjetisch-chinesischen Konflikt zu besänftigen; Immer wieder empfiehlt er sich als „ehrlicher Makler“. Er stützt sich dabei auf das Gleichgewicht, die dauernde Balance, die er — wenn auch mühsam — zwischen den extremen Kräften im eigenen Land hält. Diese Mittlerfunktion, die den neuen, nach Ausgleich strebenden Sowjetführern besonders wertvoll erscheinen muß, läßt sich Gomulka — nun auch vertraglich — entgelten: Er begnügt sich nicht mit innerer Souveränität (die seit 1956 nicht angetastet ist). Er ist es müde, selbst bei bescheidenen außenpolitischen Initiativen von den Freunden (etwa in Ost-Berlin) irgendwelcher Extratouren bezichtigt zu werden.

Schon jetzt wird deutlich, daß Polen mit der Bekräftigung seines Bundes mit Moskau ganz handfeste eigene Interessen in westlicher Richtung verknüpft: In der gleichen Woche, in der die Sowjetführer durch Polen reisten, erschienen auf polnische Einladung in Warschau drei starke westliche“, Wirtschafts-missioneh, um die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu erkunden: eine britische, eine belgische und eine deutsche, von Krupp (die das bekannte, zuviel beredete Projekt jetzt weiter berät). Gleichzeitig verhandelt Polen in Brüssel jetzt offiziell mit der EWG (wozu Präsident Hallstein einen deutschen Unterhändler delegierte), und seit 1. April nimmt Polen an der Kennedy-Runde des GATT teil.

Gomulka, der sich vor wirtschaftlichen Experimenten scheut, wie sie Prag und Ost-Berlin wagen, riskiert nichts ideologisch Unerlaubtes, wenn er sich handelspolitisch im Westen stärker engagiert. Er steht unter dem praktischen Zwang, nach Investitionshilfen zu greifen, wo immer sie sich bieten. Die Bevölkerung des Landes ist 1964 wieder um fast 400.000 Menschen gewachsen; mit einer industriellen Zuwachsrate von 9,3 Prozent zeigte sich das Jahresergebnis zwar besser als erwartet worden war, die akute Krise, die vor Monaten drohte, scheint wieder einmal genannt — in chronischen Formen dauert sie jedoch an. Die Landwirtschaft (zu 85 Prozent privat) hatte nur einen Produktionsanstieg von 0,7 Prozent zu verzeichnen. Der Maschinenpark und die Kunstdüngerversorgung wuchsen, doch bei weitem nicht ausreichend, und der Verbrauch steigt. Alljährlich muß das Land für 200.000 Dollar Getreide importieren. Den mühsamen Übergang vom Agrarland zum Agrar-Industrie-Staat symbolisiert der Stand der Elektrifizierung der Bauernhöfe: 1956 waren es erst 36 Prozent, heute sind es 73 Prozent ... Zu den Aushilfen, deren sich Gomulka bedient, gehört die Förderung des priuaten Handwerks. Es habe, so versicherte er kürzlich, eine „gute und dauerhafte Perspektive“. 240.000 Privathandwerker — das sei eine „absolut zu bescheidene Zahl“ meinte er, verschwieg aber, daß die staatliche Steuerpolitik das Ihre dazutut. Erst jetzt wurden die Privatbetriebe in die allgemeine Sozialversicherung einbezogen; auch die Steuerschraube soll gelockert werden — wenn die Provinzverwaltungen mitmachen. Daß nämlich Beschlüsse „von oben“ nicht oder nur unzulänglich verwirklicht werden, gehört zu den „Besonderheiten“ des Landes, die vieles hemmen. Manchmal freilich wird so auch das Törichte, Schädliche verzögert, verhindert oder gemildert.

Mehr als alle anderen Probleme beschäftigt die Warschauer Parteiführung ein Phänomen, das ebenso eigenwillig das einförmige Modell der klassischen Volksdemokratie in Frage stellt: Polen ist in den politischen Generationenwechsel geraten. Junge, gut ausgebildete und undoktrinäre Leute warten ungeduldig, daß die „alte Garde“ — die mangelndes Wissen durch Wohlverhalten ersetzt — die Positionen räumt. Diese neue Generation von überwiegend „technokratischen“ Funktionären macht sich jetzt in der Periode vor den Sejm-Wahlen bemerkbar. Nicht daß von diesen Wahlen politische Kräfteverschiebungen zu erwarten wären — auch wenn die Einheitsliste wieder mehr Kandidaten als Sitze verzeichnet und Streichungen möglich sind. Es sind die Diskussionen der Wahlkampagne, die es ermöglichen, „ins Gespräch zu kommen“ und sich kritisch zu Wort zu melden. Anders als etwa in der Sowjetunion, wo auch die neue Generation in der „geschlossenen Gesellschaft“ der Parteidiktatur wächst, sind diese jungen polnischen Funktionäre mit all den Differenzen einer sehr viel offeneren Gesellschaft aufgewachsen, ohne den Minoritätskomplex der Alten, aber mit kritischer Distanz zur Umwelt, auch der parteilichen. Die unbestrittene Autorität des alternden Parteichefs zähmt heute noch ihren Ehrgeiz. Doch in der mittleren Generation der „Partisanen“ besitzen sie Verbündete mit Macht (zumal in der Exekutive), die sich durchzuboxen verstehen.

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