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Polens Studenten und die Partei

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Ein ähnlicher Grund drückte sich in den Ereignissen in der Tschechoslowakei und in Polen aus: Unzufriedenheit mit der etablierten Macht. Die Entwicklung war verschieden, da die Begebenheiten selbst verschieden waren. Das Ende war jedoch parodoxerweise wieder ähnlich: eine umfassende Säuberung der Parteireihen.

Die fatale „Totenfeier”

Hatte der Krisenausbruch in der Tschechoslowakei etwas Fatales und wurde irgendwie auch gewollt infolge der Zuspitzung des Verhältnisses zwischen zwei Parteiflügeln, so waren die Studentenunruhen in Polen eher ein Zufallsereignis, Folge eines scheinbaren Mißgriffes der Behörde, die Absetzung eines Theaterstücks vom Spielplan. Es handelte sich dabei um die „Totenfeier” (polnisch „Dziady”) von Adam

Mickiewicz. Mit dem Mißgriff der Behörde wird jedoch nicht dieses Verbot gemeint, denn es blieb dem Regime kaum etwas anderes übrig, als dieses Verbot auszusprechen, da jede der Aufführungen — es waren insgesamt 13 — Anlaß zu antisowjetischen Kundgebungen gegeben haben soll. Das Mißgeschick ist eher darin zu suchen, daß gerade dieses Stück zu einer der Veranstaltungen zum 50. Jubiläum der bolschewistischen Revolution bestimmt worden war!

„Dziady” wurde aber schon früher aufgeführt — wie Parteichef Gomulka in seiner Rede hervorhob —, ohne solche antisowjetische Kundgebungen veranlaßt zu haben. Es scheint jedoch, daß früher einige Abstriche im Text vorgenommen wurden und erst jetzt das Publikum den vollständigen Text zu hören bekam.

Unbewältigte Vergangenheit

Entgegen den Behauptungen von Gomulka, der den Regisseur Dejmek — einen der Besten des Landes — einer bewußten Hervorhebung der antisowjetischen Potenzen beschuldigte, scheint dieser eher bestrebt gewesen, nicht die möglichen Ähnlichkeiten zwischen der Lage Polens im 19. Jahrhundert und der gegenwärtigen zu betonen, sondern im Gegenteil, das Stück als eine ausschließliche Anklage gegen das zaristische Rußland inszeniert zu haben. Oder mindestens glaubten die Kritiker die Inszenierung unter diesem Standpunkt sehen zu können.

Darin ist aber auch eine mögliche Erklärung für die Aufführung dieses Stücks zu suchen. Denn Polen, ähnlich wie Rumänien, aber zum Unterschied von Bulgarien und der Tschechoslowakei, die eine Tradition der Freundschaft zum russischen Volk haben, muß eine Vergangenheit des Leidens bewältigen, bevor es das Verhältnis zur gegenwärtigen des Zarenreichs — auf eine gesunde und dauerhafte Basis stellen kann. Für Polen ist der von den Bukare- ster Kommunisten gewählte Weg nicht gangbar, nämlich die Betonung der Eigenständigkeit gegenüber der Sowjetunion. Gomulka konnte aber glauben, daß etwa zehn Jahre einer mehr oder weniger gleichberechtigten Partnerschaft mit der Sowjetunion sowie die ständig propagierte Erkenntnis, daß im Grunde genommen die Einbehaltung der ehemaligen deutschen Ostgebiete vom Wohlwollen der Sowjetunion abhängt, dazu führen würden, daß die Zuschauer der „Totenfeier” den gewünschten Unterschied zwischen dem polnischen Verhältnis zum Zarenrußland, einem Verhältnis des Leidens, und dem Verhältnis zur Sowjetunion, einer von den Lasten des Stalinismus gereinigten Beziehung wahrnehmen würden. Dieser Versuch ist mißlungen.

„Kulturfeindliche Politik”

Das Verbot des Stücks „Dziady” führte aber nicht sofort und nicht unmittelbar zu den heftigen Studentendemonstrationen. Erst nach der Versammlung der Warschauer Schriftsteller kam es zu den großen Straßenkundgebungen. Schon in diesem Gremium hatte man dem Fall „Dziady” eine andere Deutung gegeben, wobei der Hintergrund des latenten Antisowjetismus des polnischen Volkes kaum in Erscheinung trat: Die Absetzung des Stücks wurde als Ausdruck einer kulturfeindlichen Politik betrachtet, einer Politik der Einschränkung der Geistesfreiheit durch Einmischung der administrativen und Parteiorgane. Und für diese Freiheit der Geistesschaffenden gingen dann auch die Studenten auf die Straßen. Auch bei ihren Kundgebungen hat keiner der westlichen Korrespondenten einen ausgesprochenen Antisowjetismus festgestellt. Erst viel später wurde behauptet, daß bei den Demonstrationen „hier und dort antisowjetische Slogans auftauchten und einige von Aussöhnung mit der deutschen Bundesrepublik sprachen”.

Für eine emotionelle Kundgebung zeigten eigentlich die demonstrierenden Studenten eine unerwartet große Disziplin. Der Grund: Die Studenten wollten eben nur einen Druck auf die Partei ausüben, vermieden aber, eine offene Herausforderung der Partei.

Nach dem ersten Demonstrationstag war eigentlich der Gegenstand der Unwillensäußerungen wiederholt die Berichterstattung der polnischen Presse. Klar, daß sich die Studenten dagegen wehrten,., als Werkzeug der „zionistischen Kreise” und als eine anarchische, ja sogar reaktionäre Bewegung diffamiert zu werden. Nach Korrespondentenberichten handelte es sich bei den Demonstranten um eine kommunistisch Jugend, man sprach sogar von „idealistischen Kommunisten”, die somit eigentlich eine Gefährdung des Regimes kaum gewünscht haben können. Deswegen waren auch die westlichen Beobachter überrascht, daß die Parteiführung keinen Dialog mit den Studenten suchte, sondern einfach die Demonstrationen mit Härte unterdrückte. An den Kundgebungen beteiligten sich schätzungsweise jeweils 3000 bis 5000 Studenten. Die Zahl ist zwar groß, sie stellt jedoch nur einen Teil der Hochschuljugend, eben die kommunistische Minderheit, dar, während „die anderen” kaum Interesse an einer Auseinandersetzung um die Verbesserung eines Regimes hatten, das weiterhin kommunistisch bleiben sollte.

Studenten und Volk

Es wurde vielleicht zuwenig Aufmerksamkeit auch einem anderen Umstand geschenkt: Bis zur Wiederherstellung der Ordnung blieben die Kundgebungen eine ausschließlich studentische Angelegenheit. Alles, was man darüber sagen konnte, war, daß die Arbeiterschaft nicht, wie die polnische Partei behauptete, gegen die Studentenschaft war, sondern daß sie wie auch andere Bevölkerungsschichten abseits stand. Daß die Partei sofort alles einsetzte, um die Arbeiter im Griff zu halten, erklärt nicht alles. Die Bevölkerung hat vielmehr gar nicht erfaßt, worum es eigentlich ging. Eine andere Erklärung für ihre Passivität bietet vielleicht der von Gomulka in seiner Rede unternommene Versuch, eine Spannung zwischen Schriftstellern und Bevölkerung zu konstruieren, indem er eine angebliche Verachtung der Schriftsteller gegenüber den „Ignoranten” des einfachen Volkes tadelte.

Möglichkeiten der Zukunft

Es wurde oft in Zusammenhang mit den Märzereignissen in Polen von einem Sieg der „Konservativen” gesprochen. Merkwürdigerweise ist man in Jugoslawien anderer Meinung. So berichtete der Korrespondent der „Tanjug” am 15. März 1968, daß die Angehörigen der jüngeren Generation mit fortschrittlicheren Ansichten energischer auftreten. Es wäre durchaus möglich, daß innerhalb der Partei eine Gruppe die Macht an sich reißt, die eine straffer disziplinierte Partei als Voraussetzung für gewisse Reformen des Systems — eine Wirtschaftsreform auf derselben Grundlage wie in den anderen sozialistischen Ländern ist noch fällig — braucht. Sie könnte später diese ohne die Erschütterungen der tschechoslowakischen Partei im ähnlichen Sinne (und für die breite Masse mit den gleichen beschränkten Ergebnissen) durchführen.

Auch in den Beziehungen zu der Sowjetunion könnte sich einiges ändern. Durch Veröffentlichung der Rede Gomulkas im vollen Wortlaut zeigte Moskau, daß man dort die Ereignisse in Polen im gleichen Lichte des latenten Antisowjetismus betrachtet Vielleicht wollte Gomulka mit diesem Hinweis größere Unterstützung für die polnische Wirtschaft oder ein größeres Mitspracherecht bei der Festlegung des allgemeinen Kurses. Er kann nunmehr aus gestärkter Position mit der Sowjetunion verhandeln.

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