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Politik an der Nordgrenze

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Im Juni 1946 schrieb die „Times“: „Es scheint, daß Südtirol eine Teilentschädigung Italiens für den Verlust seiner Kolonien darstellt.“ Diese sehr richtige Ansicht des führenden englischen Blattes erinnert an einen der nachhaltigsten Fehler der Siegermächte des zweiten Weltkrieges: Italien aus Afrika zu verdrängen und ihm dafür seine europäische Position mehr oder minder ungeschmälert zu erhalten. Die italienische Kolonisation in Libyen und Eritrea hat Hervorragendes geleistet und ihr Ende lag keineswegs im Interesse Europas und der übrigen Kolonialmächte. Leidtragender dieser grundlegend verfehlten Nachkriegsregelung wurde aber auch Oesterreich, der schwächste Nachbar Italiens. Südtirol wurde zum zweiten Male verloren. Da aber die Mächte die Mangelhaftigkeit ihrer Entscheidungen anerkannten, versuchten sie, die in Frage stehenden Gebiete einer Sonderregelung zuzuführen. So erhielt Südtirol eine Autonomie und die Garantie der Bewahrung seines Volkstums. Triest, der zweite heikle Punkt der italienischen Nordgrenze, sollte in ein selbständiges Territorium unter der Kontrolle des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen umgewandelt werden. Dadurch hoffte man sowohl den italienischen Charakter der Stadt zu wahren als auch, insbesondere durch die neue Hafenverwaltung, den wirtschaftlichen Konnex dieses größten mitteleuropäischen Hafens wiederherzustellen. Schließlich gewährten die Italiener auf Drängen Frankreichs hin den Französisch sprechenden und der französischen Kultur zugehörigen Bewohnern des Aostatales eine Autonomie. Dieses teilweise Nachgeben den Realitäten in Europa entsprach auch einer Konzession in Afrika: zum Treuhänder für Somaliland wurde Italien bestellt.

Das Wesentliche in der italienischen Politik der letzten Zeit besteht nun in dem konsequenten Bemühen, diese Sonderregelung entlang der italienischen Nordgrenze aufzuheben. Den Hebel für diese Politik bietet einerseits die an Bedingungen geknüpfte Einordnung Italiens in die NATO, anderseits der Hinweis der bürgerlichen italienischen Regierungen, daß sie außenpolitische Erfolge erringen müssen, um dem Drucke der Nationalisten und Kommunisten widerstehen zu können.

So können wir in allen drei Gebieten einen grundsätzlichen Wandel feststellen.

Das freie Territorium von Triest erhielt niemals sein endgültiges Statut, da sich die Großmächte über ihre Politik nicht einigen konnten. Es erhielt aber auch nicht sein Provisorisches Statut, bis schließlich in der Zone A die alliierte Militärverwaltung zuerst im zivilen und dann auch im militärischen Sektor abgelöst wurde. Die Fiktion des im Friedensvertrag gegründeten freien Territoriums besteht noch immer weiter, aber sie wird im südlichen Teil durch die jugoslawische Realität, in der Stadt Triest durch die italienische überlagert. So hat Italien Triest zurückgewonnen, allerdings — man kann wohl sagen — auf Kosten der Stadt. Denn heute ist das Schicksal Triests ungewisser denn je. Wenn die deutschen Häfen noch mehr Vorteile dem mitteleuropäischen Handel gewähren, wenn das deutsche Kanalnetz und die Rhein-Hochsee-Schiffahrt ausgebaut werden, wer wird dann das steigende Defizit dieser Stadt bezahlen? Werden die übrigen italienischen Häfen einen unorganischen Außenseiter unterstützen? Die Rettung für Triest kann nur kommen, wenn Italien einsieht, daß dieser Retter Oesterreich ist. Triest könnte zum Mittelpunkt einer italienisch-österreichisch-jugoslawischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit werden. Solange dies nicht eingetreten ist, hat auch die Tragödie dieser Stadt noch nicht ihr Ende gefunden.

Das zweite Beispiel ist das Aostatal. Durch die' seinerzeitige Regelung konnten die Aostaner in ihrem Landtag die eigenen Geschicke leiten. Durch ein unglückseliges Wahlgesetz hat es aber Italien so weit gebracht, daß die „Union Valdotaine“ nur noch einen Vertreter im Landtag und keinen in der autonomen Regierung besitzt. So wurde das Autonomiestatut unterhöhlt, wie auch die Bevölkerung durch systematische Zuwanderung überfremdet wurde. So verlor die gewährte Autonomie ihren Sinn. Solange Frankreich diese Entwicklung mit Gleichmut aufnimmt, ist keine Aenderung zu erwarten.

Der tragischeste Fall aber ist S ü d t i r o 1. Auch hier sehen wir die gleichen Ziele und die gleichen Methoden wie im Aostatal, obwohl zum Unterschied von letzterem der einwandfreie ethnische Charakter der Minderheit auch von Italien anerkannt wird. Durch das bilaterale Abkommen zwischen Frankreich und Italien und den multilateralen Friedensvertrag wurde eindeutig festgelegt, daß der Zweck der autonomen Verwaltung Bewahrung des angestammten Volkstums und des althergebrachten Charakters dieses Landes ist, und hier besteht der fundamentale Unterschied gegenüber dem Aosta-tal. Italien ist völkerrechtlich verpflichtet, die Autonomie Südtirols zu achten. Wenn dabei von italienischer Seite angeführt wird, daß der Friedensvertrag nur ein einfaches Gesetz, der Grundsatz der Freizügigkeit aller Staatsbürger im gesamten Staatsgebiet aber verfassungsmäßig verankert sei, so muß man dem entgegenhalten, daß ein Staat immer verhalten ist, die innerstaatliche Rechtsordnung seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu unterwerfen. Diese anerkannte allgemeine Regel des Völkerrechtes wird auch von italienischen Rechtslehrern nicht bestritten. Während also die regionale Autonomie Siziliens, Sardiniens und des Aostatales durch Verfassungsänderung als rein innerstaatlicher Vorgang aufgehoben werden kann, ist dies im Falle Südtirol nicht möglich.

Würde der Bruch der beiden genannten Verträge zugelassen werden, so wäre der endgültige Verlust Südtirols unvermeidlich. Eine Mißachtung der Verträge würde schließlich zu der gleichen allgemeinen Rechtsunsicherheit führen, die eine der Ursachen für den zweiten Weltkrieg war, Es ist ein tragischer Konnex, daß der Verlust der österreichischen Selbständigkeit vor diesem letzten Kriege im Hochland von Aethiopien begann. Heute hat es den Anschein, daß das Volkstum der Südtiroler in der libyschen Wüste verkauft wurde. Eine solche Entwicklung zu verhindern, liegt im Interesse aller beteiligten Länder, aber auch der ganzen europäischen Gemeinschaft.

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