6732015-1966_02_01.jpg
Digital In Arbeit

Politik des Don Quichotte

Werbung
Werbung
Werbung

In ein und demselben Zeitungsbericht stand kürzlich zu lesen, die USA hätten in Westeuropa 5000 Atombomben gelagert, die im Verlaufe des nächsten halben Jahres um 1000 weitere vermehrt werden sollten, und es sei den USA „mit Rücksicht auf die Empfindlichkeit Moskaus in dieser Frage und auf das relativ gute Einvernehmen, das zur Zeit zwischen Moskau und Washington besteht”, peinlich, daß diese Tatsache durch eine Indiskretion an die große Glocke gehängt worden sei.

Man muß diesen Satz zweimal lesen, um den ganzen politischen Irrsinn, der sich darin manifestiert, als solchen voll zu verstehen. Wir wollen vorerst nicht untersuchen, ob es im Interesse des berühmten „Gleichgewichts des Schreckens” tatsächlich notwendig ist, 5000 Atombomben in Europa abschußbereit zu halten. Aber wenn das Verhältnis zwischen Washington und Moskau heute tatsächlich relativ gut ist und wenn den USA tatsächlich daran liegt, dieses Verhältnis nicht zu stören und die Sowjets nicht unnötig zu verärgern — warum in aller Welt muß man dann 1000 weitere Atombomben nach Europa schicken? Gegen China können diese „europäischen” Bomben nicht gerichtet sein; ihr einziger potentieller Bestimmungsort ist die Sowjetunion. Seit wann aber versucht man, ein relativ gutes Einvernehmen mit einem anderen Land zu erhalten, indem man ihm 1000 Atombomben vor die Nase setzt?

Doch der ganze Widersinn einer solchen „Politik” ergibt sich erst aus der Überlegung, daß die bereits in Europa gelagerten 5000 Atombomben, rechnet man die in den USA selbst stationierten interkontinentalen Atomraketen hinzu, nach den Berechnungen amerikanischer Experten schon ein gewaltiges „Übersoll” darstellen, da die amerikanische Atommacht längst genügt, um die Sowjetunion nicht nur einmal, sondern mehrmals zu zerstören. Und ganz abgesehen davon: Prominente westliche Staatsmänner und Politiker erklären seit langem offen, daß von der Sowjetunion her Europa keine Kriegsgefahr mehr droht. (Selbst Stalin, der zwar als einer der grausamsten Tyrannen in die Geschichte eingegangen ist, hütete sich nach 1945, militärisch über den Eisernen Vorhang hinauszustoßen, wohl wissend, daß er sich an Westeuropa verschlucken würde.)

Was soll also das alles? Man findet dafür nur eine einzige Erklärung: Der Westen hat sich in der Zeit des kalten Krieges so sehr daran gewöhnt, Außenpolitik und Diplomatie militärischen Erwägungen unterzuordnen und durch die Verteidigungsminister und Generäle bestimmen zu lassen, daß daraus so etwas wie ein Gewohnheitsrecht geworden ist. Es gelingt der Diplomatie nicht mehr — falls sie überhaupt noch den Willen dazu besitzt —, das den Militärs überlassene Steuer wieder an sich zu reißen. Da es aber die Pflicht der Militärs ist, ausschließlich an den Kriegsfall zu denken, tut auch die von ihnen bestimmte „Außenpolitik” weiterhin so, als ob wir noch immer im kalten Krieg lebten und als ob sich seit Stalins Tod in der Sowjetunion nichts verändert habe.

Mehr noch: die durch diese Art „Außenpolitik” angekurbelte Rüstungsindustrie scheint in der Zeit der militärischen Hochkonjunktur eigenständig geworden zu sein. Sie erscheint einem heute wie ein Roboter, der auf „kalten Krieg” und möglichen heißen Krieg eingedrillt wurde und der nun unbeirrbar weiter seinen Weg geht, ohne daß man ihn wieder unter menschliche Kontrolle bringen könnte.

Aber diesen Roboter gibt es auch ln der Sowjetunion. Moskau macht das von einer Politik des „als ob” bestimmte Wettrüsten mit, ja gibt seinen Widersachern auch neue Veranlassungen. Auch in der sowjetischen Abrüstungspolitik spürt man im entscheidenden Augenblick immer wieder die harte Hand der Militärs. Soviel Grund man in Moskau hat, über die amerikanische Vietnampolitik bestürzt und besorgt zu sein, so weiß man doch, daß diese nicht gegen die Sowjetunion gerichtet ist und kein Verantwortlicher im Westen daran denkt, einen Krieg gegen die Sowjetunion vom Zaun zu brechen. Und doch tut man allzuoft so, „als ob” der Geist Hitlers in Präsident Johnson gefahren sei, um gleichzeitig ebenfalls größten Wert auf die Erhaltung der relativ guten Beziehungen zu den USA zu legen. Wenn es nicht im letzten Augenblick doch noch gelingt, den beiden apokalyptischen Robotern in Ost und West ein Bein zu stellen, wird der nächste — mit unwahrscheinlichen Kosten verbundene — Schritt im Wettrüsten die Entwicklung jener atomaren Antirakete sein, deren unschätzbarer Vorzug darin liegt, daß man mit Hilfe einer Atombombe, die über dem eigenen Land explodiert, die auf einen zufliegende Atomrakete des Gegners vor deren Explosion zerstören kann …

Bleibt das Problem China. Hier gerät man in einen wahren Hexensabbat des „als ob”. Die USA gebärden sich einerseits noch immer so, als ob es Rotchina gar nicht gäbe, verweigern ihm die Anerkennung und treiben es so in eine weltpolitische Isolierung, die China dazu verführen könnte, sich auf explosive Weise die ihm verweigerte Anerkennung zu verschaffen. In Vietnam läuft der amerikanische’Roboter Gefahr, sogar die Kontrolle über sich selbst zu verlieren.

Nur die Chinesen selbst nehmen es in der Meisterschaft des „als ob” mit den Amerikanern auf. Sie gebärden sich so, als ob sie allein von der Weltgeschichte den Auftrag erhalten hätten, die Menschheit zu erlösen. Als ob die Amerikaner eroberungsbesoffene faschistische Gangster seien. Als ob die heutige kapitalistische Gesellschaft identisch sei mit dem von Marx gezeichneten Frühkapitalismus. Als ob die Sowjetrussen sich auf die Seite dieses Als-ob-Kapitalismus geschlagen hätten. Als ob alle Völker der sogenannten dritten Welt, der Entwicklungsländer, nichts sehnlicher wünschten als eine Revolution nach chinesischem Vorbild.

Aber auch diese dritte Welt ist von der Pest des „als ob” angesteckt. Deren Führer gebärden sich so, als ob das Heil ihrer Völker — das sie allzugern mit ihren persönlichen Privilegien verwechseln — von der Nachahmung jenes europäischen Nationalismus abhänge, der Europa beinahe zugrunde gerichtet und seine Entthronung als Weltmacht bewirkt hat. Als ob der Hunger ihrer Völker durch Militärdiktaturen zu stillen sei. Als ob ein farbiger Neofeudalismus bessere soziale Resultate erwarten ließe, als derjenige der weißen Völker sie erbracht hat. Als ob die teilweise von neokolonialistischen Motiven inspirierte Entwicklungshilfe des Westens, der Sowjetunion und Chinas nur dann ihren Zweck erfülle, wenn die farbigen Führer sie dazu benützten, ihren eigenen Völkern gegenüber eine neokolonialistische Hausmacht zu errichten.

Bleibt Europa. Von Europa wäre zu sagen, daß es so tut, als ob es Europa nicht gäbe. Für die Westeuropäer jedenfalls hat sich Europa auf Westeuropa reduziert; bestenfalls pflegt man mit den Osteuropäern Kontakte, aber politisch hat man sie abgeschrieben: Gibt es irgendeine europäische Initiative mit dem Ziel einer Wiedervereinigung Europas? Es kann sie allein schon deshalb nicht geben, weil es ja nicht einmal Westeuropa als eine — wenn auch noch so lockere — politische Einheit gibt. Die westeuropäische Einigungsbewegung — die man bezeichnenderweise, mit einem Kniefall vor dem „als ob”, eine europäische nennt — stagniert. Ein großer alter Staatsmann mit mystischen Neigungen hat den Traum von der „Grande Nation” zu neuem Leben erweckt und damit in ganz Westeuropa die bloß verdrängten, nicht wahrhaft überwundenen nationalistischen Instinkte wieder aktiviert. Als ob wir nicht alle fürchterlich gebrannte Kinder des Nationalismus wären. Als ob es unteilbare nationale Souveränität heute überhaupt noch geben kann. Als ob ein paar französische oder westdeutsche Atombömbchen die Atomgiganten in Ost und West stark beeindrucken könnten. Als ob es nicht im Gegenteil die Aufgabe Europas — Gesamteuropas — wäre, sich selbst zur atomwaffenfreien ~one zu erklären, um so den circulus vitiosus des Wettrüstens der Roboter in Ost und West zu sprengen. Als ob nicht gerade Europa, das die Schuld an beiden Weltkriegen trägt, als erstes verantwortlich wäre, den Ausbruch eines dritten — der heute ja die Folge einer Unachtsamkeit sein könnte — zu verunmöglichen.

Man wird dieser am Beginn eines neuen Jahres angestellten Schilderung der weltpolitischen Situation vorwerfen, sie sei allzu düster und übersehe das Positive. Der Vorwurf ist bis zu einem gewissen Grad berechtigt, denn es gibt glücklicherweise tatsächlich manch Positives in all den Gebieten und Räumen, von denen hier die Rede war. Ein wenig Hoffnungsschimmer zeigt sich gerade zum Jahreswechsel im Hinblick auf Vietnam. Die fast schon hektisch zu nennende, plötzliche Aktivität der Amerikaner, aber auch die Reise Scheljepins nach Hanoi lassen aufhorchen. Beginnen die USA und die UdSSR zumindest bezüglich des süd- ostasdatischen Krieges die Gefahren der sich gegenseitig aufschaukelnden Roboter, der perfektionierten Kriegsmaschinerien zu erkennen?

Eine tatsächliche Durchbrechung der Politik des „als ob” aber waren die Botschaften des Papstes, mit denen er sich direkt an die Zentren der Entscheidung wandte, an Washington und Moskau ebenso wie an Peking, Hanoi und Saigon. Diese Aktivitäten des Vatikans, Washingtons und Moskaus sind allein schon deshalb positiv, weil sie verhindern, daß der Vietnamkrieg zur Selbstverständlichkeit wird. Aber dieses Positive läuft Gefahr, durch den neurotischen Ungeist des „als ob”, der die Wirklichkeit ignoriert und sowohl sich selbst wie die anderen im Zerrbild sieht, wieder zerstört zu werden. Don Quichottes Windmühlenkampf wirkt auf eine tragische Weise lächerlich. Aber wenn die Don Quichottes unserer Zeit ihren Windmühlen mit Atomraketen drohen, hört der Spaß wohl auf.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung