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Politische Entwicklungen am Rhein

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Je weniger sich die Vierte Republik Frankreichs aus der nun schon steril werdenden Dauerkrise ihrer Formaldemokratie zu entwinden vermag, um so stärker richten sich die Blicke vor allem der kontrollierenden amerikanischen Öffentlichkeit auf das jüngste staatspolitische Wachstum in Westdeutschland. Dort werden die ersten, teils noch tastenden, teils schon festeren Schritte auf eine staatsrechtliche Union hin getan, di immerhin Teilzüge einer neugefundenen Souveränität trägt und vor allem einem Gebiet mit 46 Millionen Einwohner — mehr als Frankreich zählt — eine ausgewogene politische Lebensform geben soll. Nichts geringeres beinhaltet der zu seinen ersten Sessionen zusammengetretene „Parlamentarische Rat“ zu Bonn, der von sämtlichen elf westdeutschen Ländern, die sich auf die drei westlichen Besatzungszonen verteilen, gültig beschickt ist, wobei die Parteien ihre fähigsten Leute entsandt haben. An der Spitze steht Konrad Adenauer, der seine besten Jahre der alten, nun in Schutt gesunkenen Domstadt Köln gewidmet hatte, die er aus der engen, vom Preußentum bewußt eingeschnürten Festungsstadt zur blühenden rheinischen Metropole binnen 15 Jahren entwickelte — bis ein kleiner Bankbeamter von Gauleiters Gnaden ihn im Jahre 1933 ablöste. Vor der schmalhohen, fast stählernen Gestalt dieses rheinischen Lueger machten selbst die Angreifer halt. Man ließ ihn in Ruhe und belegte ibn lediglich mit „Gauaufenthalts- verbot“. Der heute Zweiundsiebzigjährige ist kein Figurant der Besatzungsmächte, sondern verkörpert die beste Form des vielverkannten politischen Katholizismus: gediegene Sachkenntnis, maßvollen Koalitionssinn, europäischen Unionswillen, unbeirrbare Diensttreue und schlichte Mannesgläubigkeit. Er ist wohl die stärkste politische Potenz im heutigen deutschen Westen; im Rahmen der CDU können nur noch Kaiser in Berlin und Ehart in München und — Brüning, weiland Harvard-University, genannt werden.

Brüning weilte in diesen Wochen in seiner westfälischen Heimat. Er war Hitlers letzter und bedeutendster Gegner in einer zweijährigen Kanzlerschaft vor Einbruch der Katastrophe. Unter ihm bewährte sich noch einmal die Koalition zwischen Sozialdemokratie und Zentrum als das tragende innenpolitische Gerüst der jungen deutschen Republik und damit gleichzeitig die Gewähr des europäischen Friedens. Sein Ziel war die europäische Wirtschaftsunion, die Londoner Weltwirtschaftskonferenz im Frühjahr 1933, der er die Lösung des Problems der deutschen Wirtschaftskrise (Reparationen und Arbeitslosigkeit) als organisches Teilstück subsumierte. Die Briten, nicht erst Hitler, waren es, die einen Strich durch die großartig konzipierte Rechnung einer europäischen Kooperation machten: das Empire- Abkommen von Ottawa 1932 schlug die Tür zu, während in Deutschland die braunen Bataillone rüsteten. Immerhin rettete die britische Botschaft zu Berlin am 30. Juni 1934 dem Mann das Leben, der nach einem Wort Keyes’ mehr von der englischen Wirtschaft verstehe als viele eigene Landsleute.

Tempi passati! Inzwischen sind wohl alle Beteiligten und noch Überlebenden klüger geworden. Brüning, der trotz zehn- und mehrjährigen Aufenthalts in den USA deutscher Staatsbürger geblieben ist, beobachtete das ihm von höchster Stelle auferlegte Schweigegebot und empfing nur privatim einige politische Freunde. Ein öffentliches Auftreten hätte dem staatspolitischen Auftrieb im deutschen Westen wohl noch mehr internationales Gewicht gegeben, als es die Rücksichtnahme auf die Empfindlichkeit Moskaus gegenwärtig für ratsam erscheinen ließ.

Immerhin betonte Adenauer bei Übernahme der Präsidentschaft des Parlamentarischen Rats als der Körperschaft, die die Verfassung oder (weniger vorgreifend ausgedrückt) das „Grundgesetz“ vorbereitet,

daß er die ihm gestellte Aufgabe durchführen werde.

Man hat nicht den Ehrgeiz, im Jubiläumsjahr 1948 fertig zu werden. Es wird wohl bis zum Frühjahr dauern, woran sich allgemeine Wahlen in den einzelnen Bundesländern anschließen. Das Volk selbst wird über das Grundgesetz entscheiden. Jedenfalls wollen sich die Deutschen an dieses gemessene Zeitmaß halten. Denn die künftige deutsche Bundesverfassung soll ein gewachsenes Gebilde werden und sowohl den Beitritt der ostdeutschen Länder ermöglichen, wie vor allem ein geeignetes Instrument für eine allgemeine europäische Union bieten. Ein gewisses Tempo rührt von den Besatzungsmächten her. Diese hatten sich und dem deutschen Chaos reichlich Zeit gelassen, bis es dann endlich zu den Londoner Empfehlungen kam. Eine von ihnen ist durchgeführt: die Währungsreform; nun ist die zweite dran: die verfassungsgebende Versammlung. Aber zum Debüt stehen noch: territoriale Neuumgrenzung der Länder, Aufstellung einer Bundesregierung, Sicherung der alliierten Minimalforderungen und ein endgültiges Verteilungsstatut für die Hauptprodukte des Ruhrgebiets.

Ein bißchen viel „Gründereifer“ auf einmal. Dazu kommt die Frage, was mit dem mißglückten Mischgebilde des Verwaltungsrats in Frankfurt geschehen soll. Dieses quasi- Wirtschaftsministerium, das neben der mehr kolonial aufgezogenen JEIA vorerst die wirtschaftliche Planungsbehörde ist, müßte seine Kompetenzen delegieren oder besser noch föderativ aufteilen. — Auf die JEIA schimpft man übrigens von der Scheldemündung bis zum Gotthardpaß. — Vor allem meint man in Deutschland, daß man den neuen staatspolitischen Werdeformen etwas Zeit lassen und diese sich nicht so rasch verschleißen lassen soll wie die bisherigen, die der jungen Demokratie in einem politisch entwöhnten und wirtschaftlich zerrütteten Volk kein Ansehen einbrachten. Auch sollte man künftig nicht so viel Sprünge machen. Warum hat man beispielsweise den U S- Zonen-Länderrat nicht durch eine parallele Entwicklung in der britischen und französischen Zone fortgebildet? Statt dessen trat eine einjährige Pause ein, und man kreierte zwischenzeitlich den eben erwähnten und heute schon zu einem unrühmlichen Ende verurteilten Wirtschaftsrat. Hinzu kommen die außerordentlichen wirtschaftspolitischen, wie psychologischen Belastungsproben, denen der demokratisch embryonale Zustand im deutschen Westen und Süden noch ausgesetzt ist: der Lastenausgleich, wie die Vermögensabgabe dort genannt wird, der Verwaltungsabbau, an den kein Nachkriegsregime an Themse, Seine, Rhein und Donau bislang heranzugehen wagt, und endlich die Öffnung der faktisch bestehenden Außenhandelssperre. Schließlich muß die kommende deutsche Föderation, zumal wenn sie Vorläufer einer europäischen Bundeseinheit werden soll, über ein Nationaleinkommen verfügen. Die Zwangsverteilung der Ruhrkohle oder die Abholzung der restlichen deutschen Wälder bieten kein solches. Das alles sind Fragen, die der „G. m. b. H. der Staatengründer" (Kogon) wohl noch einiges Kopfzerbrechen machen muß. Oder was wird mit den Besatzungskosten? Das Land Rheinland-Pfalz beispielsweise mit 2,8 Millionen Einwohner hatte 900 Millionen RM Einnahmen und 650 Millionen RM Ausgaben im Jahre 1947. Also ein Überschuß! Nein, ein Defizit von 150 Millionen RM, weil noch 400 Millionen RM Besatzungskosten hinzukamen…

Überhaupt schwankt die ganze Besatzungsherrschaft — einmal abgesehen von der hohen, in Moskau auszuhandelnden Politik — zwischen der Skylla der Morgenthau- Maximen, die freilich durch jüngste Spionageaffären in etwas peinlichem Licht erscheinen, und der Charybdis des Europa hilfsprogramms. Der Manager des ERP, Mr. Hoffmann, ist ein sehr mächtiger Mann auf unserem alten Kontinent geworden und hat für die Austragung überlebter Rivalitäten wenig Sinn. Er drückt auf die Tube, und plötzlich stocken die Demontagen. Diese sind überhaupt eine etwas mißtönige Begleitmusik für das nun so eilfertige alliierte Bemühen, Westdeutschland wieder aufzuhelfen. Auch ist die vorwiegend negative Note der Aktion zu offensichtlich. Die meisten der kostbaren Maschinen kommen ja doch nicht mehr zu einer ordentlichen Funktion. Sie stehen irgendwo herum. Noch weniger dient ihre Abmontierung der „moralischen Umerziehung“, höchstens treiben sie einen neuen Radikalismus hoch. Beispiel: Eine pharmazeutische Firma von Weltruf im BJhein-Main-Gebiet erhielt in diesen Tagen den Demontagebefehl. Die Gewerkschaften erhoben Vorstellungen. An die 800 Facharbeiter werden brotlos. Vergeblich. Da telegraphiert der Leiter der US Civilian Medical Section aus Berlin: Volksgesundheit von Millionen durch Demontage ernstlich gefährdet! Stop. Herz- und Kreislaufmittel der Firma lebenswichtig und unentbehrlich. — Wiederum vergeblich. Die Heidelberger Poliklinik protestiert und wird dabei recht deutlich: Wegnahme dieser Herzmittel bedeutet Lebensverkürzung für viele Menschen; kaum Unterschied zu verwandten Methoden des Dritten Reichs (Vetri- tol und Analeptica Cardiazol auf ihrem Indikationsgebiet unersetzlich; außerdem Codein und Theoprimin, sodann 1 Ephedrin, einzigartig gegen Staublungenkrankheit der Bergleute). Auch dies vergeblich. Befehl bleibt aufrecht. Außerdem sind Räumlichkeiten für den Demontagestab herzurichten, ferner Vaseline zum Einfetten und Ölpapier zum Verpacken der Maschinen beizustellen! Endlich greift Mr. Hoffmann ein. Nun wird es ruhiger. Und in Paris meint man, einige Millionen stünden nicht dafür, um den klaglosen Zustrom von mehreren Milliarden zu gefährden. — Nur die Briten sind noch zäher; sie scheinen auch hinter der Demontage der Uhrenfabriken im französisch besetzten Schwarzwald zu stehen. — Genug der Mißtöne! Man ringe sich ehrlich aus dem verfahrenen Dilemma heraus, wo die eine Hand wieder wegnimmt, was die andere hergibt. Überdies: Man kann nicht unbesehen auf die Karte setzen, daß die Deutschen unter allen Umständen der radikalen Verlockung aus dem Osten widerstehen werden.

Nicht zuletzt muß eine weise Rücksicht darauf genommen werden, daß bei der werdenden deutschen Verfassung eine tiefgehende geistige Entscheidung auszutragen ist: echte Föderation oder Rückfall in den Zentralismus demokratischer Prägung. Das Ringen hat begonnen, wenn auch in geschmeidiger Form. SPD und CDU stehen sich mit je 27 Sitzen im Parlamentarischen Rat gegenüber. Die Sozialdemokraten kommen von den unitaristischen Zügen, die der Weimarer Republik als ihrem Staat noch mehr als dem konservativen Bismarckschen Bundesstaat anhafteten, nicht so leicht los, zumal die Gewerkschaften beider Richtungen horizontal denken. Demgegenüber verficht die Christlich-Demokratische Union das vertikale Bild, wie es auch der Schweizer Verfassung gegeben ist: durchgängige Selbstverwaltung nicht bloß bei den Gemeinden, sondern auch bei den Ländern;

Delegierung der gemeinsamen Angelegenheiten von den Ländern auf den Bund.

Das sind keine professoralen Deduktionen. In Weimar hatte man viel zu sehr den staatsrechtlichen Doktrinen das Feld überlassen. Nun gilt es, noch einmal einen Staatsbau aufzurichten. Diesmal muß er halten. Es geht um viel mehr als um Deutschland.

In den „Frankfurter Heften“ (III 7) hieß e mit Recht: „Die Heimat Europa, mit unseren nationalen Kirchtürmen darin, in der wir gesichert leben können, jeder auf seine Weise, die Welt in Zukunft mit unseren Waren und unseren Büchern beglük- kend, nicht mehr mit unseren Eroberungszügen, diese Heimat hat angefangen, sich zu formieren. Sie ist noch nicht da, wahrlich nicht, aber wir sind ihr näher als seit Jahrhunderten. Entweder gelingt es uns jetzt, sie zu erreichen, in diesen Jahren der Hilfe und der Gefahr —, oder nicht mehr.“

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