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Politische Urteile

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• Juli 1927 in Wien: Im Landesgericht für Strafsachen stehen drei Männer vor einem Geschwornen-gericht. Sie werden beschuldigt, im burgenländischen Ort Schattendorf zwei Menschen getötet zu haben. Nicht des Mordes, nur der „öffentlichen Gewalttätigkeit“ sind sie angeklagt, die Staatsanwaltschaft behauptet keine Tötungsabsicht. Man rechnet allgemein mit einem Schuldspruch — doch die Geschwornen fällen mit einer Mehrheit von neun zu drei einen Freispruch. Am Tag nach der Urteilsverkündung, am 15. Juli, zieht eine über die „Klassenjustiz“ empörte Menge über den Ring, erstürmt den Justizpalast und zündet ihn an. Die Polizei geht gegen die Demonstranten vor und macht von der Schußwaffe Gebrauch. Drei Stunden wird geschossen, auch am folgenden Tag gibt es Unruhen, insgesamt sind 86 Todesopfer zu beklagen. Diejenigen der Demonstranten, denen die Hauptschuld an den Gewalttätigkeiten und der Brandstiftung gegeben wird, kommen vor ein Geschwornengericht. Sie sind in der Tatfrage geständig — und werden freigesprochen. Nicht sehr konsequent sprach die sozialdemokratische Presse von der „wahren Volkesstimme“, die diesmal entschieden habe.

• 13. September 1931: In Graz, Leoben, Kapfenberg, Bruck und anderen Städten der Steiermark besetzen schwerbewaffnete Formationen der Heimwehr, zu diesem Zeitpunkt bereits sehr stark, strategisch wichtige Plätze, politische Gegner werden verhaftet, der steirische Heimwehrführer Walter Pfriemer erklärt: „In höchster Not hat mich das heimat-treue Volk Österreichs zum obersten Hüter seiner Rechte berufen.“ Als dann der sehr zögernde Anmarsch des Bundesheeres den spukhaften Putsch zum Verschwinden bringt, zählt man bereits mehrere Todesopfer. Pfriemer kommt als des Hochverrats Angeklagter vor ein Geschwornengeriaht. Sowohl Tatais auch Rechtsfrage erscheinen völlig geklärt, dennoch sprechen die Geschworenen Pfriemer einstimmig frei. Besonders grotesk ist der Umstand, daß Pfriemer als „Staatsführer“ in seinem „Verfassüngspatent“ ausdrücklich die Geschwornengerichte für abgeschafft erklärt hat, und nun verdankt er den Freispruch, den Berufsrichter nur schwer hätten fällen können, der anscheinend grundsätzlichen Einstellung der Geschwornen, bei Delikten mit politischem Hintergrund unbelastet von Recht und Tatsachen freizusprechen.

• Diese Haltung österreichischer Ge-schworner läßt sich auch in der Zweiten Republik feststellen. Wenig beeinflußt von Recht und Tatsachen haben im Oktober 1965 die Geschwornen beim Sprengstoffprozeß in Graz alle Angeklagten freigesprochen. Nicht das Strafrecht, sondern Andreas Hofer und Zypern wurden von der Verteidigung als Argumente benutzt. Erzherzog Johann war aber dem Durchschnittssteirer, der auf der Geschwornenbank saß, ein viel deutlicherer Begriff und daher ein viel besseres Argument als das Sprengstoffgesetz. Man darf jedenfalls mit Interesse dem zweiten Prozeß gegen die Angeklagten entgegensehen, deren Freispruch vom Schwurgerichtshof wegen offensichtlichen Irrtums in der Hauptsache ausgesetzt wurde. Werden die Geschwornen des zweiten Gerichtes Richter sein, oder werden sie wie ihre Vorgänger meinen, was Recht ist, bestimme nicht der vom Volk bestellte Gesetzgeber, sondern ein „gesundes Volksempfinden“?

Als 1945 der Art. 91 B-VG wieder in Geltung trat, begann die Diskussion, in welcher Form die Geschwor-nengerichte wiedererstehen sollten. Angesehene Juristen meldeten prinzipielle Bedenken gegen das System der Geschwornengerichte an und sprachen sich für das System der Schöffengerichte aus — gemeinsame Beratung und Entscheidung von Berufs- und Laienrichtern2. Man solle sich nicht davon leiten lassen, daß der Nationalsozialismus ein erklärter Gegner der Geschwornengerichte gewesen sei, und nun als Reaktion auf die Gewaltherrschaft die grundsätzlichen Mängel des Geschwornensystems übersehen. 1950 beschloß jedoch der Nationalrat das Geschwornengerichtsgesetz ( 297 bis 351 StPO), das mit 1. Jänner 1951 das Provisorium, das von 1945 bis 1950 geherrscht hatte (Schöffengerichte auch in Geschwor-nensachen), beendete. Den Kritiken am Geschwornensystem wurde nur insoweit Rechnung getragen, als der Vorsitzende des Schwurgerichtshofes Rechtsbelehrung im Beratungszimmer erteilt und die Berufsrichter die Strafzumessung nicht mehr allein, sondern gemeinsam mit den Laienrichtern vornehmen3.

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