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Pompidou in Moskau

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Während der Herrschaft de Gaulies gehörte die sogenannte „Reisepolitik“ zu einem integrierenden Bestandteil der französischen Diplomatie. Aul dem Höhepunkt der Maikrise von 1968 zog es der damalige Staatschef vor, Bukarest zu besuchen und ließ sich von den rumänischen Studenten feiern, während seine jugendlichen Landsleute von der extremen Linken im Studentenviertel „Quartier Latin“ Barrikaden errichteten, Feuer entzündeten und sich an den „Roten Freitagen“ des historischen Monats wie Wilde benahmen. Einige Knalleffekte bleiben ebenfalls in Erinnerung, wie etwa die klassisch gewordene Rede von Pnomh Penh. General de Gaulle forderte damals den bedingungslosen Abzug der US-Streitkräfte aus Vietnam. Sein Ruf „Es lebe das freie Quebec“ klingt noch in den Ohren und erhielt neuerdings Aktualität. Im Jahre 1966 wurde der General in der Sowjetunion empfangen und bezeichnete diese Visite als ein einmaliges Ereignis der neuesten Geschichte. Weltpolitische Visionen erfüllten ihn, der seinen Staat vorübergehend in die Klassenordnung der Supermächte gerückt hatte.

Sein Nachfolger Pompidou Ist um vieles diskreter und pflegt eine Außenpolitik, die darauf abzielt, Frankreich eine achtbare Stellung In der Welt zu sichern, aber die höhergespannten Ansprüche seines Meisters negiert. Manchmal gewinnt man den Eindruck, als hätte die Politik des Quai d'Orsay jenen oft irritierenden Dynamismus verloren, der bis Anfang 1970 Bewunderer zu einer noch größeren Bewunderung zwang und Kritikern eine mächtige Zielscheibe bot. Das nachgaullistische Regime vertraut viel eher auf handfeste Argumente und legt die Akzente auf wirtschaftspolitische Zusammenarbeit, wobei ein echter Wille kultiviert wird, an internationalen Brandherden besänftigend einzuwirken, um humanitären Gesichtspunkten eine verstärkte Gültigkeit zu verschaffen.

Wenn also Staatschef Pompidou vom 6. Oktober an, wie immer begleitet von seiner Gattin (die Garderobe von Madame Pompidou machte den zuzuständigen Protokollchefs ebensolche Sorgen wie die Begegnung mit dem technologischen Sektor der Sowjetunion, die ins Programm Präsident Pompidous eingebaut wurde) Moskau und das Eldorado der siebziger Jahre, Sibirien, bereiste, ließen sich aus diesem Staatsbesuch verbesserte Stoßrichtungen der französischen Diplomatie ablesen. Dem gegenwärtigen Regime ist es gelungen, die von de Gaulle gehegten Vorbehalte gegenüber den USA abzubauen und eine freundschaftliche Atmosphäre zur ersten Weltmacht herzustellen. Allerdings wurde diese Zusammenarbeit durch die kürzliche Europareise Nixons getrübt. Der US-Präsident hofierte wohl Tito und Franco, aber desavouierte durch die Außerachtlassung von Paris die neue Mittehheerpolltik dieses Landes. Paris glaubt, das gaullistische Erbe in zwei -Richtungen weiterentwickeln zu können: in Form einer verbesserten Stellung im Mittelmeer und einer beherrschenden Position im westlichen Europa, wobei die Freundschaft mit Moskau den Eckpfeiler dieser pragmatischen Europa-Politik darstellen soll. Frankreich unternahm beachtliche Anstrengunggen, um Franco-Spariien politisch, wirtschaftlich und militärisch an sich zu binden und die gemeinsamen Interessen gegenüber der arabischen Welt zu bestätigen. Nach wie vor sieht Frankreich in seinen früheren nordafrikanischen Besitzungen eine privilegierte Domäne und unterstreicht die Solidarität zu den Maghreb-Ländern. Mit Libyen wurde ein Flirt eröffnet — siehe die Lieferung von 110 Mirage-Flugzeugen gegen teilweise Vorbehalte der eigenen öffentlichen Meinung. Mit Algerien sollte ein Modellfall kultureller und wirtschaftlicher Interessengleichheit geschaffen werden. Die libysche Rechnung ist aber nicht aufgegangen und die Algerier fanden ein vorzügliches Mittel, die französischen Unterhändler unter Druck zu setzen, indem sie einseitig im Frühsommer die europäischen Erdölfirmen mit gewaltigen Steuern belasteten. Betrachtet, man objektiv die bisherige Bilanz der Politik „Trikolore im Mittelmeer“, so erkennt selbst der Laie, wie sehr diese Nahtstelle zwischen Westen, Osten und Afrika zum Spielball weltpolitischer Auseinandersetzungen der beiden Supermächte heranreifte, während die europäischen Staaten einschließlich Frankreichs an Bedeutung einbüßten.

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