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Prag, die swiefadte Stadt

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DAS ANTLITZ DIESER STADT wurde geformt durch das Schicksal, das sie zwischen zwei Hügeln entstehen ließ. Denn jeder dieser Hügel drückt symbolhaft Gesetz und Macht aus, mit denen versucht wurde, diese Stadt zu beherrschen und durch diese Stadt das Land, dessen Herz sie ist.

Zwei Hügeln: der eine im Westen der Stadt, der andere im Osten. Der Hügel im Westen: der Hradschin. Mit dem Dom zu St. Veit, der kaiserlichen Burg darum, den Klöstern, den Kirchen, den Palästen, den Bürgerhäusern. Eine ungeheure Vielfalt, von den Stilarten angefangen, ein ungeheurer Individualismus. Und dennoch der ganze Hügel eine geschlossene Einheit, ein Orchester mit vielen Instrumenten, die aufeinander abgetönt sind.

Und der andere Hügel. Im Osten. Gerade gegenüber dem Hradschin: der Zizka-Berg. Ebensolang fast wie der Hradschin. Unbebaut. Auf der Spitze nur ein riesiges, langgestrecktes Gebäude. Das „Befreiungsdenkmal“. Ein Kasten. Ohne Fenster. Uberdimensionierte Technik. Kollektiv ohne Individualismus. Ohne Fehler. Aber auch ohne Gnade.

Zwischen diesen beiden Hügeln liegt Prag. Besser gesagt: zwischen diesen beiden Hügeln mit den riesigen Grabmonumenten. Denn der Dom von St. Veit birgt das Grab Karls IV., dieses Pan-europäers, und dieser Kasten auf dem Zizka-Berg sollte die Leiche Masaryks aufnehmen. Jenes Masaryk, dessen Tat — die Zertrümmerung der alten Monarchie — der Anfang der Ablösung seines Landes aus der westlichen Welt war. Während Karl IV. dieses Land endgültig in das Abendland eingegliedert zu haben schien.

Zwischen diesen beiden Hügeln mit den riesigen Grabmonumenten liegt Prag. Noch besser gesagt: zwischen diesen beiden Schlachtfeldern. Denn der Hradschin ist nur der Ausläufer des Weißen Berges, an dem am 8. November 1620 die kaiserliche Armee über die böhmischen Rebellen siegte. An jenem Sonntag, dessen Evangelium lautete: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist. Eine Formel, die in dem Bild des Domes von St. Veit, der von der Burg umschlossen ist, ihre steinerne Form erhielt. Und am Zizka-Berg vernichtete am 22. Juli 1422 der hussitische Heerführer Zizka das große, aus der ganzen Ritterschaft des Abendlandes bestehende Kreuzfahrerheer.

Zwei Schlachtfelder: auf dem einen schloß sie sich gegen das Abendland ab, auf dem anderen wurde sie ihm wieder eingegliedert. Es ist die Tragik dieser Stadt, daß sie eine Grenzstadt ist, um die ewig gerungen wird. Wer von Osten kommt, wird sie als die erste ganz westliche Stadt finden. Wer von Westen kommt, wird sie als die erste östliche Stadt empfinden. West und Osten — beiden werden sie für sich reklamieren. Und um sie kämpfen. Deshalb muß sie zwischen zwei Schlachtfeldern liegen. Und der Spruch der großen Theresia „Schlaft nicht, schlaft nicht, es gibt keinen Frieden“, steht unsichtbar über ihr. •

DIE TRAGIK DIESER STADT ist es, daß sie eine Grenzstadt ist. Eine seltsame Grenzstadt: die nicht diesseits oder jenseits der Grenze liegt, sondern eine Stadt, durch die die Grenze mitten hindurchgeht. So wie die Moldau durch die Stadt zwischen den beiden Hügeln hindurchfließt. Sie steht immer in beiden Lagern, hüben und drüben. Das aber heißt, daß sie immer ein zwiefaches Antlitz trug und trägt. Sie war offiziell deutsch und inoffiziell tschechisch. Sie war offiziell tschechisch und inoffiziell hatte sie in sich eine deutsche Stadt: mit eigenen Schulen, Universitäten, Kinos, Theaters, Restaurants, Kaffeehäusern, Zeitungen usw. Sie war offiziell österreichisch und inoffiziell antiösterreichisch. Sie war offiziell katholisch und inoffiziell antichristlich. Sie ist heute offiziell dem Osten verhaftet und hängt inoffiziell mit allen Fasern am Westen.

Es ist ihre Tragik, ewig eine zwiefache Stadt zu sein. Es könnte ihre Größe sein. Sie hätte deutsch und tschechisch sein können, sie hätte böhmisch innerhalb der österreichischen Monarchie sein können. Sie könnte christlich sein mit einem tiefen Wissen um die Uberwindung des AntiChristentums. Sie könnte die große Mittlerin zwischen Westen und Osten sein. Sie könnte, sie könnte ... es könnte ihre Größe sein. Sie wird es nie sein. Ihre Tragik.

DIE FARBEN DIESER STADT sind rot und gold. Es sind die alten Farben Spaniens. Und tatsächlich: es besteht eine tiefe Verwandtschaft zwischen Spanien und dieser Stadt. Schon äußerlich: wer je vom Laurenziberg gegen den Hradschin blickte, dem wird die Verwandtschaft mit dem Escorial aufgefallen sein und der wird begreifen, warum der ganz vom spanischen Geist erfüllte Rudolf II. nur hier sich heimisch fühlte. Und wer je an einem heißen Sommertag vom Weißen Berg westlich in die von Sonnenglast erfüllte Ebene sah, der fühlte sich in die Hochebenen Spaniens versetzt. Aber die Verwandtschaft ist nicht nur eine äußerliche, sondern auch eine innerliche: in dem Hinneigen zum Nihilismus, zum Extrem, in der Bereitschaft zur letzten Konsequenz, die immer wieder das Leben dieser Stadt durchpulsen.

Rot und Gold. Es sind nicht nur die Farben Spaniens. Sondern auch die Farben von Byzanz. Byzanz aber, das ist der Osten. Und tatsächlich: es besteht eine tiefe Verwandtschaft zwischen dem Osten und dieser Stadt. Schon äußerlich: Wer je vom Zizka-Berg an einem nebeligen Tag östlich blickte, der glaubte die endlose Weite Rußlands vor sich zu haben. Aber auch diese Verwandtschaft ist nicht nur eine äußerliche, sondern auch eine innerliche: der Nihilismus des Ostens, seine Lethargie, seine Schwermut, seine oft mystische Glaubenskraft, all dies durchpulst immer wieder das Leben dieser Stadt..

Rot und Gold. Es sind nicht nur die alten Farben Spaniens und Byzanz', sondern auch die alten Farben Roms. Und tatsächlich: es besteht auch eine tiefe Verwandtschaft zwischen Rom und dieser Stadt. Schon äußerlich: diese Riesenpaläste — Waldstein-Palais, Czernin-Palais, diese Paläste der Lobkowitz, Thun, Schwarzenberg — und diese Kirchen, wie St. Niklas, St. Ignatius, sie alle atmen schon römisches Format, wie man es kaum in Wien und kaum in Salzburg trifft. Aber auch diese Verwandtschaft ist nicht nur eine äußerliche, sondern vor allem auch eine innerliche: sie besteht in der Sehnsucht, nach der Geborgenheit in Rom. In der Sehnsucht nach dem alten Österreich, das doch die letzte politische Form des alten römischen Reiches war. In der Sehnsucht, 6ei es mit dem westlichen oder mit dem östlichen Ritus der Kirche Roms eingegliedert zu sein. Selbst heute, im ärgsten Kampf gegen Rom, da soundso viele Geistliche wankend geworden sind, wird auch noch von den abtrünnigen Klerikern die „oratio pro papa“, das Gebet für den Papst, gesprochen.

DIE FARBEN DIESER STADT sind rot und gold. Es sind die Farben Spaniens, die Farben Byzanz' und die Farben Roms, Und so wie diese Farben ist diese Stadt.: Sie gehört Spanien und damit dem Westen, sie gehört Byzanz und damit dem Osten, sie gehört Rom und damit der Welt. Sie ist überall zu Hause. Die Menschen dieser Stadt sind überall zu Hause: als Rilke, dieser Urprager, nach Rußland kommt, gerät er in Ekstase. Hier sei seine Heimat, bekennt er. Und als er in Paris lebt, äußert er sich, dies sei das Beste, was von seinem Leben zu berichten wäre. Und in Wirklichkeit ist er überall daheim. Nach Rilke könnte man Dutzende anderer Beispiele anführen: wie Masaryk, wie Werfel, wie Kafka.

Vor allem: nicht nur die Menschen dieser Stadt sind überall zu Hause, sondern diese Stadt ist eine ständige Retorte, die immer kocht, jederzeit bereit, alle Ideen und alle Systeme, die irgendwo in der Welt auftauchen, für sich zu reklamieren. Diese Stadt, und mit ihr das Land, schlössen sich vor 1000 Jahren dem Westen an, so gründlich, daß für viele Völker des Ostens die Tschechen gar nicht mehr als Slawen gelten. Lange vor Luther hatte diese Stadt und das Land schon seine Reformation. Luthers Lehre wurde ebenso begeistert aufgenommen wie die Ideen des christlichen Humanismus. Der Feudalismus wurde bis zum Extrem durchgeführt. Der Josephinismus war in den übrigen Ländern der österreichischen Monarchie schon längst tot, als er hier noch lebendig war. Kaum eine Stadt des alten Österreich trank die Ideen des modernen Nationalismus so gierig in sich hinein wie diese Stadt. Kaum eine Stadt Mitteleuropas glaubte so bis ans letzte an die Lehren der angelsächsischen Demokratie wie diese. Kaum eine andere Stadt Europas trägt so die Bereitschaft zur Amerikanisierung in sich wie diese. Kaum in einem Land Mitteleuropas, dessen Herz doch diese Stadt ist, wurden die.Lehren des Nationalsozialismus mit einem derart jauchzenden Enthusiasmus aufgenommen, wie von den deutschen Kindern dieses Landes. Keine Stadt Mitteleuropas hat sich heute so weitgehend freiwillig dem Osten zugewandt wie diese. Diese Stadt ist überall zu Hause mit der Gefahr, nirgends zu

Hause zu sein. Eine ungeheure Belastung.

DAS BERÜHMTE WORT RILKES: „Was heißt siegen, überstehen ist alles“, ist die Lebensmaxime dieser Stadt und des Landes, dessen Herz sie ist. Begreiflich. Diese Stadt ist überall zu Hause. Diese Retorte nahm alles auf, nicht als Experiment, sondern — im Sinne Spaniens — endgültig. Und bis zum Extrem. Das heißt bis zum Zwang, bis zum blutigsten Zwang. Wer sich diesem Zwang nicht beugen wollte, dem blieb nur eines übrig: vertrieben zu werden. Diese Stadt, und dieses Land, sie sind die klassische Stätte der Vertriebenen. Unsere Generation hat eine solche schauerliche Vertreibung miterlebt. Millionen und aber Millionen, Deutsche, aber auch Tschechen und Juden, alles Kinder dieser Stadt und dieses Landes, wurden über die Grenzen gejagt, weil sie unfähig schienen, ein Experiment mitzumachen.

Unsere Generation ist entsetzt darüber, mit Recht. Aber im letzten Jahrtausend sind ein halbes Dutzend solcher Massenaustreibungen vorgekommen. Wer aber nicht vertrieben werden will, wer bleiben will, ohne der Gefahr des Märtyrertunis zu verfallen, wer vielleicht bleiben muß, dem blieb immer nur eines übrig: undurchdringlich zu werden. Faseade zu sein, durch die niemand mehr blickt, zu lächeln, ein nichtssagendes, unverbindliches Lächeln. So zu schweigen, daß alles zuschanden wird. In einen toten Winkel ich zurückziehen, den keine Geschosse mehr treffen. Nicht 6iegen, aber überstehen. Ewige Politik dieser Stadt, geheime Politik dieser Stadt, mit der sie alle Regime überdauerte, alle Ängste überdauerte, alle Gefahren überdauerte. Mag es sich um Hitler handeln, die Schweden, die Hussiten. Was heißt siegen, überstehen ist alles.“

WAS HEISST SIEGEN, ÜBERSTEHEN IST ALLES. Dieses berühmte Wort Rilkes gilt nicht für die Christen dieses Landes. Denn nie sind sie die Sieger, und nie überstehen sie. Im Gegenteil, wer als Christ in diesem Land lebt, bis zur letzten Konsequenz zu leben versucht, durch sein Leben Zeugnis zu geben versucht für Christus, der muß den Sinn des griechischen Wortes Zeuge verwirklichen: Märtyrer zu sein.

Diese Stadt ist das klassische Land der Märtyrer in Mitteleuropa. Alle Heiligen, die hier begraben sind, waren in irgeni-einer Form Märtyrer. Alle Kirchen dieser Stadt wurden einmal verbrannt oder sonstwie zerstört. Alle Christen dieses Landes machen ein Märtyrertum durch. Entweder ein äußeres blutiges, oder ein inneres unblutiges, das vielleicht noch schwerer ist als das blutige. Denn es ist furchtbar zu sehen, wie eine Stadt, die in klassischer Form den Frieden zwischen den Völkern hätte verwirklichen können, nur immer Haß gebar. Es ist furchtbar zu sehen, daß Christen selbst oft Hasser anderer wurden, nur weil sie einem anderen Volk angehören. Es ist gräßlich, sich zu erinnern, daß viel Zwang im Namen Christi ausgeübt wurde, nicht durch die Kirche, sondern durch den Staat. Es ist schrecklich zu erkennen, daß ein Land durch ein Jahrtausend sich dem Chnsten-verschloß, obwohl es sich doch sonst allem aufschloß. In dieser Stadt wird immer wieder das Wort des Dänen Sören Kierkegaard wahr, daß die Sieger im Unendliehen immer wieder die Verlierer im Endlichen seien.

Das Christentum dieser Stadt'hat eine eigene Note; richtiger gesagt, die Christen. Das Bewußtsein, das Märtyrertum auf sich nehmen zu müssen, zu den Verlierern dieser Welt zu gehören, bringt es leicht mit sich, daß Verzagtheit und Schwermut in das Leben der Christen tritt und die Freude des Christentums manchmal nur versteckt aus ihnen leuchtet. Denn es ist nicht leicht, wie der spanische Don Quichote immer wieder gegen Windmühlenflügel anrennen zu müssen oder wie der russische „Idiot“ durch die Welt zu wandeln. Dann aber, wenn die Verzagtheit am größten ist, dann wird das Wort des römischen Petrus immer wieder Mut und Hoffnung geben, das Wort „Wohin sollen wir denn gehen? Denn nur DU hast die Worte des ewigen Lebens.“

AUF DER BERÜHMTEN BRÜCKE, die nach ihrem Erbauer die Karlsbrücke heißt, die über jenen Fluß führt, der wie eine Grenze zwischen den beiden Hügeln fließt, steht das Standbild des heiligen Johannes von Nepomuk. Am 20. März 1393, also am Ausgang des humanistischen 14, Jahrhunderts, wurde dieser Mann, Generalvikar von Prag, auf Befehl König Wenzels, des kleinen Sohnes des großen Karl, von den Häschern ergriffen. Der König selbst soll ihn mit Fackeln gebrannt haben, dann ließ er ihn durch seine Schinderknechte in der finsteren Nacht zum Fluß schleppen. Zur Brücke. Derbe Fäuste warfen den Gequälten in den Fluß. Die Wellen spülten den Leichnam nächsten Tag an Land. Mitleidige Seelen begruben ihn. Als man Jahrhunderte später sein Grab öffnete, fand man nur mehr ein paar Knochen. Und etwas Staub. Und den Totenschädel. Und im Schädel, völlig unversehrt, die Zunge, jene Zunge, die nicht reden wollte und an deren Schweigen die Gewalt der Welt zuschanden geworden war. Die aber seither ununterbrochen redet. Von dem Geheimnis dieses Mannes und seines Standbildes auf der Brücke.

Diese Statue besitzt ein Geheimnis. Dieses ist, dtß sie nicht das Antlitz des Heiligen zeigt, von dem nie ein Bild überliefert wurde, sondern das Antlitz des — Hus, so wie es in der Erinnerung des Volkes lebt. Wieso und weshalb dies geschah, man weiß es nicht. Späte geheime Rache sagen die einen, Versuch der Katholiken, die Erinnerung an den Märtyrer Hus durch die Erinnerung an den Märtyrer Johannes von Nepomuk auszulöschen, die anderen. Wie dem auch immer sei, es ist irrelevant. Sicher ist nur, daß den Künstlern, vielleicht unbewußt, eine Großtat gelang.

Dieser Heilige starb am Vorabend der großen Auseinandersetzung zwischen Tschechen und Deutschen einerseits, zwischen dem Nihilismus und dem Christentum andererseits: denn Hus ist die Auslösung des Nihilismus, der irgendwo immer in dieser Stadt und ihren Menschen steckt. Er starb als eines der ersten Opfer des Kampfes, der diese Stadt als eine zwiefache sichtbar werden ließ. Er starb als ein Mensch, der nicht diesseits oder jenseits der „Grenze“ stand, sondern sie überwand. Denn er war weder Tscheche noch Deutscher, sondern gehörte beiden Nationen. Und da er aus diesem Land war, wird er viel vom Nihilismus verstanden haben. Um ihn zu überwinden, auf dem einzigen möglichen Weg. dem Christentum. Der Weg dieses Heiligen ging: von der äußersten Bedrohung zur äußersten Beseligung.

Das ist das Geheimnis, das sein Denkmal auf der berühmten Brücke erzählt, jener Brücke, die über die Moldau führt, weldie zwischen den beiden Hügeln dahinfließt.

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