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Prager Buchkontrolle

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Zwischen den einst so stolzen Worten H. St. Chamberlains: „Die fremden Völker werden Deutsch lernen aus Neid, aus Interesse, aus Pflicht, aus Ehrgeiz — mir ist jede Veranlassung recht“ und der Verfemung des Deutschen in der Welt, deren Zeugen wir sind, liegen zweimal, ohne Beispiel in der Geschichte, Aufstieg und Sturz des deutschen Volkes. In der wilhelminischen Ära waren deutsche Kultur und Sprache vor allem im Westen, Norden und Osten Europas zur Geltung gelangt, während die Habsburgermonarchie ihre kulturelle Mission glücklicher und weit weniger aufdringlich im Süden und Südosten Europas erfüllt hatte. Bis 1918 traf man jenseits der Grenzen der Monarchie in den meisten größeren Städten zwischen Adria und dem Bosporus Menschen, die Deutsch sprachen oder verstanden und deutsche Bücher lasen. Nach der Niederlage Deutschlands und dem Zerfall Österreich-Ungarns war diese Kulturentwicklung zum Stillstand gekommen. Es mußte erst längere Zeit verstreichen, ehe wieder österreichische und reichsdeutsche Wissenschaftler als Gastprofessoren an Auslandsuniversitäten berufen und Lektorate für deutsche Sprache und Literatur errichtet wurden. Alles das hielt sich mehr in wissenschaftlichen Grenzen und war weit entfernt von jener aggressiven politischen Kulturpropaganda, wie sie nach 1933 von Berlin aus organisiert wurde. Die Erfolge des British Council und der Alliance Franjaise, beides staatlich geförderte Institutionen zur Verbreitung englischer und französischer Kultur im Auslande, hatten es Goebbels angetan. Er versicherte sich der Deutschen Akademie in München, die einige Jahre vorher mit Unterstützung wissenschaftlicher und wirtschaft- licher Kreise zur Pflege der deutschen Sprache in Deutschland und im Ausland gegründet worden war, gliederte sie in seinen Propagandaapparat ein und vermehrte ihre Außenstellen um ein Vielfaches. Deutschland war für die damaligen Machthaber der geistige Kampfplatz der Welt, also schuf man im Übermut falscher Weltherrschaftspläne eine Unzahl von Propagandastellen unter den Decknamen: „Deutsche Lektorate" oder „Wissenschaftliche Institute“ in Europa, Nordafrika, Asien und Amerika. Von den Zentren München und Berlin aus zog sich das Netz dieser Stellen von der Normandie bis Bukarest, von Stockholm bis Palermo, von Istanbul bis Schanghai, von New York bis Rio de Janeiro. Erst im Verlaufe des Krieges mußte diese Tätigkeit eingeschränkt werden. Wie sehr damals Kultur und Politik verknüpft waren, beweist unter anderem der Name des letzten Präsidenten der Deutschen.

Akademie: Seyß-Inquart. Es werden wohl noch viele Jahre vergehen müssen, ehe dieses traurige Erbe überwunden sein und die deutsche Sprache in der geistigen und sittlichen Geographie der Erde wieder den ihr gebührenden Platz einnehmen wird.

Inzwischen sind andere Kräfte am Werke, Germanistik als politische Waffe einzusetzen. Als Zentren sind die tschechischen Universitäten ausersehen. Durch eine Ironie des Schicksals ist die Prager Karls-Universität die reichste an Studienmaterial für Germanistik geworden, da sie während des Krieges keinerlei Verluste erlitten hat und nach dem Kriege von allen Seiten reich beschenkt wurde, indes die meisten deutschen Büchereien vernichtet sind und die Wiener National- und Universitätsbibliotheken dringend eine Auffrischung ihrer Bestände brauchen. Die Germanistik an den tschechischen Universitäten wurde nach deren Wiedereröffnung nicht wieder im alten Umfange erneuert. Angeblich geschah dies aus Protest gegen den Tod von vier tschechischen Germanisten während des Protektorats. Dieses Schweigen konnte nur vorübergehend sein. Lange schon’ dachte man in Prag daran, die tschechische Germanistik mit ganz anderer Zielsetzung und weitreichenden Plänen wieder aufleben zu lassen. Seit der politischen, Neuorientierung der Tschechoslowakei haben diese Pläne gewiß nicht an Aktualität verloren, mögen auch führende tschechische Politiker neuerdings merkwürdig versöhnliche Töne gegenüber Deutschland anschlagen. Diese überraschende Umstellung wurde seit der Warschauer Konferenz der osteuropäischen Staaten für alle Teilnehmer verpflichtend und gilt sicher nur nach außen hin und so lange, als sie nützlich und zeitgemäß erscheint. In Wahrheit bleibt die ursprüngliche Argumentation bestehen, die also lautet:

Nur das tschechische Volk kenne die Deutschen, wie sie wirklich sind, denn kein anderes habe „die Versponnenheit, die Ver- grübelung, die proteushafte Wandlungsfähigkeit und ewige Giftkraft“ des deutschen Geistes durchschaut. Von allen Völkern Europas hätten nur die Tschechen einen Kampf auf Leben und Tod mit den Deutschen geführt und bis auf den Boden des deutschen Abgrunds geblickt. Die vornehmliche Aufgabe der neuen Germanistik müsse es daher sein, jene Quellen und Kräfte aufzudecken, aus denen die heutige Mißgestaltung des deutschen Geistes hervorgegangen sei, da nur ein sorgfältiges Studium des deutschen Lebens in seiner Gesamtheit die Welt vor Überraschungen sichern könne, falls die geistige Entwicklung der Deutschen wieder einmal gefährliche Abwege einschlagen sollte. Die Germanistik in der Tschechoslowakei habe somit eine Sendung, die der ganzen Menschheit zugute kommen werde.

Der Aufgabenkreis, der ihr zugesprochen wird, ist geradezu phantastisch. Zunächst sind sämtliche Bucherscheinungen des Nachkriegsdeutschlands auf ihren Wert und Unwert, ihre Wirkung auf das Ausland, ihre bewußte oder unbewußte ideologische Tarnung hin zu prüfen. Weitere Studienobjekte werden die Literatur der Schweiz und vpr allem die österreichische Literatur sein. Gerade mit dieser wollen die tschechischen Beobachter in den letzten zehn Jahren schlechte Erfahrungen gemacht haben, auch wenn es sich nur um reine Lyriker und Verfasser harmloser Legendenspiele aus dem Leben des Alpenvolks handelte. Planmäßig wird ferner die österreichische und deutsche Emigrantenliteratur zu prüfen sein, auch dann, wenn sie weiter in der Emigration verbleibt. Nicht alles, was in der Emigration leuchte, sei Gold. Man will dabei ganz gründlich verfahren. Ein Teil der Emigrantenliteratur wird mit der Zeit wahrscheinlich in die Literatur anderer Völker übergehen. Der Sohn eines österreichischen oder deutschen Emigranten wird zum Beispiel amerikanischer, englischer, französischer oder schwedischer Autor. In einem solchen Falle soll der tschechische Germanist ruhig die Grenzen seiner Wissenschaft überschreiten, um die Ausdauer, die Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit deutschen Geistes an solchen schon nicht mehr deutschen Objekten zu studieren. Soweit die zukünftigen Neuerscheinungen.

Nicht minder wichtig wird der Rückblick in die nähere und fernere Vergangenheit sein. Als erste und geradezu sittliche Verpflichtung wird der tschechischen Germanistik auferlegt, sich mit dem sudetendeutschen Schrifttum, insbesondere mit den sogenannteh „Grenzlandromanen“ zu befassen, die in der sudetendeutschen Irredenta gegen den tschechischen Staat einen besonderen Platz eingenommen hätten, sowie eine umfassende Monographie der ehemaligen deut-schenPressein den böhmischen Ländern zu schaffen. Besondere Ergebnisse verspricht sich die Prager Germanistik von Untersuchungen über den Einfluß tschechischen Geistes und tschechischer Umwelt auf Kafka, Werfel, Rilke, aber auch auf Stifter, die Ebner-Eschenbach und andere. Man wird sich da schon auf allerhand Überraschungen gefaßt machen müssen, zumal in der großen Welt draußen Kafka, Werfel und andere „the great Czech writers“ die großen böhmischen Schriftsteller genannt werden. Zu durchforschen und neu zu bewerten ist weiter die gesamte deutsche Literatur der Vergangenheit. Nach den letzten politischen Erfahrungen werden sich völlig neue Deutungen etwa des Nibelungenliedes, der Romantik und der romantischen Philosophie ergeben, Kleist, Hebbel, Richard Wagner, Stefan George in dieser neuen Sicht eine wesentliche Umwertung erfahren. Dabei dürften die tschechischen Germanisten in manche Gewissenskonflikte geraten, wenn sie die klassischen Werke, deren ästhetischer Wert, ethischer Gehalt und geistiger Rang über alle Zweifel erhaben sind, neu zu beurteilen haben. Der tschechische Germanist wird nicht umhin können, etwa Goethes „Iphigenie“ oder „Pandora“, einen Matthias Claudius, Hölderlin oder Rilke positiv zu werten. Aber indem er die positiven Werte kultureller Schöpferkraft der Deutschen von damals zugibt, schwächt er gleichzeitig auf tschechischer Seite „die Wachsamkeit, das Mißtrauen, die gesunde instinkive Abneigung gegenüber allem Deutschen“. Und darum fragt der tschechische Germanist allen Ernstes: Bedeutet es nicht eine die nationale Wachsamkeit einschläfernde Versuchung und somit wieder eine Gefahr, wenn ich Lessing, Herder, Goethe, Claudius, Hölderlin, Grillparzer, Stifter oder Rilke rühme?

Hier nun ergibt sich die Frage: Kann eine Geisteswissenschaft ohne Glauben und ohne Ho ffniung in das gegebene wissenschaftl fct’he Objekt überhaupt noch ernsthaft forschen?

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