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Prager Spätwinter

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Während vor dem Lenin-Mausoleum, laut Berichten aus Moskau, sowjetische Bürger noch zaghaft, aber recht offen an politischen Diskussionen teilnehmen, der sowjetische Dichter Jewtu-schenko seine ungewohnt kühnen Gedichte unbeschadet weiterveröffentlicht, Ilja Ehrenburg für den verfemten Dichter Pasternak eintritt und sich in der Moskauer „Prawda“ verpflichtet, über die „Leiden der sowjetischen Schriftsteller während der dreißiger Jahre“ zu schreiben — verläuft im verläßlichsten aller Moskauer Satelliten, der Tschechoslowakei, eine Ent-

Wicklung, deren praktische Auswirkungen den Beschlüssen des 22. Moskauer KP-Kongresses vollkommen widersprechen. /

Verbleibt man bei der meteorologischen Terminologie, die nach dem ungarischen und polnischen Herbst 1956 in der Analyse der Entwicklung innerhalb des Ostblocks Anwendung fand, dann gilt für Österreichs nördlichen Nachbarn eine winterliche Prognose: keine Hoffnung auf ein Tauwetter, im Gegenteil, winterliche Temperaturen mit weiter anziehenden Frösten.

Der Fall Barak: Schein und Wirklichkeit

Als anläßlich der Eröffnung des ersten Abschnittes der tschechoslowakisch-sowjetischen Erdölleitung in Preßburg der tschechoslowakische Staatspräsident und Parteichef Antonin Novotny etwas ausführlicher auf den Fall des beseitigten tschechoslowakischen Ministers Barak zu sprechen kam und, in einer wie üblich etwas unbestimmt drohenden Art, eine „umfassende Säuberung und strengere Kontrolle des Staats- und Wirtschaftsapparates“ ankündigte, war die tschechoslowakische KP wieder einmal an einem beinahe klassischen Punkt ihrer Entwicklung angelangt.

Das offizielle Lippenbekenntnis zu Moskaus neuem Kurs ist zwar vorhanden, aber die daraus zu folgernde „Liberalisierung“ beziehungsweise die in Moskau proklamierte „ideologische und administrative Destalinisierung“ findet in der CSSR nicht statt. Im Gegenteil: der Fall des 48jährigen ehemaligen Innenministers Rudolf Barak, welcher der Öffentlichkeit mit wohlabgewogenen Worten dermaßen präsentiert wurde, daß die Beseitigung dieses Regierungsmitglieds auch als Sühne für „stalinistische Sünden“ interpretiert werden kann, wirkt sich im tschechoslowakischen politischen Alltag ganz anders aus. Die tschechischen und slowakischen Dichter werden nicht Ehrenburgs Beispiel folgen können, um der eigenen Opfer des Stalinismus zu gedenken.

„Entstalinisierung“ auf Raten

Die tschechoslowakische KP schwenkte auf die Beschlüsse des 22. Moskauer Kongresses überaus zögernd ein. Da die Kommunistische Partei in der Tschechoslowakei während ihrer ganzen Existenz, von den zwanziger Jahren an bis zum heutigen Tag, die bemerkenswerte Leistung

vollbrachte, immer auf der Seite der siegreichen Fraktion der jeweiligen Moskauer Machtkämpfe zu stehen, wurde im Westen von dem so augenscheinlichen Zögern Prags sogar die Möglichkeit abgeleitet, daß Chruschtschows Position in den ideologischen Meinungsverschiedenheiten mit China noch nicht genügend gesichert sei.

Vorsichtig und nichtssagend waren die ersten Berichte der führenden Männer der Tschechoslowakei nach ihrer Rückkehr aus Moskau. Es vergingen Wochen, bevor, ebenso zögernd

wie verlegen, in Prag offiziell angedeutet wurde, daß „Gottwalds seinerzeit angegriffene Gesundheit“ für „gewisse Tendenzen des Personenkults“ verantwortlich gemacht werden muß. Verschämt — und nicht einstimmig — entschloß man sich später, den einbalsamierten Leichnam Gottwalds aus der ihm zugedachten Ehrenhalle zu entfernen und'weniger prunkvoll zwischen den ' Särgen anderer führender Parteimitglieder aufzubahren.

Am gleichen Tag wurde ein neues Denkmal Gottwalds in Gottwaldov, dem ehemaligen mährischen Zlin des Schuhmagnaten Bata, enthüllt. Und noch heute spricht man im Tschechoslowakischen Rundfunk und in der gesamten Presse weiter von der Stadt „Gottwaldov“, ebenso wie vom „Stalin-Schacht“ und den „Stalin-Werken“ in Brüx.

Da es nicht einmal auf dem unverfänglichsten Sektor, dem der offiziellen Kartographie, zu Änderungen gekommen ist, überraschte es auch nicht, daß die zur selben Zeit tagenden slowakischen und tschechischen Schriftsteller offiziell keinen Beitrag zu den theoretischen Möglichkeiten leisteten, die der 22. Moskauer Kongreß mit seinen Beschlüssen jenen bietet, die auf eine schrittweise Ausdehnung ihrer kargen Freiheit bedacht sind.

In 42.756 Parteiorganisationen wurden die Beschlüsse des Plenums des Zentralkomitees der Partei, welches sich mit den Resultaten des 22. Moskauer Kongresses befaßte, diskutiert. „Allgemein“ äußerten die Parteimitglieder ihr Einverständnis mit der „führenden Rolle der KPdSU, der leninistischen Politik der friedlichen Koexistenz und den sowjetischen Abrüstungsvorschlägen“. Die „Albanische Partei der Arbeit und ihre schädliche Tätigkeit“ sowie auch der „westliche Kolonialismus“ wurden „verurteilt“.

Es hätte der bisherigen Praxis sowie dem Wesen der Partei widersprochen, wenn es zu einer Rehabilitierung der 14 Gehängten des Slansky-Prozesses gekommen wäre, wie westlicherseits mancherorts erwartet wurde. Die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei steht „Rehabilitierungen“ grundsätzlich ablehnend gegenüber, denn aus den Vorgängen in Ungarn und Polen 1956 hat Prag die Lehre gezogen, daß ein Zugeben von Fehlern in der Vergangenheit häufig eine Entwicklung auslöst, die vor den Macht-habern der Gegenwart nicht haltmacht.

Als einzige sichtbare Veränderung

innerhalb einer Politik des absoluten Immobilismus und einer bemerkenswerten Nichtbeachtung der Moskauer Beschlüsse in der tatsächlichen politischen Praxis tritt der Fall Barak deshalb besonders markant hervor.

Wer ist Barak?

Rudolf Barak, Mitglied des Zentralkomitees der Partei und Vorsitzender der Regierungskommission für die Nationalen Ausschüsse, wurde am 7. Februar 1962 aller Funktionen und Ämter enthoben und aus der Partei ausgeschlossen. Gleichzeitig beschloß das Präsidium des Prager Parlaments, Barak die Immunität abzusprechen und seiner strafrechtlichen Verfolgung zuzustimmen. {

Als Nachkriegskommunist und, im Verhältnis zu den anderen Führern der tschechischen Partei, ein relativ jüngerer Mann, erreichte Barak den

Höhepunkt seiner Karriere nach Stalins und Gottwalds Tod, im Jahre 1953. Am 24. Juni 1961 wurde Barak überraschend seines Postens als Innenminister enthoben, und im Juli 1961 zum Vorsitzenden der neugeschaffenen Regierungskommission für Nationalausschüsse ernannt. Durch diesen Postenwechsel verlor er die Kontrolle über den überaus mächtigen Apparat des Innenministeriums, welcher nicht nur die bewaffneten Einheiten der „Inneren Sicherheit“ und die Polizeimacht einschließt, sondern auch weit-gehendst die Abwehr und Nachrichtentätigkeit im westlichen Ausland dirigiert.

Baraks Tätigkeit als Innenminister zeichnete sich bis zu einem gewissen Ausmaß auch dadurch aus, daß er innerhalb seines Ressorts Beamte mit fachlicher Befähigung jenen mit rein parteilicher Qualifikation bevorzugte. Diese Einstellung trug ihm den Ruf eines „Nichtdogmatikers“ ein und half ihm, Sympathien innerhalb und sogar außerhalb der Partei zu gewinnen, ohne daß man ihn aber als einen ..Liberalen“ hätte bezeichnen können.

Was ein Stalinist ist ...

Obwohl Barak im Jänner 1962 zum letztenmal vor der Öffentlichkeit erschienen ist, beteiligte er sich noch im Februar 1962 als tschechoslowakischer Delegierter am Vierten Kongreß der Albanischen KP.

Es ist beinahe ein zynischer Zug der tschechoslowakischen Parteitaktik, die Barak — der den Höhepunkt seiner Karriere erst in der nachstalinistischen Ära erreichte — unter dem Titel einer angeblichen Wiedergutmachung „stalinistischer Verfehlungen“ beseitigt, denn im Jahre 1954 wurde Barak zum Vorsitzenden eben jener Kommission ernannt, deren Aufgabe — wenigstens auf dem Papier — es gewesen war, die Folgen des stalinistischen Slansky-Prozesses zu mildern. Die damalige Kommission unter Baraks Leitung beschränkte sich allerdings darauf, einige der. zu Kerkerstrafen verurteilten alten Kommunisten, nach ihrer im stillen erfolgten Entlassung, in die Anonymität untergeordneter Archivarposten zu verbannen.

Mit anderen Worten: es gibt keinen logischen und tatsächlichen Zusammenhang zwischen der politischen Liquidierung Baraks und einer wahren Entstalinisierung. Stempelt man offiziell Baraks Beseitigung zu einer „Ent-stalinisierungsmaßnahme“, dann hat dies zwei Gründe. Man bekräftigt das offizielle Lippenbekenntnis zum der-

zeitigen Kurs Moskaus und entledigt sich gleichzeitig eines Mannes, der vielleicht als einziger ein Konkurrent für den allgemein nicht sehr beliebten Staatspräsidenten und Parteichef Novotny werden konnte. Und dies um so mehr, da Antonin Novotny heute noch im Schatten der relativen Popularität seines verstorbenen Vorgängers Antonin Zapotocky steht, der es richtig verstanden hat, die tschechische Neigung zur Idealisierung des jeweiligen Staatsoberhauptes für seine Rolle eines biederen „Landesvaters“ auszunützen.

Verdächtige Lobpreisung

Baraks Beseitigung und die Säuberung, die sie einleitet, dienen daher einer weiteren Festigung des heutigen Regimes, einer Straffung der Kontrolle auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens sowie einer weitgehenden Entmachtung tatsächlicher und potentieller Machtkonkurrenten. Vergleicht man diese Tatsachen mit jenen Grundsätzen, die als charakteristisch für die heutige Moskauer Linie angesehen werden können, dann wird man feststellen müssen, daß trotz der offiziellen Lippenbekenntnisse Prags' die interne Praxis in der Tschechoslowakei eher an die Doktrinen Pekings als an die Moskaus erinnert.

Die Beseitigung Baraks wurde auch

nur durch das Zentralorgan der Albanischen Partei der Arbeit, „Zer/i i Populi“, vom 17. Februar 1962 enthusiastisch begrüßt, das den ehemaligen Minister der CSSR als „gemeinen Dieb und Verräter von Staatsgeheimnissen“ bezeichnete, der sich „in Tirana als Feind und Provokateur betätigte“ und bei dem „noch abzuwarten sei, ob er auch Spion der Imperialisten gewesen war“. Ein seltsamer Nekrolog einer eindeutig stalinistischen Partei für einen angeblichen „Stalinisten“.

Ohne allzu große Rücksicht auf die derzeitige Existenz dreier ideologischer Zentren der kommunistischen Lehre und Praxis, Moskau, Peking und Belgard, bleibt die kommunistische Partei in der Tschechoslowakei ihrer klassischen Taktik treu:

Die Taktik bleibt die alte

Obwohl man immer die stärkste und siegreiche Strömung innerhalb der kommunistischen Bewegung mitmacht, benützt man die jeweiligen Schwankungen und taktischen Züge einzig und allein zur Festigung der eigenen Macht.

Auch die historische Erfahrung de Tschechen, der die Kunst des Überlebens unter fremder Autorität zur Perfektion entwickelte, kommt der Partei zunutze.

Das größte Stalin-Denkmal der Welt steht immer noch in Prag. Es sind nicht nur die pharaonenhaften Ausmaße des selten häßlichen Marmorblocks auf den lieblichen Hängen des Sommerbergs über der Moldau, die seine Beseitigung außerordentlich schwer, technisch kaum lösbar und unopportun erscheinen lassen.

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