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Prags Völkerfragen

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Das Schlagwort vom „bourgeoisen Nationalismus“, das in der innerkommunistischen Auseinandersetzung der letzten Jahre in der Tschechoslowakei vor allem gegen die Slowaken und gegen die kommunistische Führungsspitze der Slowaken verwendet worden war, hätte auch als gefährliche Waffe gegen die in der Tschechoslowakei verbliebenen restlichen Minderheiten, vor allem die Ungarn, verwendet werden können. Prag wollte aber scheinbar nicht zuviel Auseinandersetzungen gleichzeitig in Kauf nehmen, und so wurde es um die Minderheiten der Tschechoslowakei eher ruhiger und das Bestreben Prags deutlich, die letzten, nicht mehr allzu schwierigen und keineswegs mehr tragischen Minderheitenprobleme mit gelinder Hand zu lösen.

Nimmt man also an, daß auch die Slowaken zum Staatsvolk gehören, so machen allé Minderheiten zusammen nur noch rund 6 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, gewiß ein gewaltiger Unterschied gegenüber der Zeit vor 1938, da die Minderheiten mehr als 30 Prozent der Gesamtbevölkerung betrugen. Heute, da die Tschechoslowakei wieder — wie erstmals 1930 — die

14-Millionen-Grenze bei der Einwohnerzahl überschritten hat, sind es nur etwas mehr als eine Dreiviertelmillion Minderheitengruppen; zählt man noch die Zigeuner hinzu, so nähert sich die Zahl der Millionengrenze, sicherlich auch noch keine allzu bedeutsame Zahl.

Neues Parlament: 15 zu 300

Das neue, im Juni 1964 eingesetzte Parlament zählt unter den 300 Mitgliedern nur 15 Repräsentanten von Minderheiten, und zwar zehn ungarische, je zwei deutsche und ukrainische und einen polnischen Vertreter. Damit sind die Ukrainer stärker vertreten, als dies ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprechen würde, die Deutschen, Polen und Ungarn aber schlechter.

Verständlicherweise haben heute die 15 Parlamentarier der vier Minderheitengruppen einen mehr dekorativen und repräsentativen Charakter; auch bei einer Aufwertung des Parlaments werden sie nie zur Bildung irgendeiner Koalition gebraucht; in öffentlicher Debatte sind kaum je Minderheitenprobleme zur Sprache gekommen. Ihr Hauptbetätigungsfeld ist günstigstenfalls die Arbeit in den Ausschüssen.

Eine Aufgliederung der KP-Mit- glieder nach der Nationalität erfolgt nur ganz am Rande.

Die Ukrainer der Ostslowakei, also des Grenzlandes zur Sowjetunion, sind die einzige Minderheit, bei der der Anteil der KP-Mitglie- der am Gesamtmitgliederstand höher ist als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Der macht nämlich rund 0,53 Prozent aus, während der Anteil der ukrainischen KP-Mitglie- der immerhin 0,6 Prozent erreicht. Bei allen anderen nationalen Minderheiten liegt der Anteil der KP- Mitglieder weit unter dem Bevölkerungsanteil. So machen die Deutschen der Tschechoslowakei heute nur noch 1,18 Prozent aus — der Anteil deutscher KP-Mitglieder an der Gesamtmitgliederzahl liegt gar nur bei 0,1 Prozent (1651 KP-Mitglieder deutscher Nationalität!).

Ständiger Schwund

Durch Aussiedlungen (Deutsche, Ungarn), durch Gebietsabtretung (Karpathen-Ukraine), aber auch durch Kriegs- und Nachkriegsverluste ist es dazu gekommen, daß heute alle Minderheitengruppen absolut wie relativ kleiner geworden sind als vor 1938. Bei den Polen und Ukrainern hält sich -dies noch in bescheidenen Grenzen. Vor 1938 lag die polnische Minderheit knapp unter der 100.000-Grenze, 1950 zählte sie 72.624, 1958 dann wieder 78.744 und heute rund 67.000 Köpfe; ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung sank allerdings nur von 0,7 auf 0,6 und 0,5 Prozent. Von den Ukrainern sind nach Abtretung der Karpathen- Ukraine nur noch die in der Ostslowakei lebenden Ukrainer übriggeblieben. Einst lebten auf dem Gebiet der Tschechoslowakei etwas mehr als 118.000, ihre Zahl sank auf

67.0 (1950), stieg auf 75.000 (1958) und sank neuerlich auf 55.000; ihr Anteil von 0,8 auf 0,6 und schließlich 0,4 Prozent. Waren also früher (bis 1938) die Polen die kleinste Minderheit, so sind es heute die Ukrainer.

Deutsche gibt es heute in der Tschechoslowakei nach offiziellen Angaben rund 140.000, 1938 waren es rund 3,5 Millionen, der Anteil sank also von mehr als 23 Prozent auf 1,3 Prozent (1950) und rund 1 Prozent heute. Die Ungarn konnten ihre Situation stabilisieren. 1930 zählten sie auf dem Gebiet der Tschechoslwakei fast 600.000 Köpfe, 1950 waren es 367.000, 1958 wieder

410.0 und heute rund 534.000. Sie machten 1930 4,3 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, der Anteil sank dann auf 3 Prozent und liegt heute wieder knapp unter 4 Prozent. Berücksichtigt man noch die Zigeuner, die rund 150.000 Köpfe ausmachen, so liegen sie vor den Ukrainern und Polen an drittletzter Stelle mit einem Anteil, der knapp unter 1 Prozent liegt.

Mit mehr als einer halben Million Köpfen sind die Ungarn heute mit Abstand die größte Minderheit der Tschechoslowakei. Sie zählen nicht nur mehr Köpfe als alle anderen Minderheiten zusammengenommen (Deutsche, Polen, Ukrainer), sie sind auch die einzige Minderheit, -die sich konsolidieren konnte und eine aufsteigende Tendenz zeigt. Bei der Volkszählung des Jahres 1950 wurden 367.733 Ungarn gezählt, 1959 waren es 410.174, für 1961 wurde eine Zahl von 533.934 angegeben. Ursache dieser sichtbaren und in diesem Ausmaß auch zweifellos überraschenden Ausweitung dürfte nicht nur der normale Bevölkerungszuwachs sein, sondern auch die Tatsache, daß sich manche Ungarn früher als Tschechen bzw. Slowaken registrieren ließen und heute wieder als Ungarn auftreten.

Die Ungarn haben es verstanden, eine relativ umfangreiche ungarische Presse in der Slowakei aufzubauen: sie verfügen über eine Tageszeitung in ungarischer Sprache und 17 Zeitschriften, für die insgesamt rund 100 ungarische Redakteure zur Verfügung stehen.

Weißt du, wieviel ?

Daß auch die Zahl der Deutschen zusammengeschmolzen ist und noch weiter sinkt, bezweifelt niemand; angezweifelt wird allerdings die zuletzt angegebene Zahl von 140.000 Deutschen in der Tschechoslowakei. Bis 1950 seien — so wird „amtlich“ behauptet — 1,9 Millionen in die Bundesrepublik, 914.000 in die Ostzone, 142.000 nach Österreich, 16.000 nach überseeischen Ländern, 8000 in andere europäische Länder und 200 nach Ostberlin ausgesiedelt worden bzw. ausgewandert. Hiezu kommen Kriegs- und Nachkriegsver- luste von 180.000, so daß heute noch eine Gruppe von 200.000 bis 280.000 in der Tschechoslowakei leben müßte, von denen sich sicher einige als Tschechen bzw. Slowaken registrieren ließen. Immerhin bleibt noch eine „Lücke“ von 60.000 bis 140.000 Menschen,

Nach offiziellen tschechischen Angaben gab es 1950 rund 165.000, 1960 aber rund 140.000 Deutsche in der Tschechoslowakei; berücksichtige man, daß im selben Zeitraum rund 30.000 flgutsche. nach dem Westen evakuiert’wurden,-so sei trotz, einer absoluten Verringerung ehep cjLer natürliche Bevölkerungszuwachs zu bemerken. Trotz allem verlassen noch immer laufend Deutsche die Tschechoslowakei, wenn es sich auch um zahlenmäßig kleine Gruppen und um durchweg ältere, kaum noch arbeitsfähige Menschen handelt. Zwischen 1959 und 1961 haben 3553 tschechoslowakische Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit die Tschechoslowakei verlassen.

In der neuen Nationalversammlung sind die Deutschen aber noch wesentlich schlechter vertreten, als es allein dieser angezweifelten Stärke entspricht. Der Anteil der Deutschen, der einst rund 24 Prozent ausmachte, liegt nach den offiziellen tschechischen Zahlen nunmehr bei 1,3 oder 1,2 Prozent der Gesamtbevölkerung; die beiden deutschen Abgeordneten im Prager Parlament machen aber nur 0,6 Prozent der Abgeordnetensitze aus.

Keineswegs besser sind übrigens die Polen im Prager Parlament berücksichtigt. Wenn sie auch nur 0,6 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, so würde dies rund zwei Parlamentsvertretern entsprechen; in Wirklichkeit besitzen sie nur einen.

Daß das polnische Minderheitenproblem kaum erwähnt wird, hat mehrere Ursachen; einmal ist es zweifellos die Tatsache, daß die polnische Minderheit zahlenmäßig kaum ins Gewicht fällt; dann ist es sicherlich auch die Tatsache, daß diese Minderheitengruppe, die nur der Einwohnerzahl einer größeren Mittelstadt entspricht, überwiegend im Raum von Mährisch-Ostrau konzentriert ist. Schließlich ist die Minderheitenfrage nur eine der vielen Differenzen, die seit Jahrhunderten zwischen Tschechen und Polen bestehen und die 1920 durch eine Entscheidung der Pariser Botschafterkonferenz, die das überwiegend von Polen besiedelte Gebiet der Tschechoslowakei zugewiesen hat, neue Nahrung erhielten. Eine im März 1964 von tschechischen und polnischen Journalisten durchgeführte Diskussion über das schlechte polnisch- tschechische Verhältnis brachte eine Fülle historischer und psychologischer Fakten zutage, erwähnte aber bezeichnenderweise das Minderheitenproblem mit keinem Wort.

Die polnische Minderheit ist in einer lockeren Organisation, die sich „Polnischer Verband für kulturelle Aufklärung“ nennt, organisiert.

Ukrainer — ein neuralgischer Punkt?

Fast gleich groß — oder gleich unbedeutend — ist der Anteil der zweiten slawischen Minderheit in der Tschechoslowakei, der Ukrainer, die man früher gern anders nannte (Ruthenen, Karpatho-Ukrainer). Nach 1945 hatte Prag nach Abtretung der eigentlichen Karpathen- Ukraine mit der ukrainischen Bevölkerung der Ostslowakei gewisse Schwierigkeiten durch die Einfüh-

rung des Slowakischen an Stelle des

Ukrainischen als Unterrichtssprache an einigen Schulen der Ostslowakei. Mitte 1962 wurde der einzige Ukrainer in der Prager Regierung, Stanislav VI na, seines Postens als Minister und Erster Stellvertreter des Vorsitzenden der Staatlichen Planungskommission enthoben und nur zum Stellvertreter (ohne Ministerrang) dieser Kommission ernannt, was natürlich zu einer neuerlichen Mißstimmung führte. Der einzige Ukrainer in entscheidender Position ist nunmehr Vasil Bilak, der Mitglied des slowakischen ZK-Präsidiums in Preßburg ist.

Und die Zigeuner?

Die Gruppe der Zigeuner zählt 150.000 Köpfe und ist heute fast ebenso groß wie die der deutschen Minderheit! Nach der Deutschenaussiedlung versuchte man, die Zigeuner in den freigewordenen Grenzgebieten einzusetzen, doch führten die Pläne nicht zu dem gewünschten Erfolg. Heute leben von den 150.000 Zigeunern wieder 120.000 in der

Slowakei und von diesen wieder 70.000 in der Ostslowakei. Von Anbeginn an widmete das kommunistische Regime der Zigeunerfrage sein besonderes Augenmerk. Während das bisherige „Ausbeuterregime“ die jahrhundertelange Un- . terdrückung und Isolierung der Zigeuner — so erklärte man — nicht zu beseitigen vermochte, hofft man mit dem ZK-Beschluß vom April 1958 eine „marxistisch-leninistische Endlösung“ der Zigeunerfrage, eine „erzwungene Assimilierung“ zu erzielen. So ganz klappte es allerdings auch mit dieser „Endlösung“ nicht. Wohl steige — so heißt es — die Zahl der in Arbeit stehenden Zigeuner — von den 70.000 in der Ostslowakei waren 1958 9200, 1962

immerhin schon 17.000 in Arbeit —, aber der Anteil der arbeitenden Zigeunerinnen ist mit 8,2 Prozent außerordentlich niedrig. Hauptübel sei, daß die Zigeuner, die hauptsächlich als Bauhilfsarbeiter eingesetzt seien, nicht auf verschiedene Gruppen aufgeteilt wurden, sondern in eigenen Zigeunerarbeitertrupps arbeiteten, allerdings sei auch Tatsache, daß man ihnen immer die schwerste Arbeit zuteile und daß die Bezahlung oft „nach Augenmaß“ erfolge. Kritisiert wird ferner, daß die Zigeunerkinder noch immer den Schulbesuch nicht ernst nehmen: noch immer seien 70 Prozent der Zigeuner Analphabeten, auch werde bei den Zigeunern zu wenig „massenpolitische Arbeit“ geleistet.

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