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Produzierte konterrevolution

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Das Illusionäre der politischen Macht wird erst beim totalen Einsatz unveiihüllter Gewalt deutlich. Zu dieser Einsicht bedurfte es nicht erst der Sowjetpanzer, Maschinengewehre, Migs, einer generalstabsmäßig einwandfrei durchgeführten Besetzung der Tschechoslowakei seit dem 20. August 1968.

Herzen und Hirne, die einmalige Disziplin des Widerstandes der Tschechen und Slowaken erreichten gegenüber der besetzenden Übermacht innerhalb Wochenfrist sogar ein Patt: Ein geschichtlich bedeutsamer Vorgang im Zeitalter der Kernenergie und Raumfahrt, das scheinbar nur wenigen Überstaaten die End-,Scheidung einräumt. Die Dialektik begünstigte natürlich die beiden inaggressivsten Völker Mitteleuropas insoweit, als die Tschechoslowakei (auf Weisung des Oberkommandos des Warschauer Paktes) gegen den westdeutschem US-amerikanischen, „Imperialismus“ usw. ein geniales System untergründiger Résistance und Propaganda vorbereitet hatte. Diese etwas Schwejk- mäßige Organisation wurde nun gegen die sowjetarmistische „Hilfe“ und die der übrigen vier Miet- Besetzeir voll wirksam.

Ideologisch scheint die Frage nach dem „Tatmotiv“ der Sowjets sehr bald beantwortet Marxisten Rußlands vertraten bereits im 19. Jahrhundert die Ansicht, man müsse die Menschen, vornehmlich die Masse, zu ihrem Glück erforderlichenfalles zwingen. Die Synchronisierung der Volksdemokratien mit der UdSSR seit 1945, der Vorrang der KP der Sowjetunion innerhalb der KP- Internationalen, da alleinige Macht- und Erziehungsmonopol der kommunistischen und Arbeiterparteien im sowjetsozialistischen Ostmittel europa bestätigen dieses Axiom. .Freilich widerspricht diesem apodiktischem Zwang zum Glück immer nachhaltiger der „eigene Weg“ im Konzept eine Tito, Togldatti, Ceausescu, der reformwilligen KPC.

Welche praktisch-politischen Erwägungen haben mutmaßlich den Kreml zur Überrumpelung des Bundesgenossen, zur Entwürdigung der Bruderpartei veranlaßt? Fraglos wünschte Moskau nicht bloß, das kritische Selbstbewußtsein und eine eigenwillige Demokratisierung der KPC, „die gewaltlose Revolution auf dem Boden der sozialistischen Ökonomie“ in den Ansätzen zu zermalmen (Dr. Ernst Fischer am 23. August im Wiener Femseh-Interview). Der chirurgische Eingriff sollte ebenso die DDR, Polen, Ungarn, Bulgarien (und schließlich die Sowjetunion selbst) vor dem „tschechischen Bazillus“ bewahren. Dieser Erklärungsversuch indessen ist rudimentär. Gewiß hat der Kreml als Großmacht, mit Überlegung und minutiösen Vor-

bereitungen geplant und gehandelt. Doch, wer ist „der Kreml“ — allein zwischen dem 17. Mai (Kossygin in Prag und Karlsbad) und dem 23. August 1968 (Empfang des CSSR- Fräsidenten Svobobda zu Verhandlungen in Moskau)? Niemand Wird behaupten wollen, in dieser Zwischenzeit seien alle protokollarischen Bruderküsse — nach Veranlagung: kühl oder schmatzhaft — nichts, als Lug und Trug gewesen. Im Auf und Ab, Für und Wider der Konferenzen, Briefe, Gespräche zu Dresden, Warschau, Schwarzau, Preßburg fand eine „MarschalUsierung“ des Kreml statt, gewannen die Militärs das Übergewicht, wie schon 1956, im Fall Ungarns. Während diese Zeilen in Drude gehen, besteht für den gleichen Kreml die Versuchung, in der Sozialistischen Republik Rumänien, schließlich auch in der Föderativen Sozialistischen Republik Jugoslawien „den Laden ebenfalls dicht zu machen“. Das jedenfalls dürfte ein Teil des sowjetarmistischen Generalstabes (wohl mit Zustimmung des großen ideologischen Strategen Sus- low) unter rückwärtiger Sicherung, im Blick auf die VR China und Süd- ostasien, verstehen.

Tatsache ist, daß sich die Invasion der CSSR nicht ungeschehen machen und wegdiskutieren läßt. Der seit Februar 1968 so mühsam angestrebte „Gipfel“ des Weitkommunismus in Moskau erscheint überhaupt in Frage gestellt. Zwölf Jahre nach dem Ungarischen Oktober zeigt eine erste Prüfung der unmittelbaren Folgen des 20. August eine Verschärfung der Weltlage überhaupt. Innerhalb des Weltkommunismus selbst ergeben sich die heftigsten Gegensätze: Sowjet-Kommunismus, ge prägt durch einen neostaUnistischen Kreml — Sino-Kommunismus oder Maoismus, eine überwiegend außereuropäische Internationale — Tito- Kommunismus, als Konzept und Führungsordnung ein reformerisch und national bestimmter Kommunismus mit Ausstrahlungen in die Dritte Welt — demokratisch beeinflußter Sozialismus innerhalb der KPen Westeuropas — Castnismus, als überwiegend tratzkisiisch geformte Ausprägung des Kommunismus in Lateinamerifca — Nationale Demokratie und Nationaler Sozialismus als überseeische Führungsformen, die der Sowjetkommunismus vorsichtig als „nichtkapitalistischer Weg“ kennzeichnet.

Bedarf es indessen solcher Aufzählungen? Tatsache ist, daß der Kreml durch seine militärische Befriedigung ln der Tschechoslowakei selbst die treuesten Kommunisten irre gemacht und fast mutwillig die Konterrevolution, das heißt, den Widerstand geradezu produziert hat. Das kommunistische Donau-Balkaneuropa ist jetzt; schon als militärisches Potential und blindergebene ideologische Gefolgschaft Moskaus abzuschreiben. Nicht nur, so weit es sich um Jugoslawien, Rumänien oder Albanien handelt! Wie weit werden und. können darüber hinaus die KPen Westeuropas in einem „Ernstfall“ noch als Fünfte Kolonne der Revolutionsidee Moskaus fungieren, nachdem sie die Vorgänge in der Tschechoslowakei nüchtern analysiert haben? Afrika, Lateinamerika? Bei aller finanziellen und existentiellen Abhängigkeit mancher Parteien, wird dort die „Modellhilfe“ der Warschauer Paktstaaten auf kein Verständnis der Kommunisten stoßen, deren Freiheitsdrang ich häufig genug in einem Anarcho-Syndikalis- mus äußert. Asien? Unangesehen das rotchinesische Bekenntnis zur kämpferischen Revolutionierung in der Welt des „Kapitalismus“, nannte Tschu En-lai die Tat der Sowjets ein „abscheuliches Verbrechen“.

Offenbar muten die KPen Belgrads wie Pekings, Paris’ wie Roms diese wiederkehrenden militärischen Siege des Kreml über Verbündete und Bruderparteien hanebüchem an (verbrämt jeweils mit protokollarischen Bruderküssen).

Wiederum wäre es verkehrt und billig zu übersehen, daß es auch in dieser Stunde einen fniedenswiliigen, politisch denkenden Kreml gibt. Doch welcher Einfluß kommt ihm innerhalb der Führungskonstellation zu? Sollte die Partei der KPdSU wirklich ihr eigener Feind sein? Ist innerhalb des kommunistischen Weltlagers Koexistenz unmöglich? Diese sollte doch die Ausgangslinie für friedliche Koexistenz mit dem Westen sein. Nicht kettenrasselnde Panzer, sondern Überzeugungskräfte sind Träger einer Idee. Auch der proletarische Diktatur-Sozialismus läßt sich nicht für die Dauer an imperiale Ideen ketten.

Zuletzt: Eine politische Re-Forma- tion Europas ist notwendig. Starre Grenzen und Abmachungen über die Teilung der Welt zwischen den Supermächten reichen nicht hin, um dem übrigen Fußvolk schöpferisches Mitwirken, souveräne Entscheidungen, nationale Eigenständigkeit zu gewährleistem Noch niemals war der Ruf nach Selbstverantwortung Europas dringlicher, quer durch alle ideologischen Bretterzäune. Sogar die westeuropäischen KPen sind erstaunlich initiativ geworden. Allen voran: aber haben „jenseits“ der Bund der Kommunisten Jugoslawiens und die Rumänische KP die „Schdcksalsstunde des Sozialismus“ (Todor Shivkov) begriffen. Europas Demokratie sollte sich zur Selbsterhaltung und Weltverantwortung aktiv bekennen, solange — gesamteuropäisch gesehen — politische Lösungen möglich sind.

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