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Progressive Schulreform

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Unsere Geschichte begann damit, daß in der Elternversammlung des Goethe-Gymnasiums die Mutter eines minderbegabten Schülers aufstand und laut erklärte, ihr Sohn werde von der SJchule überfordert, und eine radikale Aende- rung des Lehrplanes sei daher das dringende Gebot dieser Stunde.

Sofort sprang der gesamte Lehrkörper von seinen Sitzen und lehnte einstimmig und mit aller Entschiedenheit ein solches Ansinnen ab.

Daraufhin erhob sich nicht minder erregt der Vater eines ebenso unbegabten Schülers — er hatte in seinem Leben bereits einiges von der Demokratie gehört — und erklärte drohend, er werde damit zur Presse gehen.

Die Presse zeigte sich an diesem Fall sehr interessiert, allen voran die Illustrierten. „Unsere. Kinder werden ruiniert”, „Stachanow- System für Minderjährige” waren die Ueber- schriften einiger Bildberichte, in denen erschöpfte und übermüdete Schüler und hämisch lächelnde -Pädagogen zu sehen waren.

Einige Zeitungen faßten das Problem von der sozialen Seite her an und begannen meist mit einem historischen Rückblick.

Früher, so schrieben sie, sei Bildung ein Privileg der Reichen gewesen, jetzt aber, da es jedem finanziell möglich sei, sämtliche Schulen zu besuchen, müsse ein übriges getan werden. Es gehe nicht an, daß der eine mehr Bildung habe und der andere weniger. Das verstoße nicht nur gegen die Grundrechte der Demokratie und der Verfassung, sondern auch gegen die neuesten gesellschaftsgeschichtlichen Erkenntnisse. Es müsse daher jedem, wirklich jedem, möglich sein, den Doktorgrad zu erlangen. Der Weg zum Doktorhut müsse umgehend erleichtert werden. Vom Unterrichtsminister erwarte man daher die dazu nötigen Maßnahmen.

Der Unterrichtsminister weigerte sich zunächst, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen. Aber der Druck der öffentlichen Meinung, so schrieb nachher die Presse, war bereits so stark geworden, daß sie den Minister, der in Verkennung der Tatsachen nicht dem Volke, sondern der Schule diente, vom bequemen Ministersessel fortriß und einen fähigeren Mann, an seine Stelle setzte. Die Befähigung des neuen Ministers wurde von einigen Blättern damit .nachgewiesen, daß auch er einmal die Schule besucht habe.

Der neue Unterrichtsminister, ein namhafter Exponent der inzwischen gegründeten „progressiven Schulreformpartei”, einer Partei, die sich mit allen anderen fortschrittlichen des Landes verbündete, erklärte in seiner groß angelegten programmatischen Antrittsrede vor der Beamtenschaft des Ministeriums, er werde kein amtierender, sondern ein reisender Unterrichtsminister sein.

Dieses Versprechen hielt er auch.

Er reiste jedoch nicht, um Schulen zu besuchen und die Unterrichtsmethoden zu überprüfen, er reiste vielmehr, um weitere großangelegte programmatische Reden zu halten, in denen er für den Gedanken der progressiven Schulreform warb und ankündigte, daß er unverzüglich und mit aller Schärfe nach dem Rechten sehen werde.

Der erste Unterrichtsgegenstand, der unter seiner Aegide ausgemerzt wurde, war Kunstbetrachtung.

Kunst könne man so oder so betrachten, sagte der Minister, das sei nicht erlernbar. Die Presse hatte fette Schlagzeilen: „Ein mutiger Minister”, schrieb sie.

Etwas später wurden in einer Enquete der progressiven Schulreformpartei unter Vorsitz des Unterrichtsministers das Fach Botanik und eine Fremdsprache gestrichen. Ein Fackelzug der Schuljugend und Elternschaft war das äußere Zeichen des Dankes.

Nach einem weiteren Jahr, gewissermaßen zum Jubiläum, fiel auch die zweite Fremdsprache. Damit war wieder ein Fackelzug fällig.

„Ein Freund der Jugend”, schrieb die Presse, die sich bereits zu uniformieren begann, und sie ruhte nicht, bis Griechisch und Latein fielen. Dies erreichte sie auch, und jede Zeitung behauptete, die erste gewesen zu sein, die diese Forderung erhoben habe.

„Jetzt, in dieser großen geschichtlichen Stunde, am Beginn einer neuen Epoche des Unterrichtswesens, bleibt dem Unterrichtsminister noch ein großes Werk zu tun”, schrieb der bekannteste Leitartikler des bekanntesten Blattes, nämlich: „Die großzügigste und weitreichendste Rechtschreibreform unserer Muttersprache. Es gehe nicht an, daß Leute, die in die höchsten Spitzen des Staates und der Politik vorgestoßen seien, sich mit den kleinlichen Fußangeln der Rechtschreibung herumzuschlagen haben. Auch die überlasteten Kapitäne der Wirtschaft haben andere Sorgen als die, darüber nachzudenken, ob das Wort Profit groß oder klein zu schreiben sei. Hier müsse sich die Groß- und Kleinschreibung lediglich nach dem Profit selbst richten.”

Die Regierung, die inzwischen nur noch aus fortschrittlichen Kräften bestand und die Opposition ausgeschaltet hatte, war für diesen Plan sofort zu haben. Sie setzte eine progressive Rechtschreibreformkommission unter Vorsitz des Unterrichtsministers ein, der einen eigenen Staatssekretär für progressive Rechtschreibreform in sein Amt berief. Die erste Tagung der Kommission fand in einem Nobelkurort statt, und auf ihr wurde beschlossen, einen neuen Verein zu gründen, ein Bankkonto zur Förderung des Kampfes für die progressive Rechtschreibreform zu eröffnen und — eine weitere Tagung in einem anderen Nobelkurort abzuhalten.

Die Durchfechtung des Kampfes erforderte daher eine geraume Zeitspanne.

Dafür erreichte man nach Jahren zwei Ziele auf einmal. Laut Regierungserlaß wurden die Rechtschreibung zur persönlichen Angelegenheit und richtige Rechenresultate zur Glückssache erklärt.

Fackelzug! Transparente, auf denen die Ergebnisse der Reform bereits zu erkennen waren! Volksfest!

Ein Ereignis ging unbeachtet im Trubel dieser Feierlichkeiten unter. Der Ministerpräsident des Landes hatte sich einen Sekretär aus dem nicht- schulreformierten Ausland kommen lassen, der nun dessen Briefe und Reden aufzusetzen hatte. Diesem ersten dienstbeflissenen Geist folgten zunächst nur wenige weitere, bald aber eine Menge. ging indessen, weiter. /Man könnt nicht auf? hören, ehe das Endziel erreicht war.

Laut neuem Regierungserlaß — man wollte nicht nur einen Minister, sondern die ganze Regierung an dem so erfolgreichen Kampf beteiligt sehen — wurden die Prüfungen an den Hochschulen vbn Quizexperten des Rundfunks übernommen.

Die Prüfungsfragen wurden nicht mehr mit „Sagen Sie mir, bitte”, eingeleitet, sondern mit „Raten Sie”, und gingen dann etwa folgendermaßen weiter: „Ist Cäsar ein römischer Kaiser, ein Zahnbelag oder eine Stadt in Anatolien?”

Während des neuerlichen Fackelzuges emigrierten die letzten Vertreter der inländischen Intelligenz, was in die Reihen der Regierung jedoch keine wie immer geartete Lücke riß.

Aber noch immer hatte die progressive Schulreform nicht jenen Grad von Vollkommenheit erreicht, den man anstrebte. Einige Eltern führten nun Klage darüber, daß jene, die erst beim dritten Raten die richtige Antwort fanden, nur ein „Sehr gut” bekamen, während die, die beim zweiten- oder gar beim erstenmal die richtige Antwort errieten, ein „Ausgezeichnet” bzw. „Hervorragend” erhielten.

Die sozial eingestellten Blätter, es gab jetzt nur noch solche, schrieben nun wieder von einem neuerlichen Unrecht. „Es gehe nicht an”, hieß es, „daß Leute, die die gleiche Schule besuchten, die gleichen Lehrer hatten und in den gleichen Fächern unterrichtet wurden, plötzlich ungleich auf Grund ihrer Leistung beurteilt würden.” Sie stellten mit aller Entschiedenheit fest, daß der Schulbesuch an sich eine Leistung sei, und diese Leistung allein habe bewertet zu werden, nicht das Mehr oder das Weniger des Erfolges.

Zu diesem Zeitpunkt lehnten sich die Eltern der begabteren Schüler auf, aber dazu war es bereits zu spät.

Die Sekretäre, die in immer größeren Scharen aus dem Ausland eingewandert waren, zuerst nur, um Reden der staatlichen, politischen und wirtschaftlichen Spitzenfunktionäre aufzusetzen, hatten die Macht an sich gerissen und beharrten auf den Erfolgen der Schulreform.

Man berichtet, daß die Sekretäre ein leichtes Regieren haben, denn Dummköpfen soll es schwerfallen, nein zu sagen.

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