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Prozeß der Anachronismen

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„Was wollen die Südtiroler eigentlich?“ fragte mich ein Mailänder Postbote am Eröffnungstag des lang erwarteten Sensationsprozesses. „Warum“ — er deutet mit einer vagen Handbewegung auf eine Gruppe Sarntaler Burschen, die in ihrer Taltracht nach Mailand gekommen sind, um ihre Angehörigen auf der Anklagebank grüßen zu können — „müssen sie uns ständig herausfordern? Ich verstehe diese Leute nicht, wir behandeln sie doch gut “ Die Worte dieses einfachen Italieners zeigen am besten, von welch entscheidenden psychologischen Mißverständnissen der Südtirolstreit begleitet wird. Was der Mailänder als Provokation empfindet, ist für den Südtiroler Bauernburschen eine Selbstverständlichkeit, über die er sich keine Gedanken macht: nämlich das Recht, in seinem Feiertagsgewand aufzutreten

Der Mailänder Prozeß, der am fi. Dezember begonnen hat, ist ein „Prozeß der Anachronismen“ genannt worden. Es ist ein Monsterprozeß, wie ihn Italien noch nicht erlebt hat. Der Mailänder Justizpalast, besser gesagt der größte Saal dieses imposanten und leicht protzigen Baues aus der Zeit des Faschismus, ist mit einem Kostenaufwand von über 40 Millionen Lire eigens für dieses Verfahren gegen die Südtiroler „Dinamitardi“ umgebaut worden. In der Voruntersuchung sind über 1000 Zeugen einvernommen worden, im Verlaufe des Prozesses, der wahrscheinlich bis Mitte April dauern wird, sollen es noch einmal 300 sein, die befragt werden.

Ein schwankender Bau

Die Anklagepunkte gegen die 94 Angeklagten, davon 68 in Haft, sind schwerwiegender Natur: Mord, Mordversuch, Anschläge auf Eisenbahnlinien und Kraftwerkanlagen und vor allem „Anschlag auf die Integrität des Staates“, eine Beschuldigung, auf die lebenslänglicher Kerker steht. Ob es dem Staatsanwalt freilich gelingen wird, die Pauschalbeschuldigung des Mordes und der Verletzung der Staatssouveränität aufrechtzuerhaljen, ist eine andere Frage. Denn hier kann die Verteidigung, der teilweise führende Strafrechtler Italiens angehören — so seien etwa die Professoren Delitala und Nuvolone, die beide Inhaber von Ordinariaten an der Mailänder Universität sind, daneben der agile Dr. Gallo aus Vicenza und der Trientiner Regionalrat Dr. Sandro Canestrini genannt—, mit einiger Aussicht auf Erfolg versuchen, den durch den sogenannten „concorso ideologico“ (am deutlichsten mit dem Wort „geistiges Zusammenwirken“ gekennzeichnet) recht lose zusammengehaltenen Bau der Anklage zu erschüttern.

Die erste Prozeßwoche in Mailand Ist nicht ungünstig verlaufen. Der Präsident des Schwurgerichtes, Dr. Gustavo Simonetti, ein Jurist mit großer Erfahrung, hat bisher guten Eindruck hinterlassen. Er scheint nicht gewillt zu sein, die politische Polemik in die Aula des Gerichtssaales eintreten zu lassen. Aus diesem Grunde hat er einen Anwalt der Zivilpartei, der sich als „treuer Mitarbeiter der Justiz“ gegen verschiedene „unbegründete und aufwieglerische Behauptungen“ einer Wiener Tageszeitung wandte und heftig protestierte, sofort und sichtlich unwillig zurechtgewiesen. Auch der Staatsanwalt Dr. Mauro Gresti macht einen ausgeglichenen, seriösen Eindruck.

Die Verteidigung hat bisher einen gewissen Erfolg verzeichnen können. Auf ihren Antrag werden die Akten — und nicht nur das Urteil — des Trienter Prozesses den Akten des Mailänder Verfahrens beigefügt. Das ist von größter Wichtigkeit, da damit der Beweis erbracht werden könnte, daß viele Aussagen der Angeklagten unter Druck und Mißhandlungen zustande gekommen und deshalb ohne Gültigkeit sind. Einige Angeklagte wurden in Form einer Amnestierung von kleineren Delikten freigesprochen. Auch die Akten, aus denen die mehrfachen Betrügereien des Polizeikonfidenten Anton Stotter hervorgehen, werden dem Mailänder Sprengstoffprozeß beigelegt. Das ist gleichfalls wichtig, weil die Aussagen dieses Ganoven, der bis zum 15. Dezember in Augsburg wegen vier Betrugsfälle inhaftiert ist, über verschiedene Südtiroler Häftlinge erschüttert werden könnten.

Die Angeklagten machen einen guten und keineswegs deprimierten Eindruck. Nur Dr. Hans Stanek, von Dr. Riz und Dr. Delitala verteidigt, schien am ersten Verhandlungstag offensichtlich nicht bei bester Gesundheit zu sein.

Hauptbeschuldigte: drei Österreicher

Nun noch ein Wort zur Anklageschrift. Der Innsbrucker Nachrichtendienst SID hat mit der ihm übliehen Präzision errechnet, daß — sollte die Urteilssprechung im Sinne der Anklage erfolgen — die Südtiroler Häftlinge sämtlich lebenslänglich plus zirka 60 Jahre Kerker erhalten würden. Dies zeigt am besten den Umfang der schweren Beschuldigungen, die gegen die Angeklagten erhoben werden.

Als Hauptbeschuldigte bezeichnet die Anklage drei Österreicher — insgesamt sind sechs angeklagt —: den ehemaligen Generalsekretär des Berg-Isel-Bundes, Dr. Eduard Wid- moser („Organisator, Propagandist und Anstifter der Terroraktivisten“), Kurt 'Welser („Ausbilder der Terroristen und Lieferant von Waffen und Sprengstoff“) und den Schriftsteller- Journalisten Wolfgang Pfaundler (..Helfer der beiden anderen, Propagandist und Beschaffer von Geld und Waffen“). Diese und „andere Drahtzieher im Ausland“ (auch ein ehemaliger deutscher General wird genannt), so schreibt der Bozener

Richter Dr. Martin am Ende der Anklageschrift, seien „verantwortlich für die Tränen und den Schmerz, die der Untersuchungsrichter in den Gesichtern der alten Eltern, der Ehefrauen und Kinder der Angeklagten hat sehen müssen ..

Die menschliche Tragödie

Das vornehmste Ziel jeder Gerichtsbehörde ist die Suche nach der Wahnheit. Das Mailänder Gericht wird es bei dieser Suche nicht leicht haben. Denn die Spreu vom Weizen abzusondern ist keine leichte Aufgabe.

Die Kritik der Anklageschrift, die sicherlich in vielen Punkten revidie- rungswürdig ist, deren letzten eben zitierten Satz wir jedoch bedingungslos bejahen müssen, soll freilich keineswegs darüber hinwegtäuschen, daß sich ein größerer Teil der Angeklagten, durch mit anscheinend nicht allzuviel Gewissen beschwerte Hintermänner ermuntert, in schwerwiegender Form gegen verschiedene Gesetze vergangen hat. Daß der Staat das Recht hat, diese Vergehen zu ahnden, steht außer Zweifel. Nur soll das Schwert der Justiz niemals einseitig, sondern mit Verständnis für die Situation gehandhabt werden. Durch die Angeklagten, die keineswegs als Verbrecher im üblichen Sinn bezeichnet werden dürften, ist jedoch die Politik der SVP, die sich immer wieder für eine friedliche Bereinigung des Südtirolproblems ausgesprochen und die Anwendung der Gewalt verurteilt hat, diskreditiert, ja vielfach unterminiert worden. Daß dies wahrscheinlich nicht in ihrer Absicht lag, ist eine andere Frage. Aber — und das sollte nicht vergessen werden — die Männer, die jetzt vor den Schranken des Mailänder Schwurgerichtes stehen müssen, haben im guten Glauben gehandelt, um ihrer Heimat, die sie aus ihrer Sicht bedroht sahen, zu helfen. Daß ihr Idealismus, der unbestritten ist, mißbraucht, daß sie selbst irregeleitet und verhetzt wurden, daß sie dadurch zu fälschen und abzulehnenden Mitteln griffen, ist bedauerlich, ja zutiefst menschlich tragisch.

Die „Irrtümer Roms“

Es ist erfreulich, daß sich auch ein Teil der italienischen Presse um etwas mehr Aufgeschlossenheit gegenüber dieser „menschlichen Tragödie“, wie Senator Dr. Sand und auch Gerichtspräsident Dr. Simonetti das Schicksal der Angeklagten treffend genannt haben, zu bemühen scheint. In diesem Zusammenhang ist vor allem ein Artikel der Turiner „Stampa Sera“ erwähnenswert. In einem Artikel, der am Eröffnungstag des Prozesses erschien, schrieb das Blatt, daß auch von der italienischen Regierung durch all die Jahre schwere Fehler begangen worden seien. Es könne durchaus der Fall sein, daß diese Irrtümer Roms, die viel zu den bedauerlichen Vorfällen beigetragen hätten, im Verlaufe des Prozesses zum Vorschein treten würden. Man dürfe vor allem nicht vergessen, heißt es weiter, daß die Terroristen erst dann zu den Waffen gegriffen hätten, als sie sehen mußten. daß all die jahrelangen Verhandlungen ohne ein konkretes Ergebnis geblieben seien

Welch hoffnungsvolle neue Töne! Vor wenigen Jahren wäre eine solche Erklärung einer angesehenen italienischen Zeitung noch so gut wie undenkbar gewesen! Freilich legen nicht alle Blätter eine solche Objektivität an den Tag. Vor allem der Mailänder „Corriere della Sera“, das liberale Blatt mit der größten Auflage von ganz Italien, hat dem Gerichtshof schon vor der Eröffnung des Verfahrens empfohlen, sein Augenmerk nach Südtirol zu richten, wo sich die Lage ständig radikalisiere. Keiner der Angeklagten sei ein Märtyrer, deshalb sei Milde nicht am richtigen Platze. Dieser Auffassung hat sich auch — sollte dies ein Omen sein? — der regierungsfreundliche „Messaggero“ in Rom angeschlossen.

Der Bozener „Alto Adige“ beschäftigt sich mit dem politischen Aspekt des Prozesses und schreibt: „Der Mailänder Prozeß wird notgedrungen die rein juridische Ebene überschreiten müssen und einen eminent politischen Charakter annehmen. Die Tatsache, daß sich der Generalsekretär der SVP auf der Anklagebank befindet, sowie das Bestehen von Beziehungen zwischen den terroristischen Attentätern und wichtigsten Persönlichkeiten des österreichischen politischen Lebens (sic!) berechtigt zur Annahme, daß es zu scharfen Auseinandersetzungen und vielen Überraschungen kommen wird “

Die Absicht ist denn allzuklar: Auf der Anklagebank soll indirekt die Südtiroler Volkspartei, soll indirekt Österreich sitzen. Ob dieses Manöver allerdings von Erfolg gekrönt sein wird, ist eine Frage, auf die nur der weitere Verlauf dieses aufsehenerregenden Prozesses eine Antwort geben kann.

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