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Prozeß des Prozesses

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Nachdem im Mai und Juni 1968 das Schulwesen und die Statuten der Universitäten in Frage gestellt worden sind, zahlreiche Priester des Landes die allzugroße Autorität der Bischöfe bestritten habens ist nur eine einzige Einrichtung übrig geblieben, die handelt und denkt, als würden die Jahrhunderte spurlos dahingezogen sein. Beanspruchen die Rechtsvorstellungen Napoleons auch heute noch Gültigkeit? Wohl haben die Justizminister Capitant und Plėven versprochen, eine Reform der Justiz einxuleiten, doch sind es bisher nur Vorsätze geblieben.

Kann auch der Prozeß Deveaux kaum mit der Affäre Dreyfusverglichen werden, besteht doch die drückende Tatsache, daß jeweils vollkommen Unschuldige entehrt und jahrelang in Gefängnissen leiden mußten.

Wenn im Falle Deveaux von einer prinzipiellen Reform der Justiz gesprochen wird, mögen die Prüfungen des jungen Mannes (er verbrachte immerhin acht Jahre im Zuchthaus) dazu beitragen, daß die Justiz aus so tragischen Ereignissen eine Lehre zieht. Als Ende September 1969 der einstige Fleischhauergeselle Jean- Marie Devaux freigesprochen wurde, stellten die Berichterstatter fest, daß nicht ein gewöhnlicher Prozeß abrollte, sondern gewisse Praktiken der Justiz, Polizei und die Leichtfertigkeit der Sachverständigen angeklagt waren.

Am 7. Februar 1961

wurde die siebenjährige Dominique Bessard, Tochter eines ehrenwerten Fleischhauers in einem Vorort von Lyon, ermordet aufgefunden. Verschiedene Zeugen beobachteten einen Mann nordafrikanischen Typs in der Nähe des Tatorts. Niemand verdächtigte den Gesellen der Fleischhauerei, den 19jährigen Jean-Marie Deveaux, der nach allen zur Verfügung stehenden Unterlagen zur Zeit der Untat das mentale Alter eines Achtjährigen zeigte und sich als Mythomane gebärdete. Nach den ersten Aussagen Madame Bessards habe sie am Unglückstag Deveaux ab 15.10 Uhr ununterbrochen bei der Arbeit kontrolliert. Der Mord wurde erst um 15.20 Uhr begangen. Die Polizei untersuchte routinemäßig die Kleider und Hände Deveaux’ und konnte keinerlei menschliche Blutspuren finden.

Wochen später simulierte Deveaux im gleichen Keller einen Überfall. Er war der Meinung, man sage ihm den Mord nach, und glaubte, sich eine Entlastung zu schaffen. Durch diesen vorgetäuschten Überfall erregte er das Interesse der Polizei. Sie drohte ihm, „das Serum der Wahrheit “zu injizieren. Unter Drude gesetzt, wurde Deveaux soweit gebracht, ein einziges Mal ein Geständnis abzulegen. Er hat seine Aussage sofort widerrufen, sowohl im ersten wie im zweiten Prozeß

Die bequeme Polizei

Die Polizei hatte es nach dem Ge ständnis Deveaux’ unterlassen, anderen Spuren nachzugehen. Das wurde im zweiten Lyoner Prozeß heftig angeprangert. Der zuständige Inspektor Durin hat in seiner langatmigen Aussage die Jury nicht von der Korrektheit seiner Methoden überzeugen können.

Prozeß der Polizei, Prozeß der juridischen Untersuchung! Der Vorsitzende des ersten Gerichtshofes, der inzwischen verstorbene Roger Combos, sah seme Aufgabe keineswegs darin, über den Ereignissen zu thronen und die Argumente der Anklagebehörde mit denen der Verteidigung zu vergleichen. Er spielte sich als Superstaatsanwalt auf, mit nur einem Ziel, die Schuld des Angeklagten mit allen Mitteln zu fixieren. Richter Combos, Polizeikommissar Durin und der Staatsanwalt nahmen am Vorabend des ersten Prozesses im Hause des Mordes einen Lokalaugenschein vor, ohne die Verteidigung zu verständigen oder die Ergebnisse der Untersuchung aktenkundig festzuhalten. Drei Justizminister erkannten in diesem Vorgang einen schweren Verstoß gegen die Strafprozeßordnung. Entgegen der sonst üblichen Regel wurde Deveaux nicht etwa zu 20 Jahren verurteilt, weil man ihm seine Schuld nachweisen konnte, sondern weil er außerstande war, seine Unschuld zu beweisen!

Ein Prozeß der Sachverständigen

Professor Roche mußte im zweiten Verfahren zugeben, sich wahrscheinlich in seinem ersten Gutachten getäuscht zu haben. Als Entschuldigung nannte er die falsche Fragestellung der Justiz. Dadurch habe er das eigentliche Problem unrichtig eingeschätzt. Der Untersuchungsrichter hatte vorsichtigerweise eine Konterexpertise bei zwei berühmten Pariser Gerichtsmedizinem eingeholt. Ihnen wurden lediglich Photos des Opfers vorgelegt. Die beiden Professoren halben niemals die Leiche des Mädchens obduziert. Sie wurden weder im ersten noch im zweiten Prozeß als Zeugen vorgeladen.

Man hatte Deveaux ausschließlich auf Grund seines Geständnisses sowie des Gutachtens Professor Röches verureilt.

Deveaux fand in seinem Rechtsanwalt und dem Gefängnisgeistlichen Boyer wirkungsvolle Verteidiger. Beide waren vom ersten Moment an überzeugt, daß es sich im Falle Deveaux um einen Justizirrtum handle. Sie mobilisierten die Justizminister Joxe, Capitant und Plėvensowie die öffentliche Meinung. Die Justizbehörden ließen jedoch nichts unversucht, um einen zweiten Prozeß zu verhindern. Sie stolperten über eine Prozedurfrage, eben den geheimgehaltenen Lokalaugenschein vor dem ersten Prozeß.

Jean-Marie Deveaux konnte kürzlich seine Unschuld demonstrieren. Er wird wahrscheinlich für die acht Jahre Zuchthaus keine oder nur eine bescheidene Entschädigung erhalten.

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