6733672-1966_10_11.jpg
Digital In Arbeit

Psychologie der Revolution

Werbung
Werbung
Werbung

t’BER DIE REVOLUTION. Von Hannmh Arendt. R. Piper u. Co. Verlar, München. 43 Seiten.

Der Buchtitel „Über die Revolution” sagt schon, daß es sich um eine Gedankensammlung „über” die Revolution handelt und nicht um eine abgeschlossene Analyse des Phänomens Revolution. Genauer sollte der Titel eigentlich „Psychologie der Revolution” lauten, denn darum geht es der als gebürtigen Hannoveranerin in New York lebenden Verfasserin hauptsächlich, die Beweggründe und die Handlungsweise im Zuge der Revolution aufzuzeigen. Im Mittelpunkt steht die Verfassung der USA, Wie sie der Revolution von 1787 zu verdanken war, und diese Revolution gilt als Vorbild, da sie „der stolzen Überzeugung entsprang, ein Machtprinzip entdeckt zu haben, auf dem sich eine perpetual union gründen läßt… Diese Revolution ist nicht einfach ausgebrochen, sondern ist bewußt und in gemeinsamer Beratung entfacht und aus der festen Grundlage wechselseitiger Verpflichtungen und Versprechungen zu einem guten Ende geführt worden.” Der Leser empfindet es angenehm, daß allen Erörterungen eine Terminologiesäuberung vorangeht, so daß er stets über den Standpunkt des Autors im klaren ist. Die USA-Verfassung wird vor allem mit der französischen von 1791 verglichen, doch auch mit den Verfassungen beziehungsweise Revolutionen in England, Rußland, China, sogar Ungarn 1956; gleichzeitig wird das Altertum mit Athen und Rom nicht übersehen. Europäischen Verfassungen wird vorgehalten, sie hätten die amerikanische Verfassung nur dem Wortlaut nach kopiert; es hat „wie ein Fluch über den konstitutionellen Regierungen nahezu aller europäischen Länder gelegen; denn diese Unfähigkeit hatte zur Folge, daß eine Konstitution die andere jagte, so daß schließlich das Wort selbst lächerlich wurde … hatte sich Frankreich in weniger als hundert Jahren allein vierzehn Verfassungen geleistet.” Bei solcher Lage der Dinge bleibt zu bedenken, ob man überhaupt die USA-Verfas- sung ihrem Wesen nach mit anderen Verfassungen ohne weiteres vergleichen kann, ist sie doch ganz ausnahmsweise in geographischer Isoliertheit und aus völlig anderen Grundelementen geboren worden, als es im Verfassungsleben der anderen Kontinente der Fall war. Im Abwägen der amerikanischen und der Französischen Revolution sagt Arendt, die französische habe „trotz ihres Scheitems ungeheuren Einfluß auf den Gang der Weltgeschichte gehabt”, weil die französischen Denker, Philosophen und Theoretiker die Revolution „immer wieder überdachten und begrifflich zu verstehen trachteten”, während „der Mangel an theoretischer Klarheit eine der Hauptursachen für die weltpolitische Sterilität der amerikanischen Revolution gewesen ist”. Da die Autorin überwiegend angelsächsische Literatur benützt, wird sich der Europäer über die amerikanische Verfassung ein richtigeres Bild formen können, als bisher. Sehr eingehend wird der Begriff der Freiheit als Ziel und Rechtfertigung der Revolution untersucht, und wir lesen: „Freiheit als ein politisches Phänomen datiert von dem Entstehen der griechischen Polis.” Der Autorin ist Ludwig Freunds „Freiheit und Unfreiheit im Atomzeitalter” („Die Furche”, Nummer 20, 1964) noch nicht Vorgelegen, deshalb fehlt die Replik auf die Feststellung, es existiere keine allgemein verbindliche Deutung der Freiheit, und dabei wird es wohl bleiben. Freiheit ist nämlich nicht wie Tapferkeit von Achilles bis zum Kamikazepiloten unwandelbar, sie ist nichts anderes als frei sein von etwas, und dieses etwas ist in jeder Revolution etwas anderes, politisch oder weltanschaulich oder wirtschaftlich usw. Auch in der Polis war die Freiheit äußerst bedingt, haben doch die freien Bürger über die Unfreien, die leibeigenen Bauern und die Fremden geherrscht. Trotz solcher Bedenken sind jedoch die Betrachtungen über die Freiheit, wie sie Arendt bietet, eine wirklich dankenswerte und geistvolle Bereicherung einer die Weltgeschichte in Atem haltender Erscheinung. Hingewiesen sei noch auf die Kapitel über das Elend, denn „soweit die Erinnerung der Menschheit reicht, hat das menschliche Leben unter dem Fluch der Armut gestanden”, dann über Macht und Autorität, Gewalt und Recht, Religion und Tradition und wie die so unzähligen Kräfte heißen mögen, von denen das Handeln der Menschen diktiert wird, alles zweifellos lesenswert und oft beherzigenswert.

Die Verfasserin umrahmt ihr gehaltvolles Werk mit einer Einleitung „Krieg und Revolution” und einem Ausblick auf die Möglichkeit des Rätesystems. In der Einleitung wird, wenn auch zum Teil verklausuliert, behauptet, in Zukunft werde der Krieg als nicht mehr geeignetes Mittel zur Streitaustragung von der Revolution abgelöst werden, vor der Neuzeit habe es Revolutionen ,4m eigentlichen Sinne” nicht gegeben, die totale Kriegsführung habe erst mit dem ersten Weltkrieg begonnen, keine Regierung könne mehr eine Niederlage überleben und eine offen demonstrierte Rüstung genüge zum Nachgeben des Feindes. Im Rahmen einer Rezension ist es natürlich unmöglich, des Näheren auf diese Gedanken einzugehen, sie dürften aber mit Vergangenheit und Gegenwart mehrfach in Widerspruch stehen. Daß der Krieg seine Formen ändert, ist offenkundig, und zur Zeit bahnt sich eine seltsame Vermengung von konventionellem Krieg mit dem A.-B.-C.- und Raketenkrieg sowie mit dem Partisanenkampf („Revolutionskrieg”) an, und kaum vermag jemand die weitere Entwicklung eindeutig vorauszusehen. Wieweit

Kybernetik und Automation Frieden, Krieg und Revolution beeinflussen könnten, darüber hat Friedrich Wagner („Die Furche”, Nummer 5, 1965) das Nötige erörtert.

Der Blick in die Zukunft des Verfassungslebens ist nicht minder verschleiert. Die Autorin glaubt, im Gegensatz zu anderen, an Führungseliten, und daß beim Rätesystem „die Autorität weder oben noch unten ihre Quelle hat, sondern auf jeder Stufe der Pyramide gleichsam neu entsteht. Was immerhin die Richtung anzedgen mag, in welcher die Lösung eines der ernstesten politischen Probleme der Gegenwart, wie man nämlich nicht Freiheit und Gleichheit, sondern Gleichheit und Autorität vereinen kann, zu suchen ist.” Auf Seite 238 wird Rousseau zitiert, der das Problem, „eine Staatsform zu finden, die das Gesetz über den Menschen stellt”, dem Problem der Quadratur des Zirkels vergleicht und zur Lösung sagt, „il faudrait des dieux”. Das mag ein Wortspiel sein. Schafft aber Autorität nicht automatisch Ungleichheit?

Zu sagen wäre noch, daß das Buch „Über die Revolution” bloß für Nordamerika-Europa gelten kann, nicht aber für die Menschheit, die nicht aus gleichartigen Teilen besteht, keine „handgreifliche Realität” ist und die sich von den Buschmänner auf sozusagen vorgeschichtlicher Stufe in unzähligen aufsteigenden Differenzierungen bis zu den höchsten Kulturvölkern erstreckt und nur ganz ausnahmsweise Raüm und Freiheit zur Herbeiführung einer Gleichheit bietet.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung