6640858-1957_44_12.jpg
Digital In Arbeit

Räder rollen für das Defizit

Werbung
Werbung
Werbung

1.

Wien 1840. In der Nähe des jetzt als halbe Ruine dahindämmernden Nordwestbahnhofes wird die Vergnügungsstätte „Universum“ aufgemacht. Für ihre Besucher baut man zwischen Donaukanal und Etablissement eine Pferdeeisenbahn — etwa eineinhalb Kilometer lang. Zwei Jahre später stellt die Zufahrt zum „Universum“, die erste Pferdeeisenbahn in Wien, ihren Betrieb ein. Erster Meilenstein.

Wien 1864: An eine Genfer Baugesellschaft wird eine Konzession für ein Pferdebahnnetz erteilt. Eine Probelinie mit 3,5 km Länge, vom Schottentor nach Hernals, befährt der erste Wagen im folgenden Jahre. Der weitere Ausbau mit Strecken Ringstraße—Prater und Mariahilfer Straße—Penzing wird von der neugebildeten Wiener Tramwaygesellschaft durchgeführt, mit der die Gemeinde 1868 einen Vertrag auf 35 Jahre schließt. Von den Bruttoeinnahmen sollten an die Gemeinde Wien fünf Prozent ab-geliefert und außerdem je Sitzplatz eine Steuer von einem Gulden errichtet werden. An der Wiege der Straßenbahn standen betriebsfremde Ausgaben. Zweiter Meilenstein.

Wien 1873. Im Jahre der Weltausstellung. Im Jahre des Krachs. Das bekannte Debakel bedeutete für die Tramway eine Fahrpreiserhöhung wahrscheinlich die erste ihret Geschichte und eine Verminderung der NutZkilonieferleistüng wahrscheinlich nicht die letzte ihrer Geschichte sowie eine Herabsetzung der Löhne das gab’s nur einmal, das kömmt nie wieder. Dritter Meilenstein.

Wien, 28. Oktober 1898. In der Sitzung des Gemeinderates sprach Bürgermeister Dr. Karl Lueger die später noch mehrfach zitierten Worte: „Die Geschichte der Wiener Tramway ist eine Leidensgeschichte zu nennen.“

Wien, 4. April 1902. Im Handelsregister erscheint die Firma: „Gemeinde Wien — städtische Straßenbahnen“. Vierter Meilenstein.

2.

In das Jahrzehnt zwischen 1903 und 1913 fällt ein Großteil der Neubauten. Das Bahnnetz mit einer Betriebslänge von 163 km und 338 km Gleislänge am 1. Juli 1903 wächst bis 1913 auf 241 km Betriebslänge mit 542 km Gleis. Die jährliche Wagennutzleistung erhöhte sich in diesem Zeitraum von 43 auf nahezu 100 Millionen Kilometer und die Beförderungsleistung von 158 auf 325 Millionen Fahrgäste. Im Jähre 1937 transportierten die Wiener Verkehrsbetriebe 489,4 Millionen. Das entsprach, auf die damalige Bevölkerungsziffer verteilt, jährlich 261 Fahrten je Kopf. 1954 entfielen schon 315 Fahrten auf einen Einwohner der Stadt. Die Inanspruchnahme der Verkehrsmittel ist also größer als vor dem zweiten Weltkrieg. Der Grund liegt nicht allein in den Beschäftigtenzahlen, sondern in der bevölkerungspolitischen Verteilung, in der Divergenz zwischen Wohnung und Arbeitsplatz, die, das darf man bei aller Betrachtung nie außer Acht lassen, in der Zukunft noch wachsen wird.

3.

Leistung eines Betriebsinhabers und Forderung nach Entgelt dafür stehen, privatwirtschaftlich gesehen, in Zusammenhang. Hierzu kommt die Größe der Nachfrage. Von dieser her kann es keine Klage geben, auch wenn man den Individualverkehr Kraftfahrzeuge in Betracht zieht. Selbst wer in propagandistischer Absicht graphisch die steil aufsteigenden Zahlen der Kraftfahrzeuge und die Kurve der Beförderungsfälle je Einwohner und Kilometer übereinanderzeichnet, muß zugeben, daß zwischen den beiden Linien ein unnatürlich großer Zwischenraum bleibt. Dieser kann, zum Teil wenigstens, zur Leistung des Betriebsinhabers in Beziehung gesetzt werden. Ein Symbol für den absteigenden Ast der qualitativen Leistung ist die Beschaffenheit des Wagenparks, für den quantitativen Abstieg zeugt die Streckenführung.

4.

Die technische Seite: 486 Beiwagen zählte man 1955, die aus Baujahren zwischen 1905 und 1913 stammen; 380 Triebwagen aus den Jahren 1900 bis 1903 standen 29 aus dem Jahre 1954 gegenüber! Die Streckenführung: Es gibt Linien, von denen nur noch die Gleise künden, andere wieder, die eine Verkürzung erfuhren. Es gibt kein Signal „3“, kein „4“, kein „34“, keine Linie „M“, keine „N“, „Nk“, „V“ mehr. Die Stadtbahn verzichtete auf den gemischten Betrieb des „18 G“, die Zufahrtsrampen bei der Gumpendorfer Straße liegen tot, die Zugangsgeleise für die verkürzte Strecke „18 G mit Querstrich“ zwischen Alser Straße und Währin- ger Straße verschwanden überhaupt. Das Kronbeispiel für die schrittweise Amputation einer Linie ist die Linie „60". Zur Zeit der Monarchie noch eine Verbindung zwischen Schwarzenbergplatz und Mauer, wurde später die Strecke auf Kaiserstraße—Mauer verkürzt und geht heute von der Hietzinger Brücke weg, wohin die Kohlennot von 1918 gezwungen hatte. Das bedeutet in diesem Falle eine quantitative Minderleistung um fast 50 Prozent. Die Linie „57", früher bis Hietzing fahrend, endet heute in der Sechshauser Straße. Die Linie „L" hat man, was den Streckenteil zwischen Schönbrunn und Rudolfsheim betrifft, zu einem Sonn- und Feiertagsvergnügen gemacht. „59", einstmals vom Neuen Markt beziehungsweise der Oper nach Lainz verkehrend, ist nur in den „Verkehrsspitzen“ zu sehen und steht auf der kommenden Einsparungsliste. In die Gruppe „Quantität“ gehört auch die Beschickung mit Beiwagen.

5.

Ein Plan zur Reorganisierung des Wiener Schienenverkehrs hätte zu umfassen: 1. die Abgrenzung der Einflußzonen der Verkehrsmittel; die Rationalisierung des Netzes durch zweckmäßigere Linienführung und Haltestellen; Maßnahmen zur Trennung des Oberpflaster- verkehrS vom übrigen Straßenverkehr und Schaffung der zweiten Verkehrsebene Untergrundbahn; 4. Einbeziehung der Vorortelinie, der Verbindungsbahn und der Donau-Uferbahn ins Stadtbahnnetz als zweiten Schnellverkehrsring. Die Anlagen sind da, warum läßt man den Stahl rosten und die Schwellen verfaulen? 5. Erneuerung der Fahrzeuge; 6. gestaffelte Finanzbeschaffung; 7. Umgestaltung des Tarifs unter sozialen Gesichtspunkten. Die Kommunalisierung hatte seinerzeit den Sinn, die soziale Aufgabe des öffentlichen Verkehrsmittlers -zu bewahren. Es ist nicht populär, zu sagen, man möge lieber einige Wohnbauten zurückstellen und die freiwerdenden Mittel der Reorganisation des Verkehrs zuzuwenden. Unsozial! hört man schon schreien. Nun, ist es etwa sozial, den Arbeiter einen beträchtlichen Teil seiner Freizeit auf den mangelhaft angelegten Verbindungen verbringen zu lassen, und ihm 'zum Zeitvertreib eine Straßenbahn-Illustrierte neben den allfälligen Sitzplatz zu hängen?

6.

Die „kostendeckenden Tarife" werden eben beraten. 1927 betrug der Preis eines Tagesfahrscheines 28 Groschen. Nimmt man den ansonst üblichen Valorisierungsfaktor 10, käme der Fahrschein auf 2,80 S. Hält man sich aber an das letzte Jahr vor dem Kriege, würde der „zeitgemäße" Preis 3,50 S ausmachen. Aber auch damals hat es einen Abgang gegeben: Einnahmen von 109,9 Millionen stand ein Erträgnis von 102,9 gegenüber — freilich ein wesentlich günstigeres Bild als heute, wo der Abgang mehr als das Doppelte der damaligen Einnahmen beträgt. Man verweist uns auf die Personalkosten. Zwei Drittel bis drei Viertel der Einnahmen entfallen auf Löhne und Pensionen. Man verweist uns weiter darauf, daß bei einem Normalpreis von 1,90 S die durchschnittliche Einnahme nur 1,26 S beträgt und sagt, daß vor dem ersten Weltkrieg kostendeckende Tarife da waren, weil es keine Sozialbegünstigungen gab.

Eine leitende Persönlichkeit der Stadtwerke erwähnte gesprächsweise, daß die Verminderung um ein Prozent des ermäßigten Preises für die Wochenkarte drei Millionen eintrüge, und verweist auf die Refundierung der Sozialbegünstigungen.

7.

Lins ist nicht wohl bei solchen Diskussionen, Wir empfinden das Feilschen über die Köpfe der sozial Bedürftigen und niemand leugnet, daß Arbeitslose, Rentner, Kriegsversehrte, Fürsorger und andere ein Recht auf Begünstigung haben als überaus peinlich. Redet man bei Krediten, bei Finanzausgleichen von einer „Bettelsuppe", dann müssen sich die sozial Befürsorgten erst recht als Verkehrsbettler fühlen. Grundsätzlich: es ist zweifellos nicht Sache der Verkehrsbetriebe, die finanziellen Lasten für die Sozialbegünstigungen auf sich zu nehmen. Das ist Sache derer, die für sie eintreten: Gemeindeverwaltung und Bund. Der Bau einer Untergrundbahn und der Bau von Schnellbahnen kann nur als Gemeinschaftsleistung ermöglicht werden. und das nur durch die Verteilung der Lasten auf längere Zeit. Diese Aufschlüsselung und die Neugestaltung der finanzpolitischen Lage gehören mit zur Lösung der prekären Wiener Verkehrsverhältnisse! Und vor allem die grundlegende Erkenntnis: Die Straßenbahnen sind kommunalisiert worden, um der Allgemeinheit zu dienen und sie privatwirtschaftlichen Spekulationen zu entziehen. „Kostendeckende Tarife" im Sinne der Privatwirtschaft wird es kaum je geben, sollen die Straßenbahnen das bleiben, als was sie geschaffen wurden: Beförderungsmittel des kleinen Mannes. Die Verkehrsbetriebe erfüllen einen öffentlichen Auftrag, eine soziale Funktion. Die Gemeinde hat in ihrem verzweigten Wirtschaftsbetrieb Möglichkeiten genug in der Hand, Fehlbeträge auf der einen Seite weitgehend durch Ueberschüsse abzudecken. Gestern, heute und morgen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung