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Randbemerkungen ZUR WOCHE

Der neue Justizminister hat nach seinem Einzug in den Justizpalast eine Erklärung abgegeben, die nicht Unwider- I sprachen geblieben ist. Man hat sich van einem sozialistischen Justizminister erwartet, er werde in seiner Antrittsrede auf die Nöte weiter Kreise der Bevölkerung eingehen. Dies ist, mit Ausnahme der Ankündigung eines Kartellgesetzes, leider unterblieben. Unberücksichtigt blieb das allgemein verbreitete Gefühl der Rechtlosigkeit gegenüber dem Staatsapparat, ohne Erwähnung die Unsicherheit der Massen, die sich im Bereich ihres täglichen Lebens von einer Unzahl von Strafdrohungen umstellt sehen Die Straf justiz gänzlich von dem Erbe des Polizeistaates freizumachen, diese Aufgabe wäre der Mühe des neuen Inhabers des Justizportefeuilles wert. Außerdem gibt es noch eine Anzahl offener Fragen der Ge- I setzgebung und Rechtspflege, denen sich der Justizminister hätte stellen sollen. D i e Benachteiligung der Frauen durch das deutsche Eherecht, das einer schuldlos geschiedenen Frau nur dann finanzielle Ansprüche zuerkennt, wenn sie selbst nicht erwerbstätig ist, wäre mitsamt der ganzen Ehegesetzgebung einer größeren Beachtung wert als die zum Fenster hinaus gesprochene Ersetzung der väterlichen durch die elterliche Gewalt, ein Schlagwort aus der Sufragettenzeit, das durch Gesetzespraxis schon lange nicht mehr zur Diskussion steht. Kein Wort fiel von der endgültigen Verabschiedung der Ausnahmsgerichtsbarkeit durch die Volksgerichte, von einer Klärung und Neukodifizierung des Miet- und Pachtrechtes, dessen unzählige, zwischen 1939 und 1945 erlassenen Verordnungen nur Fachexperten verständlich sind.' Auch auf ein neues Pressegesetz, das den Bedürfnissen einer neuen, modernen Demokratie entspricht, wartet nicht allein die österreichische Journalistik schon lange.

Die Gebietskrankenkasse sieht sich „aus Ersparungsgründen“ gezwungen, von den ungefähr 1500 Medikamenten, die Krankenversicherte gegen Rezept auf Rechnung der Kasse beziehen können, 450 sogenannte Spezialitäten — darunter wichtigste Medikamente — auszunehmen und ihre Verabreichung an eine besondere chef- oder gruppenärztliche Genehmigung zu binden. Das heißt also, daß die Krankenkasse in ihrem kalten Krieg gegen die Apotheker eine neue Schlacht schlägt, die wieder einmal vor allem der Kranke bezahlen wird. Durch Umwege, durch Erschwerungen des Arzneibezuges, durch Anstellen bei den Chefärzten in den Ambulatorien und Spitälern, durch vorauszusehende bürokratische Erschwerungen. Daß damit gleichzeitig auch wieder die Handlungsfreiheit der Ärzteschaft beeinträchtigt wird, braucht wohl nicht ausgeführt zu werden. — Es erhebt sich die Frage, ob das beträchtliche Defizit der Krankenkasse durch Sparmaßnahmen solcher Art — bei Medikamenten! — zu beheben sein wird; der Kampf gegen die Apotheken, um die Verstaatlichung der Krankheit gewissermaßen, hat unter anderem dazu geführt, daß die Kasse eine Apotheke in der Inneren Stadt um den Betrag von 1,2 Millionen Schilling gekauft hat und weitere fünf Millionen noch hineinstecken will; es soll auch der Plan bestehen, Bezirksauslieferungsstellen für Medikamente zu errichten. Mit Sparsamkeit haben die hier sichtbar werdenden Machtbestrebungen nichts zu tun und noch weniger mit dem Interesse der leidenden Menschheit.

Die Wiener Tagung der M itt el s chul- l ehr er befaßte sich mit der bedrängten Lage dieses Berufszweiges. In der Tat hat jedes Lohn- und Preisabkommen die Lage der Mittelschullehrer — und die der meisten geistig Schaffenden, so fügen wir hinzu — erheblich verschlechtert. Auf der Tagung wurde gesagt, daß mehr als die Hälfte der Lehrer, darunter viele Familienväter, Monatsbezüge zwischen 630 und 850 Schilling haben. (In Parenthese gesagt: Arbeiter auf den Ölfeldern von Zistersdorf können Löhne bis zu 3000 Schilling erreichen. Dies zum Vergleich.) Die Tagung forderte zur Abstellung dieser bedrückenden Umstände die Durchführung verschiedener Maßnahmen. Die Bescheidenheit dieser Forderungen stach sehr wirkungsvoll von dem Ton ab, in dem beispielsweise die ganz Linke Lohnforderungen zu stellen oder anzuempfehlen pflegt... Hoffentlich trägt diese Bescheidenheit Zinsen; sie verdient es, denn sie ist noch ein moralisches Kapitel der Gemeinschaft, das ohnehin immer seltener wird.

Die deutsche S ozialdemokratie unter ihrem eigenwilligen Führer Dr. Schumacher hat es wirklich nicht leicht, eine klare politische Linie zu finden. Einerseits ist sie bemüht, aus ihrer Oppositionsstellung möglichst viel propagandistisches Kapital zu schlagen, indem sie der Regierung Adenauer allzu große Nachgiebigkeit gegenüber den Alliierten vorwirft, andererseits möchte sie die „Rechtsregierung“ gerne als „nationalistisch“ verketzern und schließlich, doch nicht zuletzt, muß sie auch noch auf die Wünsche ihrer großen Beschützerin, der englischen Labourregierung, Rücksicht nehmen, deren wenig glückliche Besatzungspolitik unter. den drei Besatzungsmächten bei der westdeutschen Bevölkerung nicht gerade den Vogel abgeschossen hat. Zu alldem bemerken die hellhörig gewordenen Deutschen immer wieder die manchmal verblüffenden Parallelen zwischen dem nationalen Sozialismus der Engländer und dem ehemaligen deutschen Nationalsozialismus, vor allem in der Wirtschaftspolitik. Aus allen diesen Rücksichten und Komponenten ergibt sich der eigenartige Zickzackkurs der sozialdemokratischen Oppositionspolitik — besonders auffällig in diesem Zeitpunkt, da die Regierung Adenauer ihre ersten Erfolge in dem Verhältnis zu den Westmächten vor allem in der so wichtigen Demontagefrage zu verzeichnen hat. Wahrscheinlich wäre eine dem doch noch andauernden Not- und Ausnahmezustand entsprechende Koalitionsregierung der großen Parteien — wie sie sich trotz aller Schwierigkeiten und Spannungen bisher in Österreich bewährt hat — auch für Westdeutschland vorderhand eine bessere Lösung gewesen als die jetzige Konstruktion, welche die christlichen Parteien auf die liberalen Demokraten angewiesen hat.

Nahezu fünf Jahre nach Kriegsende warten noch immer Hunderttausende deutscher Gefangener in russischer Kriegsgefangenschaft auf die Heimkehr. Allein in bekannten Lagern in der Sowjetunion befanden sich — wie bei einer Pressekonferenz der Kriegsgefangenenfürsorge der SPD in Hannover bekanntgegeben wurde — Ende Oktober dieses Jahres nahezu eine halbe Million Kriegsgefangener. Die Gesamtzahl der in Rußland und den Oststaaten noch immer zurückgehaltenen , Kriegsgefangenen wird auf eine Million (darunter etwa 90.000 Frauen!) geschätzt. Die bisherigen Menschenverluste in den Gefangenenlagern aber reichen mit rund zwei Millionen Toten an die gesamtdeutschen Verluste auf den Schlachtfeldern heran. Eine halbe Million, eine Million, zwei Millionen, Zahlen, die für die meisten Menschen schon jenseits der Grenze der Anschaulichkeit und Vorstellbarkeit liegen. Nüchterne Zahlen, um das Unmaß menschlichen Leidens zu umfassen, eines Leides und Unglücks, das sich Menschen heute noch gegenseitig antun, während bei der Grundsteinlegung zum neuen Prunkpalast der Vereinten Nationen in der 42. Straße in New York die Vertreter von Ost und West liebenswürdige Worte, freundliche Händedrücke und große Worte über Freiheit und Menschenrecht tauschen. Eine halbe Million, eine Million, zwei Millionen Menschen, hinter Stacheldraht zusammengepfercht, weniger wert als ein Tier. Und am Schicksal fast jedes einzelnen dieser Millionen hing und hängt das Lebensglück ihrer Familien.

Das Organ der russischen Besatzungsmacht glaubt, die ganze Sache dadurch erledigen zu können, daß es in einer kurzen Glosse darauf hinweist, daß in einer anderen Meldung noch höhere Zahlen genannt werden.

Der Staat Israel ist noch sehr jung, aber Sorgen hat er wie ein alter, und der Beschwerden gibt es mehr, als ihm zuträglich sein dürfte. In Wien erscheint jetzt ein neues zionistisches Blatt — das dritte „Die Tat“, mit einem Titel in hebräischem Text, die letzte Nummer datiert vom „1. Kislew 5710 (22. November 1949)“. Darin klagt das Blatt „die Kriegsverbrechen der heutigen jüdischen Regierung“ an und stellt in Israel eine „unerträgliche Atmosphäre“ fest. „Man muß fest arbeiten, um das Leben zu fristen. Aber dies wäre nicht das Schlimmste — schwerer ist es, Arbeit zu finden, trotzdem es genügend Arbeitsmöglichkeit gäbe, wäre die Organisation besser. Zehntausende leben in Zeltlagern, und die Regierung versorgt sie nicht genügend, placiert sie nicht. Die Führung ist schlecht. Es ist schwer, Unterkunft zu finden, und das Tempo des Aufbaues ist langsam. Mit einem Wort: traurige Nachrichten kommen aus unserem Lande, und diese Nachrichten sind wahr." Eine feige und engstirnige Führung sei die Regierung Gurian. „Nach all derf Kämpfen und entscheidenden Siegen über unsere Feinde leben wir heute in einer Karikatur von einem Staate." — Vor dem Essen, als noch der arme Prinz Bernadotte lebte und Hunderte von Menschen noch nicht, wie später in Attentaten, zugrunde gegangen waren und noch eine paradiesische Fata Morgana in den Lüften gaukelte — ja damals, vor dem Essen, las man’s anders.

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