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Randbemerkungen zur woche

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Mit Karl S eitz ist eine der letzten großen Persönlichkeiten aus der bewegten Geschichte des Aufstieges der österreichischen Sozialdemokratie dahingegangen, ein Mann, der vom Tage an, da er als erster und einziger sozialdemokratischer Abgeordneter in den niederösterreichischen Landtag gewählt wurde, durch ein halbes Jahrhundert fast ununterbrochen im Vordergrund der politischen Bühne, unserer Bühne, gestanden ist. Auch wer die von Seitz und seinen Parteifreunden vertretenen Grundsätze nicht immer teilte, mußte sich in Achtung vor dem menschlichen und politischen Format des Mannes neigen. Vor dem menschlichen ,— jener sympathischen Mischung von Zucht und Temperament, Gentleman und Parteimann, die im bewegtesten politischen Kampf der Gegner niemals auf Ritterlichkeit und Vertragstreue vergaß. Vor der politischen — jenem beispielhaften Aufstieg vom Arme-Leut-Kind zur repräsentativen österreichischen Persönlichkeit, ersten Präsidenten der ersten Republik, Bürgermeister von Wien und Vorsitzenden der Partei; eine Persönlichkeit, noch geprägt und geformt in den letzten Jahrzehnten der alten Monarchie, im österreichischen Reichsrat, dieser Hochschule parteipolitischer Taktik und Ethik, bewährt im sturmbewegten Auf und Ab der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und in Not und Gefahr der nationalsozialistischen Verfolgung. So ist der Weg der österreichischen Sozialdemokratie von der revolutionären Oppositionspartei zur verantwortlichen, mitbestimmenden Größe in staatlichen und kommunalen Aufgaben unlöslich mit dem Leben Karl Seitz' verbunden. Sein Wirken reicht über seinen Tod hinaus. Man wird es vielleicht später einmal als das große Glück für die österreichische Sozialdemokratie bezeichnen, daß sie in den ersten schweren Jahren der zweiten Republik, ihrer führenden Köpfe und Kämpfer vorerst beraubt, von Männern Wie Karl Seitz und seinen Altersgenossen wenigstens das Erbe staatspolitisch reifer, aus Leid und Erfahrung gewonnener Anschauungen übernehmen konnte.

Der 30. Jänner, ausgerechnet der 30. Jänner, an dem das vergangene Regime den Jahrestag seiner „Nationalen Revolution“ des Jahres 1933 feierte, schien einer Gruppe, die sich „Nationale Li g a“ nennt, der geeignete Tag, vor die Öffentlichkeit zu treten. Die kleine Runde — nicht mehr als hundert Personen waren Zeugen ihres Starts — verdient weniger wegen ihrer Bedeutung Beachtung, als ob ihres eigenartigen politischen Klimas genaue Beobachtung: Ein Programm wurde verkündet, das einzig und allein in der Terminologie sich von dem Konzept der extremen Linken unterscheidet. In die Diskussion gestellt, wies der Redner den Vorwurf kommunistischer Agitation mit dem Argument zurück, daß er SS-Offizier der Standarte „Der Führer“ gewesen sei. Treffpunkt der Bankrotteure zweier Totalitarismen! Bezeichnender als alle Worte aber ist die Tatsache, daß die kommunistische Presse, sonst eifrig bemüht, überall „Neonazismus“ zu wittern, von der „Nationalen Liga“ bis heute keine Notiz genommen hat. In Deutschland heißt der große Versuch, die Reste der extremen Rechten mit der extremen Linken auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, „Nationale Front“. In Österreich wurde, bei ganz anderen und für das Unternehmen viel schlechteren soziologischen Voraussetzungen, dieselbe Aufgabe offenbar der „Nationalen Liga“ zugeteilt.

Durch die Mitteilung des Präsidenten des Wiener Jugendgerichtshofes über das fühlbare Absinken der Jugendkriminalität in Wien sind glücklicherweise die pessimistischen Voraussagungen derer widerlegt, die uns schon jede Hoffnung auf eine rasche sittliche Gesundung der durch Krieg und Nachkrieg verwahrlosten Jugendlichen nehmen wollten. Wenn zu Beginn des Jahres 1950 nur mehr 60 Jugendliche in Haft waren, während man zu Anfang des verflossenen Jahres noch 180 verzeichnen mußte, wenn die Zahl der angeklagten Jugendlichen von 2551 im Jahre 1948 auf 1328 im Jahre 1949 gesunken und ganz allgemein ein sehr starker Rückgang der Kapitalverbrechen jugendlicher Gesetzesbrecher eingetreten ist, so darf dies gewiß als ein verheißungsvolles Symptom gewertet werden. Ein gewichtiger Anteil an diesem Genesungsprozeß kommt natürlich der Normalisierung und Konsolidierung der äußeren Lebensverhältnisse zu, aber man sollte sich doch nicht vorschnell dazu verleiten lassen, die Wirksamkeit der erzieherischen Faktoren, die allmählich wieder weit stärker als in den ersten Nachkriegsjahren auf die Formung der jugendlichen Meeschen Einfluß gewinnen, gering zu schätzen. Freilich wirken diese Faktoren im Verborgenen und entziehen sich durch-| aus der öffentlichen Schau, aber ohne ihre

Aktivierung hätte die Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse den moralischen Verfall kaum entscheidend aufzuhalten vermocht. Eine lediglich äußere Begründung des Rückgangs der Jugendkriminalität könnte leicht dazu geneigt machen, das sittliche Niveau unserer Jugend ausschließlich von den Verbrechensstatistiken abzulesen. •

Die temperamentvollen Diskussionen über das „Problem Stephansplatz“ dauern fort; nunmehr haben sich auch Tages- und andere Wochenblätter mit Elan des Themas bemächtigt, das so lange in der Luft schwebte und der Bevölkerung Wiens so sehr am Herzen liegt — und es dürfte in der Tat wenig hörenswerte Stimmen mehr geben, die nicht um ihre Meinung über die zukünftige Gestaltung des Philipp-Haas-Hauses befragt worden wären. Dabei stellte sich heraus — und das ist geradezu ein Unikum in der Baugeschichte Wiens —, daß so gut wie ausnahmslos alle Befragten grundsätzlich derselben Meinung waren: Kein Hochhaus oder hohes Haus an der Graben - Stephansplatz-Ecke, keine Uberbrückung der Goldschmiedgasse, keine Rückverlagerung des Baublocks. Sondern: Beibehaltung der alten Maß- und Größenverhältnisse, einfache, des Doms würdige Architekturformen, womöglich Beibehaltung der alten Eckenrundung. Es äußerten sich in diesem Sinne maßgebende Kunsthistoriker, der Dombaumeister, Denkmalpfleger, bedeutende Architekten, Kritiker und Volksmeinung. Selbst politisch einander völlig entgegengesetzte Parteizeitungen stellten dieselben Forderungen! Merkwürdig, wenn auch nicht mehr ungewohnt, bleibt das Verhalten der Baudirektion der Stadt Wien und des Stadtplanungsamtes, die sich offensichtlich nur ungern in Auseinandersetzungen einlassen möchten — was gewiß zu bedauern ist; denn gerade dieses Bauproblem bedürfte dringend einer offenen und eingehenden Aussprache, an der sich beide Seiten beteiligen. Man vermißt, sagen wir es kurz, eine Enuntiation der Bauämter, aus der hervorgeht, ob sie die öffentliche Meinung in Rechnung zu stellen gedenken oder nicht. Im ersteren Fall wäre zu erwarten, daß die Diskussionen in das Stadium der Fruchtbarkeit eintreten könnten, freilich auch, daß die amtlichen Projekte revidiert würden. Im anderen Fall ergäbe sich die groteske Situation, daß einige beamtete Architekten ein Gebäude errichten, gegen welches Dutzende von Fachleuten und hunderttausende Laien nachdrücklichst Protest erhoben haben. Die karge Mitteilung der zuständigen Stellen, nach welcher die Entscheidung des Fachbeirats — der bis jetzt zu keiner einhelligen Meinung kam oder dessen Sitzungen sich von Termin zu Termin verschoben — abgewartet werden müsse, vermag jedenfalls nicht zu befriedigen.

Die internationale Politik verzeichnet im letzten Jännerabschnitt eine zeitliche Z u-sammenballung schwerst-wie g ender Ereignisse. Das erste war der Auftrag Präsident Trumans an die amerikanische Atomenergiekommission, die Superatombombe auf Wasserstoffbasis auszuarbeiten, das zweite war die Anerkennung der revolutionären Bewegung Ho-Chi-Minhs in dem der Souveränität der Französischen Union unterstehenden Indo-china durch die Sowjetunion und das dritte die Enquete der UNO über die herannahende Weltwirtschaftskrise. Die beiden erstgenannten Ereignisse entsprechen dem heute herrschenden System der kommunizierenden Röhren in der Sphäre des weltpolitischen Geschehens. Die in der neuen Atombombe gefesselte und zur Entfesselung bereitgestellte Energie bietet nach den Aussagen der Sachverständigen keinerlei Möglichkeiten zu friedlicher Verwendung mehr, hingegen gibt sie die Möglichkeit zu unbegrenzter Zerstörung. Das Pendant im Fernen Osten ist eine politische Atombombe ebenfalls unbegrenzter Ausweitungsmöglichkeiten. Das Gutachten der UNO über die Abdämmung der angekündigten Wirtschaftskrise liefert hingegen einen ebenso kühnen wie friedenssichernden Vorschlag zur Beseitigung der schwebenden Wirtschaftsgefahren und ist somit ein Zeichen, daß sich der menschliche Geist noch nicht restlos aus den Gefilden eines loyalen Denkens entfernt hat. Jedes ins einzelne gehende Urteil über die beiden vergangenen Wochen wäre jedoch angesichts der offenkundigen Tragweite der Geschehnisse voreilig, lediglich der Gesamteindruck über die Ouvertüre der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts läßt sich in die Worte Piatos zusammenfassen: „Die menschlichen Angelegenheiten sind zwar großen Ernstes nicht wert, es ist aber nun einmal notwendig, ernst zu sein; ein Glück ist es jedoch nicht.“

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