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Randbemerkungen ZUR WOCHE

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IM „KLEINEN“ WAHLJAHR 1954 hat eine Art Parteien-Wettlaut um die „Palme des sozialen Fortschritts" eingesetzt. Und es scheint, daß dies der guten Sache auf einem seltsamen Umweg immerhin etwas nützt, wenn es sich auch meist mehr um eine „schöne Geste“ handelt, da die „Welt“, versteht sich, bereits vorher vergeben wurde. Dieser Wettlauf führt zu sonderbarem Zusammentreffen. Eine Partei lauert der anderen auf und bringt, wenn sie von der „bösen Absicht“ des Gegners Wind bekommt, rasch einen gleichartigen Antrag ein, um gerade noch eine halbe Nasenlänge vor dem Konkurrenten durchs Ziel zu gehen. So geschehen zuletzt wieder beim Familienlastenausgleich, wo aber immerhin noch zwischen den beiden Anträgen ein Substanzunterschied festzustellen ist. Was soll aber der Leser Wähler sagen, wenn am gleichen Tage beide Regierungsblätter nahezu gleichlautende Initiativanträge ihrer respek- tiven Fraktionen veröffentlichen, nach denen Kindern auf den Wiener Städtischen Verkehrsbetrieben Fahrtbegünstigungen erteilt werden sollen? Wer hat da von wem „abgeschrieben“? Und wer hat da „aus der Schule geschwätzt"? Es sollte sich doch herumgesprochen haben, daß der Wähler, dessen Äug’ und Ohr damit erfreut werden soll, nicht so urteilslos ist, wie man es gerne wahrhaben möchte. Er will nicht „Gelegenheitsgeschenke“, auch nicht „starke Männer", sondern „starke Programme“, die nicht nach dem jeweiligen Tagesbedarf entstehen und von Persönlichkeiten ruhig aber zielsicher vertreten werden.

DER DANKENSWERTE PLAN EINER AUFBESSERUNG DER ALTERSRENTEN hat u. a. auch das ernste Problem der Stillegung bisheriger Renten unter bestimmten Voraussetzungen wieder aufs Tapet gebracht. Ein solcher Schritt bedürfte nach wie vor gründlicher Ueberlegung. Würde es sich um Versicherung bei einem privaten, auf privatrechtlicher Grundlage aufgebauten Institute handeln, so läge die Sache vollkommen klar. Maßgebend wäre der Versicherungsvertrag. Das Institut könnte ihn unter keinen Umständen einseitig abändern, mithin auch die Leistung nicht hinterdrein von irgendwelchen, im Vertrage nicht vorgesehenen Bedingungen abhängig machen. Gegebenenfalls stünde dem Bezugsberechtigten die Klage offen und das Institut würde vor jedem Gerichte sachfällig. Nun ist die Sozialversicherung nicht eine private, sondern eine Einrichtung des öffentlichen Rechtes. Das Gesetz suppliert den Vertrag und damit auch den Vertragswillen der Kontrahen- ! ten, muß sich daher bei seiner Fortbildung und i Handhabung im Sinne der Rechtskontinuität im Rahmen dieses gemeinsamen Vertragswillens halten. Immerhin wird man hier dem Staate größeren Einfluß als einer privaten Institution 1 einräumen müssen. Gerade wegen dieser seiner universellen Machtstellung aber steht der Gesetzgeber anderseits unter einer weit stärkeren als bloß privatrechtlichen’ Bindung: unter der des staatlichen Ethos. Das, wofür gerade er wegen Rechtsverletzung nicht beim Gerichte belangt werden kann, muß er vom Standpunkte des sittlichen Bewußtseins aus Eigenem um so sorgfältiger vermeiden, wenn nämlich darin ein Akt der Untreue liegt. Unter diesem Gesichtspunkte aber kommt man zwangsläufig zu einer klaren Unterscheidung: Der Staat kann als oberster Patron der gesamten Institution und als zuzahlender Faktor unbedenklich erklären: Die in Aussicht genommene Aufbesserung erhält nur derjenige, bei dem nicht andere Einkünfte mit der Rente Zusammentreffen. Anders steht es bei den Renten im bisherigen Ausmaße. Hier müssen die seinerzeitigen Voraussetzungen unverändert in Geltung bleiben: Die Abstattung der Beiträge war eine Pflicht, ebenso ist es ihre Honorierung. Daraus erwachsene Ansprüche zu kassieren, wenn auch nur bedingt und vielleicht zeitweilig, würde das sittliche Bewußtsein des einzelnen und der Gesamtheit verletzen. Also: Bindung der Aufbesserung an bestimmte neue Bedingungen, aber in keinem Falle Stillegung der Rente!

IN DEN BUNDESHAUSHALT 1955 sollen bekanntlich höhere Ansätze für kulturelle Ausgaben eingesetzt werden. Dies sei mit Genugtuung begrüßt. Es drängt sich dabei allerdings folgende Ueberlegung auf: müßte nicht grundsätzlich und bei jedem Anlaß im Zusammenhang mit Kunst und Wissenschaft die Erwachsenenbildung als notwendiges Drittes genannt werden? Gewiß, Kunst und Wissenschaft werden als Bereiche produzierenden Geistes ihren jahrtausendealten Rang behaupten, und es steckt wohl auch etwas Richtiges in dem Hinweis auf den aristokratischen Charakter der Kultur und in der Befürchtung, daß Verbreitung nicht ohne Verflachung möglich sei. Aber kann man sich auf dieser recht bequemen Skepsis ausruhen? Und können denn die schöpferischen Kräfte auf die Dauer ohne einen Widerhall in der breiten Masse wirken, brauchen sie, mit welchen Einschränkungen immer, nicht „das Volk“ als Reservoir neuer Kräfte, als Resonanzboden für Errungenes? Hat nicht die Kunst ein Interesse an Käufern und Auftraggebern, die Qualität von Kitsch unterscheiden können? Oder wendet sie sich grundsätzlich nur an den Snob? Hat nicht die Wirtschaft ein Interesse an Fachleuten, die Buch und Zeitschrift in ihre Fortbildung einzubeziehen wissen? Oder liegt uns nichts an Konkurrenzfähigkeit? Und vor allem: kann eine Demokratie, die dem einzelnen doch ein beträchtliches Maß an Entscheidungskraft in die Hand gibt, darauf verzichten, ihm auch beim Training seiner Urteilskraft zu helfen — durch die Welt der Bücher, der Büchersammlungen, der Büchereien, für jeden benützbar und auch für jenen hilfsbereit, dessen Rüstzeug zunächst unzureichend scheint? Oder tut die Demokratie nur so, als wollte sie urteilsfähige Staatsbürger haben? Oder will sie eigentlich doch nur den — Mitläufer?

DER WESTDEUTSCHE FAMILIENMINISTER beginnt sich für die von ihm Betreuten zu rentieren. Es war ein höchst glücklicher Gedanke, das Königsproblem der Zeit — die Familienförderung — der politischen Lizitation und dem jeweiligen Propagandabedürfnis der Parteien zu entrücken und ihm einen sachlichen und verpflichteten — diesem Problem allein verpflichteten — Wahrer zu bestellen. Als dekoratives Aushängschild ist diese Sache zu ernst. Der Erfolg stellte sich, wie gesagt, ein. Der westdeutsche Finanzminister hat Verbesserungen in der Steuerbewertung der Familien in den Steuerreformentwurf auf sich genommen, neben denen sich die Verschlechterungen der österreichischen Steuerreform 1953 seltsam genug ausnehmen. Trotz Erhöhung der Freibeträge für Mann und Frau wurden die Freibeträge für das erste und zweite Kind von 600 DM auf 720 DM, jene für das dritte und jedes folgende Kind aber von 840 DM auf 1440 DM erhöht! Wie man hierzu erfährt, hat der Familienminister diese letztgenannte hohe Steigerung gegen den Willen des Finanzministers durchgesetzt, indem er auf dip besondere finanzielle Belastung der Familien mit drei oder mehr Kindern hinwies. Hinter den Zahlen, die wir hier nannten, steht, wie die überparteiliche Zeitschrift „Echo der Zeit“ richtig feststellt, „ein politisches Prinzip. Es ist nicht nur juristisch zu fassen, sondern prägt sich vor allem in Wirtschaft und Gesellschaft aus. Es göht um die Gleichberechtigung der wachsenden Familien“. Fügen wir hinzu, daß diesen mit den Brosamen, die vom reich gedeckten Tische der Steuerbegünstigungen lallen, nicht gedient ist.

IM GEGENSATZ ZU ÖSTERREICH wird der Befreiungstag des Monats April im östlichen Nachbarland von Jahr zu Jahr prunkvoller, ja martialischer begangen: im denkbar größten, sozusagen doppelten Gegensatz zu Oesterreich nämlich bestehl in Ungarn diese Feier hauptsächlich in einer großangelegten Militärparade auf dem monumentalen Stalin- platz, vor dem vor zwei Jahren eigens zu diesem Zweck errichteten Stalin-Denkmal, zu Budapest. Der neunte Jahrestag dieser Befreiung böte also kaum zu besonderen Erwägungen Anlaß, führte er nicht diesmal auch dem sprachkundigen Radiohörer vor die geistigen Augen das Bild einer Armee, wie sie dann Tage später in den ungarischen Bildberichten sichtbar wurde: das fast unübersehbare, geometrische, seltsam über- oder unmenschliche Feld der Stahlhelme, der Stahlungeheuer der Panzerformationen mit den neuen und immer neueren Wellen der Bombergeschwader am wolkenbehangpnen Frühlingshimmel. Im Radio ergab sich all das aus Geräuschen, die wohl „international verständlich" zu nennen wären und bekanntlich vollauf geeignet sind, die Herzen von jung und alt höher schlagen zu lassen — oder auch umgekehrt. Hierzu gab es nun nicht nur beste Marschmusik, Getrommel und Kanonendonner, sondern auch die b e- währten Herztöne des ungarischen Fußballändermatch-Berichterstatters und mitunter und bemerkenswerterweise Gedichte. Gedichte von Petöfi und anderen Wehrlosen. Inhalt der Gedichte hier wie gewöhnlich gleichgültig. Entscheidend war der Ton, die wohl alles überbietende Pathetik, die die letzten hie und da noch verborgenen Zusammenhänge selbst vor dem Sprachunkundigen aufhellte. Mit Paukenschlag und Theatergedonner der Musensöhne ä la Victor Hugo, mit der schlagfertigen Zunge des rasenden Sportreporters und mit Kanonensalven und Flugzeuggedonner wurde in die Köpfe eingehämmert, was Freiheit und Vaterland, was lebens- und sterbenswert nun einmal ist, auch und gerade irh Staate des „Sozialismus“. Die weitere Erläuterung kam später in den Bildberichten gleichsam am Rande: daß Stahlhelme und Stiefel, Kanonen und Flugzeuge die Marke des Befreiers trugen. Die besungene Freiheit der Nation? Hört nur auf die Poeten der Romantik, blickt auf die Helden der Nation und denkt nipht — am wenigsten an Widersprüche!

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