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Randbemerkungen ZUR WOCHE

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PACTA SUNT SERVANDA — Verträge sind zu halten: ein uralter Grundsatz des Völkerrechts, der — zumindest theoretisch — uneingeschränkt durch Jahrhunderte galt. Hitler war es vorbehalten, mit diesem Grundsatz radikal zu brechen. Mit dem Sturz Hitlers kehrte die Welt — zumindest theoretisch — wieder zum alten Satz zurück: Pacta sunt servanda — Verträge sind zu halten! Und mit der Rückkehr dieses Satzes kehrte auch die Praxis zurück, wie man Verträge, trotz aller Anerkennung der „Pacta-sunt-servanda“ -Klausel, umgehen kann: indem man sie auf irgendeine Weise als ungültig zu erklären versucht. Ein Beispiel dafür ist das österreichische Konkordat vom 1. Mai 1934. Mit dem Anschluß im Jahre 1938 wurde über seine Bestimmungen einfach hinweggegangen. 1945, mit der Befreiung Oesterreichs, wurde seine Gültigkeit dennoch nicht anerkannt. Vor allem mit zwei Argumenten. Das eine Argument bestreitet die Gültigkeit mit dem Hinweis, daß die Stände- Staatregierung, die das Konkordat abschloß, nicht jrona legitim gewesen sei. Das zweite Argument behäuflet, Oesterreich sei 1938 zugrunde gegangen und 1945 als neuer Staat entstanden, der sich nicht mehr an die vorher abgeschlossenen Verträge halten müsse. Beide Argumente sind natürlich hinfällig: für die Gültigkeit internationaler Verträge ist es laut Völkerrecht völlig gleichgültig, ob die Regierungen, die sie abschließehr-’iegitim sind oder nicht. Sonst wären ja aucft alle Handelsverträge, die z. B. Oesterreich mit den Oststaaten abschließt, nicht gültig — wer aber wagt dies zu behaupten? Und das zweite Argument gegen das Konkordat ist nicht nur hinfällig, sondern auch gefährlich: es anerkennt nämlich irgendwie den Anschluß Oesterreichs durch Hitler als Recht und macht es dadurch zu einem Teil Großdeutschlands, der natürlich am Krieg mitschuldig wäre. Aber Oesterreich, so sagt doch ausdrücklich die Moskauer Deklaration von 1943, ist der zuerst Ueberfallene, und der Anschluß ist daher ungültig. Es wäre viel ehrlicher, wenn alle jene, die dem Konkordat kritisch gegenüberstehen, dies ehrlich zugeben würden, als durch juridische Spitzfindigkeiten seine Ungültigkeit beweisen zu wollen. Wenn ein Vertrag von einem Partner nicht mehr als zeitgemäß angesehen wird, kann er dem anderen Partner sagen: Setzen wir uns zusammen und beraten wir einen neuen Vertrag. Wahrscheinlich wird der andere Partner zustimmen. Im Falle des österreichischen Konkordates hat der andere Partner bereits zugestimmt, da er oft erklärte, zu Verhandlungen bereit zu sein. Ja, in einem bestimmten Punkt, nämlich in der Ehefrage, hat er unumwunden zugegeben, daß er eine andere Lösung wünsche, als sie das Konkordat enthalte. Hätte die Regierung Dollfuß 1934 mit Amerika oder Großbritannien einen Vertrag abgeschlossen — kein Mensch würde an der Gültigkeit des Vertrages zu zweifeln wagen. Aber hinter dem Gesandten des Vatikans marschieren keine 100.000 Mann, steht nicht das wirtschaftliche Potential einer Macht dieser Welt. Mit ihm geschlossene Verträge glaubt man also nicht erfüllen zu müssen... Eine Haltung, die etwas an das Wort „Hitler in uns" erinnert.

DER FALL VON DIEN BIEN PHU hat in Genf eine harte, aber klare Luft geschaffen. Was Molotow, Tschu En Lai und das halbe Dutzend asiatischer Staaten, von denen man nicht genau weiß, ob sie Satelliten Moskaus oder Pekings sind, augenscheinlich verhindern wollten, ist, wenigstens für eine Konferenzzeit, Wirklichkeit geworden: die vielumstrittene politische Einheit des Westens. Die Indochinakonferenz begann in diesem Sinne mit heftigen Angriffen Bidaults an die Adresse der russischen und chinesischen Kommunisten, wobei ihm Eden und Bedell Smith sekundierten. Kurz nach der Abreise Dulles’ sprach man bereits in ganz Genf davon, daß der abwesende Dulles anwesender sei als je zuvor: seine Vorschläge hinsichtlich eines militärisch-politischen Paktes des Westens zur Verteidigung Südostasiens wurden nun eindringlich kommentiert durch die Hilferufe General Navarres, des Oberkommandierenden in Indochina dessen Stellung in Frankreich viel diskutiert wird, da manche militärische Beobachter überzeugt sind, daß er in eine Falle ging, die ihm General Giap, „der rote Napoleon", legte, indem er ihn dazu verlockte, 10.000 Mann in das abseitig gelegene Fort Dien Bien Phu zu werfen. Erstaunlich schnell gruppierten sich die Viel- minhdivisionen um und bereiten sich zum Angriff auf Hanoi und das Delta des Roten Flusses vor. Dieses ist als Reiskammer sowie als strategische Stellung von ähnlicher Bedeutung wie Singapur oder Gibraltar. Während also die Rotasiaten marschieren, verhandelt man in Genf über Verfahrensfragen der eben angelaufenen Indochinakonferenz. Inzwischen aber entfaltet sich bereits die zweideutige, mehrwertige Dynamik, die jedem militärischen Siege eigentümlich ist in der heutigen Welt. Die amerikanischen, britischen, französischen Militärs verdoppeln ihre Beratungen und Anstrengungen zwischen Japan, Pakistan, Malaya und London — und der stellvertretende sowjetische Verteidigungsminister, Mar-schall Schukow, würdigt zum neunten Jahrestag der Kapitulation Deutschlands den Heldenmut der Streitkräfte der drei Westmächte und sendet Grüße an deren damalige Oberbefehlshaber Eisenhower und Montgomery. Zugleich lobt Moskau Churchill als weisen Staatsmann und Mittler der Völker! Gewiß, auch hier ist durchsichtig der Versuch, England und Frankreich von den USA zu trennen. Wichtig ist aber auch das andere: der Kreml ist von den Siegen der Rotasiaten ebenso stark beeindruckt wie seinerzeit von den Siegen Titos. Diese siegestrunkenen Armeen, ausgerüstet mit chinesischen Waffen und Beratern, marschieren sichtlich für ihre eigene Sache, zumindest für das, was sie für ihre eigenen Interessen halten. Moskau hat also ebenfalls ein Interesse daran, daß die Siegesbäume Pekings und Vietminhs nicht in den riesenhaften Himmel Asiens wachsen. An dieser Tatsache häng, die schmale, aber echte Möglichkeit einer positiven Bilanz der Genfer Konferenz: die nut darin bestehen kann, daß auf weiteren Konferenzen weiterverhandelt wird, so lange, bi: sich die inneren Kraftlinien und Schwergewichte der in Bewegung gekommenen ,asiatischen Mächte soweit ausfalten in- unc gegeneinander, daß es allen als wünschens wert erscheint, die Interessensphären saubei abzugrenzen — nach allen Seiten hin.

NACH LANGEM SCHWANKEN, ZÖGERN, JA ABSAGEN hat die ostzonale Regierung der evangelischen Kirche Deutschlands zugesagt, daß der gesamtdeutsche evangelische Kirchentag 1954 im Juli in Leipzig stattfinden kann. Dieser Zusage kommt eine nicht geringe Bedeutung zu im Spiel der Großmächte um die Mächtegruppierung im deutschen Raum. Für die evangelische Kirche Deutschlands bildet der deutsche Osten, in dem, so wie er heute ist, 80 Prozent der Bevölkerung evangelisqhei Konfession sind, einen .schicksalhaften Schwerpunkt, Die Frage, der deutschen Wiedervereinigung hat von hier aus gesehen einen eigenen Aspekt: der deutsche Protestantismus glaubt sich in- Westdeutschland nicht selten von einem mächtigen katholischen Block majorisiert und sucht das Gleichgewicht der Kräfte durch die Einbeziehung der ostzonalen Gebiete herzustellen. Hier trifft ihn sowohl eine Tendenz der deutschen Sozialdemokratie, die ebenfalls im deutschen Osten jene Massen zu besitzen denkt, die ihr im Westen fehlen wie auch eine Tendenz der sowjetischen Politik, die im deutschen Protestantismus ein mögliches Gegengewicht gegen das „katholische Europa der Amerikaner" sieht. Ein Flügel des deutschen Protestantismus, dem Calviner, Männer der alten Bekenntniskirche, dem efwt auch Niemöller und Heinemann nahestehen, versucht diese Chancen zu nützen. Die Hauptleitung der evangelischen Kirche Deutschlands unter Bischof Dibelius hat es aber mit außerordentlichem Geschick und hoher staatsmännischer Kunst verstanden, ihren eigenen Weg zu gehen und eine gebotene Rücksichtnahme auf die in Ostdeutschland lebende Bevölkerung mit einer charaktervollen festen Haltung der sowjetischen Ostzonenregierung gegenüber zu verbinden. Diese hatte ihr denn auch am 10. Juni vergangenen Jahres zugesagt, den Kampi gegen die Kirche, den im Osten zum Großteil eben der Protestantismus tragen mußte, einzustellen. Tatsächlich wurden einige Zusagen gehalten; bis dann in den letzten Monaten ein zunehmender neuer Druck begann Die Rechtsunsicherheit und Rechtlosigkeit lastet schwer auf den Pastoren und ihren Familien, auf den Studenten und Schülern, die sich zu ihrem Glauben zu bekennen wägen. Langwierigste und schwierigste Verhandlungen mit ostzonalen Aemtern und Regierungsstellen konnten nur vorübergehende Erfolge zeitigen. Nun hat, über Nacht, das Ostregime den Kirchentag in Leipzig genehmigt, nachdem es kurz zuvor noch sehr unfreundliche Worte und Taten gegen die evangelische Bevölkerung setzte. Hat Pankow einen Wink aus Moskau erhalten? Versucht man den deutschen Protestantismus zu nützen im Spiel um Bonn, um Deutschland? Die zunehmende Konfessionali- sierung der innenpolitischen Auseinandersetzungen in Westdeutschland könnte einige Hoffnung für den Kreml erwecken. Es wird gerade auch von der staatspolitischen Klugheit und Rücksichtnahme des westdeutschen Katholizismus viel davon abhängen, welche Wege aut die Dauer und in der Zukunft der deutsche Protestantismus gehen wird.

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