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Randbemerkungen ZUR WOCHE

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NACH FAST DREI MONATEN ZÄHER VERHANDLUNGEN wurde die Genfer Indo dieses Mannes durch Innenminister Schröder chinakonferenz mit einem Waffenstillstand beendet. Seine wichtigsten Punkte sind: die Teilung Vietnams in zwei, äußerlich besehen, fast gleich große Teile, in ein kommunistisches Nordvietnam und ein Südvietnam. Nordvietnam besitzt bedeutende Bodenschätze Erze und das wichtige Reisdelta, Südvietnam ist fruchtbarstes Agrarland, ohne Industrie und Bodenschätze. In Laos und Kambodscha sollen 1956 freie Wahlen stattfinden. Frankreich wird seine Truppen von allen drei Staaten auf deren Forderung hin und in einer gewissen, in gegenseitigem Einverständnis festzustellenden Zeitspanne abziehen, wobei eine gewisse Zahl französischer Truppen an bestimmten Orten und für eine bestimmte Zeit Zurückbleiben soll. — Ein Krieg, der 300.000 Tote, für Frankreich 90.000 Tote und 8 Milliarden Dollar gekostet hat, ist beendet worden. Der französische Premier Mendes-France hat sein erstes Ziel erreicht; er wollte zurücktreten, wenn bis

20. Juli kein Waffenstillstand zustande gekommen wäre. Die Auswirkungen dieses Abkommens für Asien wie für Europa werden weittragend sein. In Asien hat Europa sein Gesicht verloren. Nordvietnam wird dem Ostblock eingegliedert, Südvietnam, Laos und Kambodscha werden neutralisiert, sie rücken zunächst in die Einflußsphäre Indiens, das mit Polen und Kanada Schutzmacht für die Durchführung der Verträge ist. Die Vereinigten Staaten haben das Vertragswerk nicht mit unterzeichnet. Präsident Eisenhower gab eine Erklärung ab, in der er versicherte, daß die USA die Durchführung der Verträge nicht behindern, zudem aber die Arbeiten für den Süd- ostasienpakt zur Abwehr weiterer kommunistischer Aggressionen beschleunigt fortsetzen werden. — Verschiedene Beobachter sprechen von einem „neuen München". Die Bedenken gegen diesen Abschluß sind denn auch bei den wohlwollendsten Beobachtern in der freien Welt groß. Dem Einsickern kommunistischer Einflüsse in den drei indochinesischen Staaten sind Tür und Tor geöffnet. Asiens Völker haben den Sieg asiatischer kommunistischer Truppen in offener Feldschlacht über europäische Heere erlebt und haben mit gespanntester Aufmerksamkeit das Erscheinen Tschu En Lais auf dem internationalen Parkett in Genf, sein durchaus ebenbürtiges Auftreten neben Molotow, Eden, Dalles festgehalten. Die Russen gehen sofort an die Auswertung dieses diplomatischen Sieges in Europa: man spricht von einer im Herbst stattfindenden Europakonferenz, die offensichtlich dazu dienen soll, Frankreich aus dem Atlantikpakt und Deutschland aus seiner Bindung an Amerika zu lösen. Als große Friedensmacht, die allein imstande sei, in Asien und Europa Frieden und Sicherheit zu gewähren, tritt Moskau auf den Plan. Es ist sehr möglich, daß nunmehr der Kreml den Moment für geeignet hält, bezüglich Oesterreich und Deutschland mit konkreten Vorschlägen vorzutreten. Seine Aussichten, europäische Führungsmacht zu werden, sind groß. — Die Situation wird also in den nächsten Monaten für den Westen überaus heikel sein.

DIE FLUCHT DES CHEFS des Bundesamtes für Verfassungsschutz der westdeutschen Bundesrepublik, Dr. Otto John, am zehnten Jahrestag des 20. Juli 1944 nach Ost-Berlin hat weltweites Aufsehen erregt. Der amerikanische Geheimdienst, mit dessen oberstem Chef Allan Dulles John vor wenigen Tagen noch Verhandlungen über die Koordination ihrer Arbeiten pflog, ist ebenso wie der britische Geheimdienst alarmiert worden, zu dem John seit seiner Londoner Zeit 1944 bis 1948 Beziehungen unterhalten haben soll. Jenseits des düsteren Kapitels „Geheimdienste und ihre dialektischen Beziehungen’ hat der Fall John eine kaum überschätzbare Bedeutung im Diesseits der heutigen deutschen Situation zwischen Ost und West, im Diesseits auch der heutigen westdeutschen Innenpolitik. Man mag seiner Erklärung im Ostdeutschen Rundfunk, daß der zunehmende Einfluß von Nationalsozialisten in der Bonner Politik ihn, den Widerstandsmann von 1944, dessen Bruder damals hingerichtet wurde, veranlaßt habe, eine weithin sichtbare Demonstration gegen diesen Klüngel und seine Umtriebe zu setzen, skeptisch gegenüberstehen. Man wird jedoch aufmerksam die Betrachtungen westdeutscher Zeitungen über die offenen Desavouierungen in den letzten Monaten lesen: wenn Dr. John so unzuverlässig war, durfte ihn dann sein eigener Innenminister in der Oeffentlichkeit angreifen, ohne seine Absetzung durchzusetzen? Das Problem der Durchsetzung der westdeutschen Regierungsstellen mit Nationalsozialisten ist heikel — es wurde mehrfach behandelt, seitdem ein Ausschuß des Bonner Bundestages vor mehr als einem Jahr feststellte, daß die Quote ehemaliger Nationalsozialisten im Neuen auswärtigen Amt höher sei als unter Hitler. Das sind aber, wie gesagt, heikle Dinge, die nur mit äußerster Delikatesse behandelt werden können. Das Undelikate im Falle John ist anderswo zu sehen: es ist die Tatsache, daß die junge deutsche Bundesrepublik den obersten Schutz ihrer demokratischen Einrichtungen einem Manne anvertraut hatte, der nun eben zur anderen Seite übergegangen ist. Es war in den letzten Wochen in Deutschland viel die Rede über die Verwendung von Aktenmaterial, das Johns Männer, die V-Männer V =: Verfassungsschutz, Personen, die von keinem Gericht belangt werden können, für den innenpolitischen Kampf geliefert hatten, wobei naturgemäß nur Mitglieder der Regierung von diesem anrüchigen Material Gebrauch machen konnten. Der Fall, der Abfall Dr. Johns, wirft also dringlich die Frage auf: Kann ein demokratischer Staat sich nur durch eine neue Gestapo verteidigen? Wenn ja, wie kann der Staat und seine Bürger sich gegen diese sichern? Wenn nein: was soll an ihre Stelle treten? Die Engländer würden vielleicht sagen: eine vielhundertjährige politische Erziehung — aber gerade sie besitzen einen der berühmtesten Sicherheitsdienste der Welt. Wenn also wieder ja: wie können dessen heikle Tätigkeiten kontrolliert — und eingedämmt werden? Das aber läuft auf die schwierigste Frage der Weltpolitik und der Innenpolitik der Gegenwart hinaus: wie kann Macht beschränkt werden? Gibt es Mittel einer wirksamen Selbstkontrolle und Selbstüberwachung? So daß nicht immer wieder der Zauberlehrling in Versuchung kommt, seine Lehrmeister und Auftraggeber zu überspielen. Der Fall Dr. John ist also nicht zu Ende, denn es ist der Fall, die Versuchung zum Fall für alle Machtträger dieser und auch anderer Art heute. Und damit ist er ein Alarmzeichen, eine Warnung für alle, die heute Macht zu tragen, Macht zu vergeben und zu verantworten haben.

AUF DEN INDISCH-TIBETISCHEN PASSSTRASSEN hat die indische Republik gemäß einem mit Sowjetchina getroffenen Abkommen ihre Grenztruppen zurückgezogen. Sie werden durch tibetanische Einheiten ersetzt, welche künftig den gesamten Zoll-, Waren- und Reiseverkehr überwachen werden. Indien verzichtet ebenso auf den bisherigen Unterhalt der Post-, Telephon- und Telegraphenämter im Grenzraum, auf zwölf bisherige Unterkunftshäuser an der Handelsstraße, auf alle Einflußgebiete, bis auf ein einziges im tibetischen Hochland. Indien verzichtet viele Paragraphen lang auf fast sämtliche Stützpunkte und Wachtposten, welche die vorausschauende britisch-indische Regierung im Laufe von Jahrzehnten auf diesem die indische Tiefebene strategisch beherrschenden Raum erworben hatte. Es folgt dabei zweifellos einem großen Konzept. Indien sieht sich als „die" neutrale asiatische Macht im großen Ost-West-Konflikt. Es ist das stärkste nichtkommunistische asiatische Land, und will der Kristallisationspunkt der neutralen Kräfte seines Erdteiles sein. Ein ehrlicher Makler im mondialen Streit, dem Westen nicht ab-, dem Osten zugeneigt, um einen loyalen Modus vivendi mit den kommunistischen Staaten Asiens bemüht. Dies ist ein bedeutendes Vorhaben, das dem staatsmännischen Geist Pandit Nehrus alle Ehre macht. Ob aber der in Oxford erzogene Gentleman seine Gegenspieler richtig einschätzt? Werden auch, sie die Regeln von Treu und Glauben, deren beiderseitige strikte Einhaltung erst einem solchen Plan Realität geben kann, beobachten? Das ist sehr zu bezweifeln. Im indischen Industriegebiet am Ganges, im Grenzkönigreich Nepal, weiß man um eine rege kommunistische Propaganda. Südindische Wahlen haben die numerische Stärke der linksextremistischen Parteien sehr deutlich geoffenbart. Die rückständige Agrarstruktur Indiens, die trotz eifriger Bemühungen Neu-Delhis immer noch primitivste Lebensform weitester Bevölkerungsschichten, begünstigen eine Unterwüh- lung durch radikale Propagandisten. Indien unterschätzt wohl die Aktivität und Gefährlichkeit seiner neuen Kontrahenten. Und schließlich ist kein Land mit großen sozialen Spannungen, mit krassen, nicht durch eine planmäßige Gesetzgebung ausgeglichenen Gegensätzen zwischen „Arm" und „Reich" außerhalb der Gefahrenzone kommunistischer Einwirkungen — mag es in welchem Erdteil immer liegen.

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