6608523-1954_35_09.jpg
Digital In Arbeit

Randbemerkungen ZUR WOCHE

Werbung
Werbung
Werbung

ALS NACH DER SCHLUSSSITZUNG DER BRÜSSELER KONFERENZ der belgische Außenminister Spaak Worte der Hoffnung fand, ja sogar von „mehr Hoffnung" sprach und hierin von seinem holländischen Kollegen mit dem Hinweis, die Chancen einer Ratifizierung durch die französische Kammer seien nunmehr eher gestiegen, unterstützt wurde, dann waren wohl viele bereit, die Bemerkungen Spaaks und Beyens als Ausgeburt eines europäischen Galgenhumors zu betrachten. Denn das Schlußkommunique sprach es nur allzu deutlich aus: die Außenminister der Signatars taaten der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft seien nicht in der Lage gewesen, sich über die Abänderungsvorschläge Frankreichs zum Europäischen Verteidigungsabkommen zu einigen, obgleich sie sich über die Hauptziele nach wie vor einig seien: europäische Integration mit Teilnahme Deutschlands, gemeinsame Verteidigungsbestrebungen. Und dennoch ein Fehlschlag? Er betrifft in erster Linie die französischen Vorstellungen und Wünsche, den deutschen Beitrag, sowohl das Wirkungsfeld zukünftiger deutscher Einheiten als auch die deutsche Industriekonkurrenz, in wirksamer Weise zu entkräften. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, daß sich im Bonner Parlament eine Mehrheit für so „diskriminierende" Zusatzprotokolle fände. Wenn also Mendes-France mit der Annahme seiner Vorschläge rechnete, so gab er sich einer Illusion hin. Wahrscheinlicher ist, daß er diese Illusion nur vortäuschte, um sowohl seine Vertragspartner als auch sein eigenes Land von nunmehr vier Jahre lang gehegten Illusionen zu befreien. Was waren diese Illusionen? Vor allem die wenig begründete Vorstellung, daß es im Palais Bourbon jemals eine Mehrheit für eine deutsche Wiederbewaffnung und für eine europäische Integration der französischen Armee geben könne. Diese letztere und größte Illusion teilte allerdings das NATO-Ober- kommando nicht. Denn als der stolze Marschall Juin wohl im Namen der Mehrzahl seiner Offiziere rebellierte, hat General Gruenther ihn nicht entlassen. Derselbe Marschall Juin begleitete Mendes-France vor kurzem nach Tunis. Denn Mendes-France praktiziert von Anfang an eine Außenpolitik der Mehrgeleisigkeit. Ihr verdankt er seine bisherigen Erfolge. Als die ersten Nachrichten über seine EVG-Zu- satzprotokolle durchsickerten, schien es, als ob die Leidenschaften, die Aengste und die Hoffnungen, die nun einmal mit dem Komplex „Europäische Einigung" verknüpft sind, die Dämme durchzureißen drohten und den kleinen, schmächtigen Politiker mit seinen verdächtigen Ansichten hinwegfegen wollten. Heute ist der Sturm im europäischen Blätterwald im Abnehmen, und selbst Stimmen aus Westdeutschland sind nunmehr dafür, von einer Politik „der einzigen Alternative“ abzukehren. Soviel ist klar: Mendes-France und mit ihm die Mehrheit im französischen Parlament ist nicht für eine deutsche Wiederbewaffnung im Rahmen einer Europa-Armee, und er würde die schließliche Ratifizierung gerne auf einer neuen Viermächtekonferenz für echte russische Zugeständnisse in der Deutschlandfrage eintauschen. Er würde sich aber einer nunmehr aktuell werdenden deutschen „Gleichberechtigung“ und das heißt auch: einer Koalition vereinigter Nationalarmeen — kaum ernstlich widersetzen, denn er geht auch darin mit den englischen Bestrebungen konform. London aber will, wenn auch weniger spektakulär, aber vielleicht noch entschiedener als Paris die weltweite Entspannung und die „Koexistenz": unter dem Aspekt der strategischen Ueberlegungen, die Churchill zur Erklärung veranlaßten,- die strategische Konzeption des Jahres 1950 sei nunmehr völlig veraltet. Die Brüsseler Konferenz hat nun um den Preis einer scheinbaren Niederlage der „Europäer“ Klarheit geschaffen und damit einen bereits vier Jahre währenden Schwebezustand beendet, den Rußland gern verewigen wollte. So gesehen, kann Brüssel die Rückkehr zur Wirklichkeit bedeuten, eine Rückkehr, die ebenso schmerzhaft wie notwendig ist.

DIE ENGLISCHE WOCHENSCHRIFT „NEW STATESMAN AND NATION“ hat die 40. Wiederkehr des Tages von Sarajewo zum Anlaß genommen, die Ermordung des österreichischen Thronfolgers und deren Hintergründe zu „beleuchten“. Schon der Titel des Aufsatzes, „Märtyrer Princip“, zeigt, daß der Autor durch blinde Gehässigkeit gegen Oesterreich ersetzen möchte, was ihm an Geschichtskenntnis und an elementarem Respekt für die Wahrheit mangelt. Dieser „Historiker", er nehnt sich Richard West, hat es nicht einmal der Mühe wert gefunden, sich über die auch in englischen Darstellungen heute unbestrittene Tatsache zu informieren, daß die Urheberschaft jener Untat nicht in Bosnien, sondern auf dem Boden des damaligen Königreiches Serbien und im Kreise seiner staatlichen Organe zu suchen ist. Ebenso’ ignoriert er völlig die bewundernde Anerkennung, die Oesterreichs zivilisatorische und kulturelle Leistungen in Bosnien-Herzegowina bei vielen zu einem Urteil befähigten Stellen in vielen Ländern, England mit inbegriffen, gefunden haben. Dagegen scheut er sich nicht, seine Verachtung für den historischen Sachverhalt durch die monströse Behauptung zu illustrieren, Oesterreich habe in jenen Provinzen zwar „Kasernen, Bordelle und Rennplätze, aber sehr wenige Spitäler oder Schulen errichtet". Die Politik des Kroatenführers Ante Pavelic schließlich, die „eingestandenermaßen die Ver-, treibung der Serben aus Bosnien durch Aus-. Weisung und Mord zum Ziel hatte“, sei nichts anderes gewesen „als die Weiterverfolgung des habsburgischen ,Divide et impera’ bis zur letzten rücksichtslosen Konsequenz". — Noch, bedauerlicher ist die Veröffentlichung eines Briefes von Henry Wickham Steed in „The Times Literary Supplement", in dem der Verfasser von „The Hapsburg Monarchy“ und ähnlich seriöser „Geschichtswerke" gegen die Auffassung zu Felde zieht, daß die Zerstörung des übernationalen Völkerreiches an der Donau der katastrophale Fehler war, der Europa zugrunde gerichtet hat. Heute noch brüstet sich der bald 83jährige der Rolle, die er 1918 als Chef einer interalliierten Propaganda-, mission bei der tückischen Zersetzung der österreichischen Widerstandskraft, der mit Waffengewalt nicht beizukommen war, gespielt hat. Schade, daß ein Mann wie Steed, dessen hohe intellektuelle Kapazität unbestritten bleibt, auch im Greisenalter nicht imstande ist, die irrationalen Haßgefühle seiner Jugend verstandesmäßig zu überwinden.

UNGARN NIMMT AN DER WIENER TAGUNG der Interparlamentarischen Union teil. Ungarn schickt seine Sportler, die in Haltung, Kleidung, Gespräch durch das Fehlen der „volksdemokratischen Note“ auffallen, in alle Welt. Mehr noch: Ungarn beschickt die internationalen Kongresse für Wissenschaftler mit Wissenschaftlern und einen Pen-Klub-Kongreß mit einem Dichter — Gyula Illyes. Der Budapester Rundfunk überträgt seit 1947 zum ersten Male die Salzburger Festspiele. Nach der Hochwasserkatastrophe an der ungarischen Donau schickte der Vatikan eine Beileidsbotschaft, Belgien und die USA boten materielle Hilfe an. Budapest registrierte dies in Rundfunk und Zeitungen, auch findet es Worte des Dankes. Die kleinen Gewerbetreibenden erhalten seit kurzem ihre Gewerbescheine ohne viel Federlesens wieder: die Zahl der selbständigen Schneider, Schuhmacher, Tapezierer usw. beläuft sich heute schon wieder auf 75.000 im ganzen Land, 16.000 in Budapest. Die Ablieferungsquote in der Landwirtschaft wurde ver- mindert, die Produktionsziffer in der Schwerindustrie gestoppt. Das „Experiment Ungarn“ des Kreml läuft weiter — und doch nicht ohne beträchtliche Schwierigkeiten. Das allgemeine Nachgeben insbesondere im Produktionssektor zog ein allgemeines Nachlassen der Anstrengungen nach sich, und die Produktivität ging und geht noch immer langsam zurück. Die Lösungsformel lautet nun: Liberalisierung dort, wo es „ohne Schaden" gehen kann und wo es zudem noch in das weltweite Konzept paßt, ansonsten aber: Forcierung der Stachanow- bewegung. Ernö Gero, wie erinnerlich Anfang Juli von seinem Posten als Innenminister: enthoben und „mit einem wichtigen Auftrag betraut", gab am 1. August das Losungswort aus: Bereiten wir uns auf den Winter vor! In einem geharnischten Artikel im „Szabad Nep“ las er besonders den Arbeitern der ungarischen Kohlengruben die Leviten. Nur die Protokollchefs wissen es: Gero ist heute wichtiger als je, sein Name steht bei Staats- und diplo-, matischen Empfängen stets hoch obenan. Wäh-. rend er also im Hintergrund und im höheren Auftrag die Dinge energisch vorantreibt, brachte die vergangene Woche die Dachgleiche für die neue und glänzende Fassade der „Vaterländischen Volksfront“, womit Ungarn wiederum in ein volksdemokratisches Neuland vorzustoßen scheint. An der vorbereitenden Konferenz dieser „breiteren, demokratischeren“ Volksfront nahmen neben den bekanntesten nichtkommunistischen Wissenschaftlern, Künstlern, Schriftstellern auch der Erzbischof von- Eger, heute bekanntlich Doyen der katholischen Kirche in Ungarn, Dr. Gyula Czapik, sowie der Diözesanbischof von Csanäd, Doktor Endre Hamvas, teil. In einem neungliedrigen „Vorbereitungskomitee“ scheint dann auch der Name Räkosi auf. Neben der „Aktion Gero“ ist die „Vaterländische Volksfront" der andere Weg — gemäß der alten Regel: Getrennt marschieren…

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung