6608612-1954_36_07.jpg
Digital In Arbeit

Randbemerkungen ZUR WOCHE

Werbung
Werbung
Werbung

AUFGANG ODER UNTERGANG EUROPAS? Wer in den letzten Wochen manche Zeitungsberichte über die Brüsseler Konferenz las, wurde mit Schlagworten dieser Art bedacht. Die Weigerung der Französischen Nationalversammlung, das Vertragswerk der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) in der gegenwärtigen Form zu ratifizieren, wurde im mitteleuropäischen Raum mit düstersten apokalyptischen Tönen kommentiert. Europa sei eben am Ende; da zeige sich wieder der völlige Zerfall des Westens usw., Frankreich verrate .wieder einmal“ Europa usw. — Dem nüchternen Beobachter bietet sich ein wesentlich anderes Bild; dieses vorzustellen, ist die Aufgabe aller derer, die wissen, daß jede Panikmache nur jenen zugute kommt, deren Hauptgeschäft die Zertrümmerung Europas ist, segeln sie nun im linken oder rechten Winde. — Zunächst: Es war allen sachlichen Beurteilern der Weltlage seit Jahren klar, daß die EVG in vorliegender Form praktisch nur verwendet werden konnte, wenn sie zu rechter Zeit als ein diplomatisches Mittel im kalten Krieg verwendet wurde; ein Kompensationsobjekt; ein hochwichtiges Handelsobjekt, das von Tag zu Tag seinen Marktwert verlor, da es nicht gebraucht wurde, um in Korea, in Asien als Gegengewicht eingesetzt zu werden. Die Alternative „EVG oder Untergang Europas" wurde seit geraumer Zeit von den beiden Hauptspielpartnern nicht mehr ernst genommen: die USA entwickelten längst schon neue Verteidigungspläne, im Rahmen der Nato, Seato (des künftigen Ostasienpaktes), nicht zuletzt im Rahmen ihres Spanienpaktes und des Balkanpaktes, der mit Jugoslawien, Griechenland und Türkei eine mächtige Flanke ins Herz Europas hinein darstellt. Die UdSSR stellten sich offensichtlich auf eine Zweiteilung Europas ein, wie ihr Manövrieren der Bonner Bundesrepublik gegenüber beweist; daneben ist es für sie selbstverständlich, daß sie alles tun, um die Partner der künftigen EVG gegeneinander ins Spiel zu bringen. Gerade deshalb ist es unklug, Mendės-France, wie es geschehen ist, als .Söldling Moskaus' — in sattsam bekannter Sprache — zu denunzieren. Mehr Beachtung verdient schon das enge Zusammenspiel zwischen den Nationalisten und Kommunisten, wie es das Abstimmungsergebnis zum Ausdruck brachte. — Ein hervorragender Schweizer Publizist, der Chefredakteur des katholisch-konservativen .Vaterland', Karl Wick, kommentiert die wahre Lage folgendermaßen: .Was in den letzten Wochen rund um die EVG gesagt und geschrieben worden ist, offenbarte mehr und mehr, daß vor der militärischen Verteidigungsgemeinschaft zuerst eine geistige Verteidigungsgemeinschaft notwendig ist, das Bewußtsein dessen, was überhaupt verteidigt werden muß. Jedermann spricht von Europa, aber jedermann denkt dabei zuerst an sich selbst, der Deutsche an Deutschland, der Franzose an Frankreich, der Engländer an England. Europa, das ist für viele ein bloßer Gedanke, eine Abstraktion, eine Art Gespenst ohne Fleisch und Blut. Wie aber kann man bloße Gedanken, bloße Abstraktionen, bloße Gespenster militärisch verteidigen?" .Europa war und ist über alles politische Geschehen, über alle Machtpositionen hinweg immer eine geistige Kraft und geistige Einheit gewesen, auch inmitten der geistigen und politischen Auseinandersetzungen.' Eine Konsequenz aus der gegenwärtigen Situation hat in Alpbach, in einem Resümee über zehn Jahre Bemühungen um die Einigunng Europas, ein anderer Schweizer, Denis de Rougemont, gezogen: .Europa wurde in diesen Jahren allzusehr von oben her, durch Politiker und Generale, zu einigen gesucht; es ist Zeit, daß von unten her, in geduldiger Erziehungsarbeit, in den Völkern, die Arbeit an Europa beginnt.' Dieser notwendigen Arbeit des gegenseitigen Verstehens wird der echte Erfolg nicht versagt bleiben.

GETULIO VARGAS, der Präsident der Vereinigten Staaten von Brasilien, einem der größten Länder der Erde (achtzehnmal so groß als das alte Deutsche Reich), hat mit seinem freiwillig-unfreiwilligen Tode neuerlich jene Probleme aufgezeigt, die vor einiger Zeit in Guatemala zu Konflikten führten: Innenwirtschaft, Außenhandel, fremde Konzerne und verbesserungswürdige soziale Lage. So einfach, wie es nämlich ein Teil unserer Presse darstellt, ist es nicht; gewiß: seit der Verfassungsänderung von 1926, welche die Präsidialgewalt verstärkte, seit der Gründung der Alianęa Libertadora, des Freiheitsbundes, in Rio Grande do Sui, war Vargas ein mächtiger Mann. Besonders seit 1937, als ein neues Grundgesetz es gestattete, Dekrete mit Gesetzeskraft ohne Mitwirkung des Parlaments zu erlassen. Aber man vergißt ganz, daß Vargas sich sowohl 1930, bei seinem Marsch auf Rio, als auch zwei Jahre später, als die Anhänger des früheren Präsidenten Paulista revoltierten, nicht allein der Unterstüzung der Armee sicher war, sondern auch — und das ist der wichtige Punkt — Zehntausender Gauchos und Campmänner, im Süden Campangas genannt. Bei uns hört man jetzt auch nichts vom Widerstreit des panamerikanischen Kapitalismus, der die Kafieeüberproduktion (Kaffee wurde verbrannt, zu Seife verarbeitet, als Lokomotivenheizmittei verwendet) benützte, um sich in die Staatsgeschäfte einzumischen; man hört nichts von den radikalsozialistischen Flugblättern ausländischer Emissäre Anno 1933, wo Annullierung der Auslandsschuld und Verstaatlichung des Privatkapitals gefordert wurde (in einem Lande mit 40 Millionen hilfloser Ca- bochos). — Es war die Tragik Vargas', daß er bei bloßen legislatorischen Dekreten stehenblieb und die längst nötigen sozialreformatorischen Maßnahmen unterließ. Und gerade für diese waren die Campangas marschiert. Der Tod des Präsidenten und ein Pronunziamento mehr in Südamerika lösen nicht weltweite Probleme. In der Hymne an Brasilien hat ein bedeutender Dichter des Landes, Antonio Gonęalves Dias, geschrieben: „Du gewährst, mein brasilisches Land, mehr Glück und Liebe als die Länder sonst der Erde.“ Aber ein Gewehr ist nicht Gewähr, und ein Krieg (1917 und 1942 für die Alliierten) kein Sieg im Innern.

WARUM DÜRFEN NOTARE, LANDWIRTE UND GEWERBETREIBENDE nicht in den Häusern wohnen, die vom Sozialministerium mit Hilfe des neuen einprozentigen „Wohnbau- förderungsbeitrages” errichtet werden? Denn so scheint uns die Tatsache zu deuten, daß diese erst als „Wohnbauschilling“ neckisch verniedlichte neue Abgabe nur „Dienstnehmern“ und „Dienstgebern' (und zwar je zur Hälfte) auferlegt wird. Also werden diese wohl auch das alleinige Benützungsrecht an derartigen Neubauten haben? Oder nicht? — Die Erklärung dieser Kapriole österreichischer Abgabengesetzgebung sei unseren Lesern nicht vorenthalten. Daß auch das Sozialministerium seinen Beitrag zur Linderung der Wohnungsnot leisten wollte, war ohne Zweifel löblich. Wie nahe lag da also der Gedanke, sich an „seine" Steuerzahler zu halten und bei den Sozialversicherten eine „kostendeckende“ neue Abgabe einzuheben. Dem Vernehmen nach soll nun auch ein zusätzlicher „Eichamtsschilling“ bevorstehen, dessen Erträgnis der Förderung der Luftfahrt gewidmet wird… Aber das könnte alles noch hingehen, wenn nicht genau zu gleicher Zeit der Besatzungskostenzuschlag zur Einkommensteuer, den alle Steuerträger, nicht nur Dienstnehmer und Dienstgeber, zu entrichten haben, um zehn Prozent, oder reell gesprochen um zwei Prozent, ermäßigt worden wäre. Hätte man da nicht besser getan, doch nur ein Prozent nachzulassen und das andere Prozent zu zusätzlichen Bauten zu verwenden, wie dies ja nun auch mit 15 anderen Prozenten (beziehungsweise drei Vierteln) des früheren Besatzungskostenbeitrages geschieht? Aber das wären dann nicht „Bauten des Sozialministeriums" gewesen, wogegen sich freilich einwenden läßt, daß kein Ministerium aus „eigene n" Mitteln baut, sondern alle nur aus den Mitteln der Steuerzahler! So mündet die Behandlung eines so ernsten und vordringlichen Problems, wie es die Schaffung von neuem Wohnraum ist, in proportionalen Rösselsprüngen…

NICHT IN IHREN KÜHNSTEN JUGENDTRÄUMEN hätten die Wandervögel aller Richtungen und Schattierungen sich vor 20 oder 30 Jahren vorgestellt, daß in einem Vierteljahrhundert viele Tausende von Großstadtmenschen ihren Spuren folgen werden: Damals nannte man es „auf Fahrt gehen“, heute sagt man „Camping" dazu. Damals lag man in einem ständigen Kleinkrieg mit pflichtbewußten Gendarmen und übereifrigen Flurhütern, heute veranstaltet man — wie erst unlängst — Tagungen, um zu ergründen, was alles getan werden könnte, um ja viele Camping-Fahrer ins Land zu locken. Und hier sind wir auch schon mitten im Thema. Es heißt überlegen, ob eine intensive Förderung der Camping-Mode wirklich im Sinne dessen ist, was man eben fördern will: des österreichischen Fremdenverkehrs. Das erste, das zum Maßhalten mahnt, ist die nicht gerade erhöhte öffentliche Sicherheit. Unter den vielen anständigen Reisenden in ihren Domizilen am Straßenrand können sich gar leicht, und nirgends von der Meldepflicht erfaßt, Hyänen mischen. Die Exekutive hat dann kein leichtes Spiel. Auch die sanitären Verhältnisse werden durch ausgedehnte Lager in der Nähe von Flüssen, Seen und größeren Ortschaften nicht gerade gefördert. Nüchtern aber gilt es zuletzt die Frage zu prüfen, hat der österreichische Fremdenverkehr aber überhaupt ein materielles Interesse an einer starken Vermehrung der Zelt-Reisenden? Camping- Touristen sind in der Regel Herrenfahrer, also nicht gerade arme Leute. Der Camping-Reisende aber führt Zimmer, Küche, Kabinett mit sich, das wohl eingedoste Menü nicht zu vergessen! Wenn es gut geht, kauft er da und dort ein paar Ansichtskarten, ein Bier oder ein Kracherl — am liebsten aber trinkt er am Kracherl… Ob es in Anbetracht dieser Tatsachen wirklich sich empfiehlt, emphatisch dem Zeitgeist zu huldigen und um den Camping- Reisenden einen wahren Indianertanz aufzuführen, sei hiermit einmal in aller Offenheit zur Diskussion gestellt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung