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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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WIEDER „SCHULDTURM“) Das nach jahrelangen Diskussionen beschlossene Finanzstrafgesetz zeigt den Ansatz zu einer Entwicklung, die manche bedenklich finden, andere aber wieder begrüfjen: Die Finanzverwaltung kann nach den Bestimmungen des Finanzstrafgesetzes unier Umstünden im eigenen Wirkungskreis Gerichtsherr sein, verhaften lassen und bestrafen — bis zum Freiheitsenfzug. Die Verlagerung der Entscheidungsmacht über die Bestrafung gewisser minderqualifizierter Vergehen an die Organe der Finanzverwaltung entspricht irgendwie dem Subsidiaritätsprinzip, das eine Stufenleiter von Sachkundigkeiten aufbauen helfen will. Gleichzeitig wird das Gericht von der Behandlung von Bagatellvergehen entlastet, die das Organ der Finanzbehörde wahrscheinlich sachkundiger erledigen kann. Auf der anderen Seite aber entsieht Angst bei den kleinen Leuten, die sich keinen Steuerberater als Tröster halten können. Die Tatsache, dafj durch eine falsche Handhabung des Finanzstrafgesetzes tafsächlich so etwas wie eine Nebenjustiz entstehen und eine Vermengung von gerichts- und verwalfungs-behördlichen Akten erfolgen kann, wird durch die Erfahrung erhärtet, die manche Gewerbetreibende mit einzelnen Beamten der Steuerfahndung machen murjten. Die durch das Gesetz geschaffene Möglichkeit, Freiheitsstrafen in Geld ablösen zu können, kann gleichfalls zu einer Disqualifikation der Kleinen führen, die es sich eben nicht leisten können, grofje Ablösesummen auf den Tisch zu legen. Freilich kommt dies auf die Handhabung des Gesetzes an. Sie wird zu beweisen haben, dafj die geradezu mythische Angst der meisten Menschen vor dem „Steueramt“ nur bei jenen gerechtfertigt ist, die tatsächlich etwas auf dem Kerbholz haben.

SPAT KOMMT IHR... Man höre und staune: Presseberichten zufolge prüft man derzeit in Regierungsstellen die Frage, wie den Männern des österreichischen Widerstandes für die Verdienste um die Wiederherstellung der Freiheil und Unabhängigkeit Oesterreichs gedankt werden könne. Ja, man hat sogar einen Nationalrats-beschlufj aus dem Jahr 1946 entdeckt, der die Schaffung einer Befreiungsmedaille vorsah. Seither sind zwölf Jahre vergangen, ohne dafj dieses Gesetz durchgeführt wurde. Das soll nun — späl, sehr spät — anders werden. Mit Interesse wartet man auf das Ergebnis. Uebrigens: erst im März dieses Jalnres wurde von der Regierung die Errichtung einer Gedenktafel für die Opfer des österreichischen Freiheitskampfes ntafchlmftn. Beschlossen* woWgeirierkt. Werden ,.;auch hier ein Dutzend Jahre ins Land gehen müssen, bis dem platonischen Beschluß die Verwirklichung folgt?

DIE KRANKEN KRANKENKASSEN waren das Thema einer Enquete, in der Sozialminister Proksch ein Abrücken von der sensationell gefärbten Berichterstattung und eine dauernde Lösung der Krankenversicherung forderte. Was ist hier „sensationell“ und was „dauernd“? Man kommt um die Tatsache nicht herum, dafj das ASVG zu überhastet verabschiedet wurde. Wir haben bereits drei Novellen dazu und eine vierte wird gefordert (bestimmt nicht die letzte). Wir bemerken eine unerhörte Technisierung der Medizin, die sich in steigenden Kosten für Apparaturen, nicht zuletzt bei den Ambulatorien, ausdrückt. Man hat bei allen Novellen und Enqueten viel, über die Medikamentensucht geredet, welche etlichen hundert Millionen des eine halbe Milliarde befragenden Medikamentenbudgets der Kassen in die Nachlkästchen wandern läfjf, aber der übertriebenen Propaganda für „neue“ und womöglich ausländische Präparate nichts Wirkungsvolles entgegensetzt. Ueber eine Personalsperre für Angestellte der Kassen und organisatorische Maßnahmen, über einen Baustop, eine Erhöhung der Höchst-beilragsgrenze von 2400 auf 3600 Schilling monatlich und eine Einbeziehung der gewaltig gesteigerten Verkehrsunfälle in die gesetzliche Unfallsversicherung wird gleichfalls nur geredet. Mit dem üblichen Schrei nach Staatshilfe und der wenig sozialen Drohung eines Abbaues der Leistungen wird der Patienf am wenigsten gesund.

. DER NEUE „ROTE PAPST“. Der römische Volksmund spricht von „drei Päpsten“ in Rom. Der „weihe Papst“ ist der Heilige Vater, der „schwarze Papst“ der General der Gesellschaft Jesu, der „rote Papst“, in Anspielung auf das Kardinalsrof, der Präfekf der Propagandakongregation, des „Ministeriums“, wenn man so sagen darf, der Kirche für die Verbreitung des Glaubens in aller Welt. Für den greisen, fast erblindeten Leiter dieses Amtes, Kardinal Fuma-soni-Biondi, hatte Papst Pius XII. vor kurzer Zeit den amerikanischen Kardinal Strilch als regierenden Propräfekt bestellt. Eine aufsehenerregende Ernennung war das gewesen. Der hochbegabte Kardinal von Chikago kam nach Italien, um überraschend schnell zu sterben. Nun hat er einen Nachfolger in der Person des armenischen Patriarchen von Kilikien, Gregor Petrus XV., erhalten, der 1946 zum Kardinal erhoben worden war: Lazarus Agagianian. Geboren 1895 In Achalziche bei Tiflis, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, ist er ein engster Landsmann Stalins. Dschugaschwili, der Welt als Stalin bekannt und ungeheuer geworden, besuchte das orthodoxe Priesterseminar in Tiflis. Agagianian ebenda das katholische Seminar. Als er 1919, in

Rom zum Priester geweiht, nach Tiflis zurückkehrte und sich hier der atheistischen Propaganda entgegenwarf, begegnete er Stalins Mutter, die bekanntlich bis an ihr Lebensende gläubig blieb und täglich für ihren Sohn betete, Stolz sagte ihm diese Frau, Glied seines Volkes: „Auch mein Sohn sollte früher Priester werdenI“ — Agagianian kennt nach Herkunft, Lebensweg, Sfudiengang auf das beste die christliche, aufjerchristliche und gegenchristliche Welt des Ostens. Seine Bestellung zum Leiter einer der wichtigsten Aemter der römischen Kirche kann in ihrer Bedeutung heute noch gar nicht ersehen werden. Zum ersten Male in der Geschichte der westlichen Christenheit übernimmt in Rom ein Kirchenführer die Mitverantwortung für die Geschicke der Kirche, der, wie die Popen, statt des römischen Kardinalshufes mit Vorliebe das Kamilavkion, den zylindrischen Kopfschmuck mit nach hinten fallendem Schleier fragt. Rom öffnet sich dergestalt dem Osten auf die ihm gernäfje Weise, indem es einen Mann zu höchsten Aufgaben beruft, der ganz ein Mensch des Ostens und ganz ein Mann der einen Kirche ist.

EUROPA UND AFRIKA IM ESCORIAL. Die diesjährige Tagung des Europäischen Dokumentationszentrums im Escorial unter dem Vorsitz Otto von Habsburgs war den Fragen der europäisch-afrikanischen Zusammenarbeit gewidmet. Während in den vergangenen Jahren mehr das Ideologische und Repräsentative im Vordergrund stand, wurden dieses Jahr erstmalig konkrete Planungen besprochen. Hierbei zeigte sich eine beachtenswerte Gruppierung. Auf der einen Seife fand sich, überraschend für Fernstehende,' eine französisch-spanisch-portugiesische Interessengemeinschaft, die warm und lebhaft eine enge europäisch-afrikanische Allianz vertritt und für diese Planungen andere europäische Kreise, zumal in Deutschland, gewinnen will. Auf der anderen Seite stehen alle jene Freunde und Mitglieder der konservativen Erneuerungsbewegung, die sehr wohl auch für eine Intensivierung der europäisch-afrikanischen Beziehungen eintreten, nicht zuletzt, um das grofje Potential beider Kontinente vereinigt in die Schale der Weltpolitik legen zu können, die aber doch mit einer deutlich spürbaren Zurück; haltung den Plänen des franko-iberischen Blocks gegenüberstehen. Steht dort die Planung: Afrika unter Führung der traditionsreichen alteuropäischen Mächte Frankreich, Spanien, Portugal, so lautet hier die Frage: Welchem Afrika gehört die Zukunft? Wie stellen sich die erwachenden afrikanischen Völker, nicht nur des arabischen Nationalismus, zu diesen Führungsansprüchen? So wurde bei dieser VII. Tagung des Dokumentationszentrums ein fruchtbarer Gegensatz sichtbar; ihm müssen alle jene Politiker und Verantwortlichen Rechnung tragen, die sich ernsthaft um eine Koordinierung der divergenten Interessen der Völker in der freien Well bemühen.

NEUE HORIZONTE. Oberst Nasser, Präsident der Vereinigten Arabischen Republik, ist zu einem zehntägigen Besuch bei Marschall Tito eingetroffen, just an dem Tage, an dem sich zum zehntenmal der Ausschluß Jugoslawiens aus dem Kominform jährt. Tito ist fest entschlossen, dem tagtäglich sich steigernden Druck Pekings und Moskaus standzuhalten. Belgrad fühl) soeben in Washington und Bonn vor: alte Beziehungen sollen intensiviert, abgerissene (zu Bonn) sollen wieder angeknüpft werden. Gleichzeitig will Tito eine weltpolitische Allianz herstellen, die dem weltpolitischen Druck von Seiten Chinas und Rufjlands gewachsen sein kann. Tito sieht auf Indien, auf Nehru und auf Nasser. Und trifft damit Peking und Moskau in empfindliche Weichteile. Wenn sich der arabische Nationalismus, auf den als Schutzmacht mehr oder weniger der ganze Nationalismus der afrikanischen Völker blickt, von Moskau abwendet, bedeutet das eine weltpolitische Niederlage von gröfjter Tragweife. Wenn sich Indien von Moskau und Peking distanziert, horchen Japan und der ganze Osten auf. Die Bluturteile von Budapest haben es Nehrus Partei und ihm selbst erlaubt, sich in seit langem gewünschter Deutlichkeit von Moskau zu distanzieren. Nehru mag heute geneigter sein als noch vor einem Jahr, auf Titos ständige Anerbieten einzugehen. Nasser seinerseits kam unzufrieden aus Moskau zurück und hat sofort den Kampf gegen die kommunistenfreundlichen Gruppen und Kreise in Syrien und Aegypten aufgenommen. — Amerika und der Westen haben hier und heute, Nehru, Tito und Nasser gegenüber, Gelegenheit, neue Politik zu machen. „Gott schreibt gerade auf krummen Linien“: das ist ein arabisches, portugiesisches und spanisches Sprichwort. Sollte es auch für die hohe Politik gelten? So etwa, dafj, zeitweilig, im Notstand, die Sache der Freiheit darauf angewiesen ist, in gewisser Zusammenarbeit mit Männern und Mächten im Banne der Unfreiheit um ihre nackte Existenz zu kämpfen. Schwere Fragen sind mit den Welfgewiftern unserer Zeit an die Staatsmänner des Westens herangetreten. Während Griechenland und die Türkei, alte NATO-Mächte, in unnachgiebiger Feindschaft einander gegenüberstehen, hebf Belgrad sein Haupt empor und fesselt die Blicke aller, die in Osteuropa nach freiheitlichen Horizonten aussehfen, an sich.

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