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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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DIE TAFEL. In der Regel tagt jede Woche einmal der Ministerrat. So war es auch vor über einem Jahr am 25. Februar 1958. Nach der routinemäßigen Erledigung der Fragen des Tages erinnerte man sich auch der Tatsache, daß in wenigen Wochen sich zum 20. Male der Tag jähren wird, an dem der Name Oesterreich von der Landkarte gelöscht wurde. Und dabei besann man sich einer vergessenen Ehrenptlicht. Durch eine bescheidene Tafel das Andenken jener Oesterreicher wach zu halten, die ihr Leben dafür zum Opfer brachten, daß Oesterreich wieder erstand. Es bedurfte keiner Debatte: der Antrag wurde einstimmig angenommen. Wer heute durch die Bundeshauptstadt wandert, wird diese Ehrentafel vergeblich suchen. Weder am Heldendenkmal, wo sie ursprünglich ange-

bracht werden sollte, noch in der Nähe des Ballhausplatzes — so ein anderer Plan — ist sie zu finden. Der Ministerratsbeschluß vom 12. Februar 1958 wurde bis heute nicht durchgeführt. Wieder nahen die Iden des März. So sei in aller Bescheidenheit, aber mit Nachdruck daran erinnert, daß es hohe Zeit wäre, den Wert eines Regierungsbeschlusses unter Beweis zu stellen, denn daß es „Wählerrücksichten” aus den Reihen beider Regierungsparteien gewesen sein sollten, die die Durchführung des Beschlusses auf die lange Bank schaben — so behaupten es verschiedene böse Zungen — nein: das können wir doch nicht glauben.

DA5S DIE JUGEND IN NOT IST und daß die Familie die Schlüsselstellung in nahezu allen Erziehungsschwierigkeiten einnimmt, wissen wir alle. Viel mehr wissen wir darüber nicht. Vor allem nicht Exaktes, das sich zur Behebung des Notstandes verwenden ließe. Das soll nun anders werden. Ein Auftrag des Unterrichtsministeriums an die Sozialwissenschaftliche Forschungsstelle am Soziologischen Institut der Wiener Universität (Univ.-Doz. Dr. Leopold Rosenmayr) soll das Thema durch Erhebung, Beobachtung und Befragung aus dem Stadium der beiläufigen Redereien und Vermutungen in\ schärferes Licht rücken. Ein schon bei früheren Erhebungen bewährtes Arbeitsteam wird > die’ Familienbeziehungen unserer jüngen Leute untersuchen — in Stufen, denn es liegt ein unübersehbares Arbeitsfeld vor. Anfängen will man bei den 14- bis 18jäh- rigen männlichen Lehrlingen. 4000 Einzelfälle (unter 100.000 in Betracht kommenden) sollen durch Elternbefragung erhoben werden. Ihnen sollen die Mädchen, die Mitfelschuljugend, die bäuerliche Jugend und so weiter folgen. — Die Informationstagung „Jugend in Not” am 6. März, über deren Ergebnisse der Unterrichtsminister auf einer Pressekonferenz berichtete, will es dabei nicht bewenden lassen. Vor allem soll der Erzieherausbildung und der freien Jugendarbeit Augenmerk geschenkt werden. Auch die Presse soll durch jährliche Staafspreise für publizistische Mitarbeit herangezogen werden. „Die Furche’ haf es nie daran fehlen lassen — sie wird, mif Preisen und ohne Preise, auch künftighin auf dem Plan sein.

IM GEISTE BATTISTIS! „Die sogenannte Südtirolfrage ist kein Thema für eine internationale Diskussion!” Das rief, hocherhobenen Hauptes, Ministerpräsident Segnj dem italienischen Parlament zu. Dann bezichtigte er die Südtiroler der Unruhestiftung und der Gewalttätigkeit, spielte auf den „Bombenanschlag” auf das Denkmal Battistis an und gedachte des „großen Helden Battisti”, der von den Oesterreichern erschossen wurde — in einer Weise, die an die ominösen Schlageter-Feiern des Dritten Reiches erinnerte. Da erhoben sich die Abgeordneten der Rechten und der Mitte von ihren Plätzen, nur die Linke blieb sitzen… Kein Wort verlor Segni über die nun schon seit Wochen dauernden Demonstrationen gegen Oesterreich. — Das alles ist eine Schande. Für Europa. — Oesterreich aber kann sich gar nicht kühl genug überlegen, was zu tun ist. Hier ist zu unterscheiden zwischen Aktionen der Regierung und der Tat des einzelnen. Erstere müssen gründlich überlegt werden. Und auf lange Sicht und echte Wirksamkeit angelegt sein. Nichts wirkt jammervoller als Schläge ins Wasser, Paukenschläge von oben herab, ins Leere einer international nicht genügend vorbereiteten, uniformierten Weltöffentlichkeit. Anders verhält es sich mit dem, was jeder einzelne Oesterreicher tun kann. Hier sind Sofortaktionen am Platz: keine Osterreisen nach Italien. Viel ließe sich durch eine Briefaktion erreichen: Warum sollen immer nur Kommunisten in aller Welt Briefe schreiben, um über irgend etwas ihre „Aufklärung” zu verbreiten? Es ist an der Zeit, daß der einzelne Oesterreicher seine Freunde in allen Ländern des Westens aut die für die ganze freie Welt unwürdige Situation aufmerksam macht: in Amerika, England, Deutschland und nicht zuletzt in Italien selbst. Es gibt überall gutgesinnte und besonnene Menschen, die nur nicht erreicht, nicht mobil gemacht werden für die gute Sache der Menschenrechte, die ja alle angeht.

WILLY BRANDT IN WIEN. Letzte Station auf seinem einmonatigen Weltrundflug machte der Berliner Oberbürgermeister Brandt in Wien. Am Tag darauf traf er in Berlin ein, wo mehr als eine Stadt ihn erwartete: ein Weltproblem, das seiner Lösung harrt, einmal „Berlin”, ein andermal „Deutschland”, ein drittes Mal „Europa” heißt und immer auf der Waagschale liegt, die Krieg und Frieden enthält. Willy Brandt weiß das und hat eben deshalb versucht, Amerika und die asiatischen Völker, vor allem Indien, aut das aufmerksam zu machen, was da gespielt wird. Brandt hat in Amerika und Asien eine sehr gute Aufnahme gefunden; in den USA und in Kanada wurde er teilweise sogar enthusiastisch gefeiert, in Asien sehr ernst gehört, teilweise, wie bei Nehru, in langen, vertraulichen Aussprachen, Das ist kein Zufall. Dieser Willy Brandt ist ein Europäer, ein Deutscher, der es versteht, um sich ein Klima des Vertrauens zu schaffen. Entschiedener Gegner jedes falschen Appeasements, zager und falscher „Befriedungspolitik”, ist er ebensosehr entschiedener Gegner jeder Kreuzzugspropaganda. Der Berliner Oberbürgermeister steht den englischen und den ihnen verwandten Plänen seiner Bonner Parteikollegen bezüglich eines Disengagements in Mitteleuropa im Sinne eines modifizierten Rapacki-Planes nahe. Brandt weiß aber in Berlin sehr genau, daß ein solches Europaprojekt nur dann einen guten Sinn für die freie Welt haben kann, wenn es im Rahmen größerer Absprachen steht. Darum ist dieser Wahlberliner sosehr an einem Abbau des kalten Krieges und einer echten Verständigung der Weltmächte interessiert. Berlin braucht den Frieden. Den Weltfrieden. Für ihn und für sein Berlin hat Brandt seine Weltreise unternommen.

EINEN GANZEN MONAT LANG hät die Regierungsbildung nach den Wahlen in Luxemburg gedauert. Ultimative Forderungen der Sozialisten haben es dem neuen Regierungschef, dem früheren Finanzminister Werner, unmöglich gemacht, die alte Koalition mit den Sozialisten zu erneuern. So ergab sich die ‘Notwendigkeit einer Tuchfühlung der Christlichsozialen Volkspartei mit den Liberalen, die schließlich zum neuen Kabinett von vier Ministern der CSV und drei Liberalen geführt hat. Der Volkspartei fielen außer der Präsidentschaft noch Finanzen, Erziehung, Kultus, soziale Angelegenheiten und öffentliche Gesundheit, Innenministerium, Transport und Ackerbau zu, den Liberalen: Außenministerium, Justiz, Wirtschaft, öffentliche Arbeiten und Leibeserziehung. Die neuen Männer haben in der Oeffentlichkeit eine recht günstige Aufnahme gefunden. Man verspricht sich vor allem von ihrer „Jugend” — das mittlere Alfer der neuen Minister liegt bei fünfzig, der Regierungschef ist noch jünger — unroutinierte, fruchtbare Arbeit, vor allem aber eiserne, unverbrauchte Nerven, denn die wirtschaftlichen Perspektiven liegen im Augenblick nicht rosig. Die monolithische Struktur der luxemburgischen Großindustrie birgt ihre Tücken: da werten „Rezessionen” womöglich noch tiefere Schatten als arrderswo.

SEHR ZUM WOHLE, HERR KRUPP! Auf das Wohl des Hauses Krupp und auf die gute Gesundheit von Herrn Alfried Krupp von Bahlen und Haibach — betont nannte Chruschtschow den vollen Namen — trank der sowjetische Staatschef auf der Leipziger Messe. Krupp haf den Bau einer Großanlage zur vollsynthetischen Fasererzeugung in der Sowjetunion übernommen: 250.000 Russen können sich nach deren Fertigstellung pro Jahr in Krupp-Fasern kleiden. Wie bereits Mikojan in Amerika sich vorzüglich und bestens mit amerikanischen Wirtschaftsführern unterhalten hatte, so hielt es in Leipzig soeben Chruschtschow. Diese Grüße an Krupp hörten in Westdeutschland viele Industrielle, die sich wegen des Absatzes Sorge machen. Dazu dröhnt die Parole der Leipziger Messe: „Der ökonomische Wettbewerb zwischen Ost und West tritt, gegenwärtig in ein neues und entscheidendes Stadium. Dieser Wettbewerb schafft günstige Voraussetzungen für die Erweiterung des Warenaustausches zwischen den beiden WeltmärktenI” Das ist der Sinn der demonstrativen Besuche Chruschtschows: In Berlin sucht er die militärische und politische Achillesferse des Westens zu treffen, in Leipzig die Achillesferse Westdeutschlands: die Sorge seiner Industrie, die von Tag zu Tag größer wird.

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