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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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DER TAG DER ARBEIT, der 1. Mai, trug diesmal in Wien und Oesterreich nolens volens den Stempel eines Tages der Wahl-Schwerarbeit. Man konnte schwanken, ob der Kalender den 1. oder schon den 10. Mai anzeigte. Schlichte Anläufe zu geschichtlicher Besinnung, etwa die Reminiszenz an die Anteile früher christlicher Sozialarbeit auf dem Heute in Minister Bocks Konzerfhausrede wurden gleich vom Fernsehen schamhaft zensuriert. Um so lautstärker wurde Vizekanzler Pittermanns massive Drohung gegen die „schwarze Reaktion” in Rundfunk und Fernsehen wiedergegeben, die sich ihrerseits wieder eine vorsichtige Kürzung in der „Arbeiterzeitung” gefallen lassen mußte. Unzensuriert passierte Pittermanns Forderung nach „Freiheit des Glaubens” alle Instanzen — auch hier amtierten wohl schon Vorreifer des 10. und nicht des 1. Mai… Die amtliche Feststellung, daß der 1. Mai in voller Ruhe verlaufen sei und sich Zwischenfälle weder in Wien noch in den Bundesländern ereignet haben, mögen die jüngeren Leute mit Verwunderung als eine Art Anachronismus empfunden haben. Die Aelteren, denen andere Tage in Erinnerung sind, buchen die Selbstverständlichkeit dieser Feststellung als erfreulichen Fortschritt, als den eigentlichen innerpolitischen Gewinn des Staalsfeiertages 1959.

IN DER GESPALTENEN WELT war dieser 1. Mai fast ein Jahrhundert lang der Ausdruck des Klassenkampfes, einer Kernspaltung in Staat und Volk; heute ist er außerhalb Oesterreichs mehr als das: ein Dokument der Spaltung der Welt. Die Maifeiern des Ostens demonstrierten gegen die Maifeiern des Westens, und umgekehrt. Deutlicher als in Moskau, wo der Hauptakzent auf friedliche Konkurrenz gelegt wurde, zeigte dies Berlin. „Berlin bleibt frei”: mehr als eine halbe Million Berliner hörte in West-Berlin den Vizepräsidenten der Vereinigten amerikanischen Gewerkschaften, Reuther: „Wir stehen genau so entschlossen bei euch wie während der Blockade. Bleibt stark, haltet aus, ihr seid nicht allein.” Nicht ganz die Hälfte an Zahl hörte sich in Ost-Berlin die Parolen vom „Kampf gegen den Bonner Militarismus” an, die in den meisten Hauptstädten des Ostblocks stark herausgestellf wurden. Scharfe Töne wurden auch bei einzelnen westdeutschen Maifeiern lauf, so in Mannheim, wo der Gewerkschaftsführer Brenner (Metallarbeiter) Erhard vorwarf, den 1. Mai als „Feiertag des Hasses’ zu diffamieren: „Die Unternehmer beweisen Tag für Tag, daß sie den Klassenkampf nur in Worten abschreiben, um ihn desto besser in Taten weiferführen zu können.” Die im Mammutsfil aufgezogenen Maifeiern in Rotchina demonstrierten programmgemäß: „Tibet ist ein untrennbarer Teil Chinas” und „Wir sind zur Befreiung For- mosas entschlossen”. In Großbritannien war der 1. Mai ein normaler Arbeitstag, in Paris und Rom fanden die üblichen Maifeiern der Linken statt. Viel Beachtung fand der Empfang von 40.000 christlichen Arbeitern im Petersdom durch den Heiligen Vater, der sie ermahnte, der kommunistischen Verlockunq Widerstand zu leisten. — Bewußt neben den Maifeiern der Osfwelt hielten sich die Maifeste in Jugoslawien, die ganz au? Volksfest, Volkstanz abaestellt waren und dergestalt auf ihre Weise qegen die massive Aggressivität anderer Maifeiern protestierten.

EIN MAIPRÄSENT eigentümlicher Art erhielten sehr sinnreich zum Monatsbeginn die — Milchkäufer in Wien. Nach Einführung der 45sfündi- gen Arbeitszeit wurden die Geschäftszeiten für die Filialen der industriellen Molkereien in Wien mit Wirkung vom 1. Mai 1959 wie folgt festgesetzt: Montag, Dienstag, Donnerstag, Freitag von 6 bis 12 Uhr und von 16 bis 17.30 Uhr, Mittwoch und Samstag von 6 bis 13.30 Uhr. Vom 18. Mai bis einschließlich 13. September sind die Geschäfte an Sonntagen früh zwei Stunden geöffnet. Während dieser Zeit werden die Filialen Mittwoch und Samstag von 6 bis 12.30 Uhr offen sein. — Da werden sich die Chefs (der Bierbrauereien und des Weinhandels) aber freuen! Viermal werden die von der Arbeit Heim- sfrömenden schon um 17.45 Uhr vor herabgelassenen Rollbalken stehen, zweimal schon um 13.45 Uhr, im Sommer gar schon um 12.45 Uhr. Sie werden sich zum Ersatz vermutlich an den Plakaten „Trinkt Milch!” oder an den periodischen Pressenachrichten von unserem permanenten Milch- und Butferüberschuß die Finger lecken — oder sich um die Ecke zum nächsten Achterl Heurigen stehlen. Merkwürdig: diese sozialen Schwingungen der 45-Stunden-Woche!

PARIS VOR GENF. Die Pariser Konferenz der westlichen Außenminister zur Vorbereitung des Genfer Osf-West-Treffens endete vorzeitig. Die Kluft zwischen London und Bonn-Paris erwies sich als unüberbrückbar. Der neue Außenminister der USA, Christian Herter, wollte sich wohl nicht gleich mit dem Odium eines „weichen” Mannes belasten. So kam es zu einer „vollständigen Einigung” in Paris, das heiß), die deutsch- französischen Vorschläge, betreffend ein Junktim zwischen Abrüstung und deutscher Wiedervereinigung, wurden als Verhandlungsgrundlage akzeptiert. Amerika ist zu Separatverhandlungen nur bezüglich Berlins bereit. Es bedarf keiner Hellsehergabe, um vorauszusehen, daß dies für die Sowjets keine Basis für Verhandlungen bieten dürfte, Moskau dürfte dementsprechend in Genf verstärkt auf eine „Gipfelkonferenz” drängen. Was hinter den Kulissen gesprochen wird, läßt sich kaum erst vermuten. Vor der Weltöffentlichkeit treffen Amerika und Sowjetrußland bedeutende Anstrengungen, sich ins Bild zu bringen: die USA betreiben den Bau ihrer großen Moskauer Amerika-Schau in verstärktem Tempo, in New York erstrahlte ihrerseits die Mefropolitanoper anläßlich des Gastspieles des Bolschoi-Balletfs im Glanze von aneinander- gehefteten sowjetischen und amerikanischen Flaggen, was die westdeutsche Presse in großer Aufmachung ihrem Publikum zur Kennlnis brachte. Es tut gut, dies festzuhalfen: Moskau hat in Warschau, der Westen weif notdürftiger in Paris eine Vergatterung auf einer möglichst „harten” Linie gesucht. Nach Genf erst wird man weitersehen; wobei die Vorgänge in Asien, der „Sieg” Chruschtschows in Peking, die Vermittlungsversuche Nehrus und die große Sorge aller nichtkommunistischen Staaten Asiens vor einer chinesischen Offensive die Aussprachen in Europa und um Europa modulieren werden.

EIN GROSSER SOLDAT hafte die Kühnheit, sich aufs politische Parkett zu begeben, und ist, wie vorauszusehen war, darauf ausgeglitten. Auch in Moskau hielt der Exfeldmarschall die Devise aufrecht, die auf der Umschlagschleife seiner gleichermaßen borstigert wie großartigen Kriegserinnerungen steht: Montgomery nimmt sich kein Blatt von den Mund. Er versäumte nicht, beim Gasten mit derben Scherzen auf die Amerikaner das profane Schmatzen seiner alten Kameraden aus dem Krieg zu untermalen. Chruschtschow, der Listenreiche, erfreut, endlich einem gleichgeratenen Polterer zu begegnen, degradierte Monty alsogleich zum Briefträger.

Er bat, eine Botschaft an Macmillan mitzunehmen, hatte ihn damit zum Vermittler gestern- r pelt, als den die Engländer und der Westen den Einzelgänger gar nicht sehen wollten. Es ist ja tatsächlich so, daß die Mängel der Generale im allgemeinen und Montgomerys im speziellen nicht in ihrem Charakter liegen, sondern in ihrer merkwürdigen Eingegrenztheit auf bestimmte Bereiche, die Politik mit eingeschlossen. Wir verdächtigen zwar nicht Montgomery der Tathandlung eifriger Lektüre politischer Literatur, allein er hätte wissen müssen, wie sehr man sich im Kreml ins Fäustchen lacht, wenn ein prominenter Bramarbarsier, der sogar NATO- Chef gewesen war, vom Leder zieht. Hatte Montgomery denn diese Demonstration politischer Einfalt nötig? Wäre er doch in seinem Landhaus geblieben. In seinem aus der Afrikazeit stammenden Anhänger im Garten, mit dem Feldbett, dem Kartentisch, dem Bild Rommels, den Resten Wüstensand und seinem militärischen Ruhm, dem er oft stundenlang brütend und schweigend nachhöngt …

ZWEI CHINA, ZWEI FRAUEN. Der chinesische Volkskongreß, das „Parlament” Rofchinas, hat den Parteitheoretiker Liu Schao-fschi an Stelle des zurückgetretenen Mao zum Präsidenten und als Stellvertretenden Staatspräsidenten Tung Pi-wu und die parteilose Witwe des Gründers der chinesischen Republik, Frau Sun Yat-sen, die Schwester der Gattin Tschiangkaischeks, gewählt. Schao-tschi gilt als Kommunist Moskauer Prägung und Freund Chruschtschows. Der wiedergewählte Ministerpräsident Tschu En-Lai und seine engeren Mitarbeiter gaben auf dem Kongreß die Planzahlen für 1959 bekannt. Den Westen sollte dabei vor allem auch die „Produktion” von Studenten interessieren: 830.000 Studenten, das sind um 25,8 Prozent mehr als im Vorjahr, sollen auf die Hochschulen gebracht werden. In aller Oeffentlichkeit bekennt sich der Kongreß zur „Diktatur des Volkes”, zum vier- zehnstündigen Arbeitstag und zu weiteren großen Opfern des 600-Millionen-Volkes, um den „Sprung nach vorn” realisieren zu können. „Der chinesische Weg ist heute der radikalste, härteste und kompromißloseste im kommunistischen Machtbereich”: das ist das einstimmige Urteil seiner Beobachter in Ost und West, die ihn mit Sorge, Hoffnung und vielen Bedenken verfolgen. In Peking fehlte es natürlich auch nicht an lärmenden Kundgebungen für das „kommunistische Tibet”, wobei nunmehr auch zugegeben wird, daß die Aktionen gegen Formosa in den letzten Jahren vor allem behindert wurden durch die Notwendigkeit, immer wieder starke Truppenverbände zur Niederwerfung von Innerehinesi- schen Rebellionen und zur „Sicherung” unzuverlässiger Gebiete abzustellen. Unruhiges China: zwei Frauen stehen jetzt, in Peking und auf Formosa, zwei Schwestern, für das uralfe Dop- pelgesichf dieser Muffermacht Asiens, die auf Freund und Feind schrecklichen Eindruck macht.

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