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RANDEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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WEH DIR, WENN DU KEIN AUTO HAST… Die Wiener Verkehrsbetriebe sind sanierungsbedürftig, weniger weil die Erlöse nicht die Höhe der Aufwendungen erreichen, als deswegen, weil die kaum vermeidbaren Investitionen nicht durch die Einnahmen aus dem Verkauf von Fahrscheinen finanziert werden können. Die Erhöhung der Preise der Fahrscheine im Vorjahr hat nicht viel genutzt. Die Schuld kann aber nicht beim Amtsführenden Stadlrat liegen, sondern bei den besonderen Bedingungen, unter denen die Wiener Verkehrsbetriebe wirtschaften müssen. Nun kann man in der letzten „Wiener Volks-Zeitung’, die wieder an die lieben „Wohnparteien” und dazu noch „gratis” abgegeben wurde, lesen, dafj man es bei der SPOe übel vermerkt, dafj das Gas- und das E-Werk, die auch dem Komplex der gemeindeeigenen Betriebe angehören, an die Verkehrsbetriebe Stützungsbeiträge leisten. Im nächsten Jahr etwa 100 Millionen vom Mund (der Wiener) abgesparfes Geld. Die Aufregung Ist eigentlich überflüssig, um so mehr, als man alle gemeindeeigenen Betriebe (Unternehmungen) als einen Konzern oder, wenn man will, als eine Interessengemeinschaft betrachten kann, deren Teilunfer- nehmungen Gewinne und Verluste In einen Topf werfen. Die „Wiener Volkszeitung’ ist eine Propagandazeitung, bestimmt, für den Wahlkampf 1960 Stimmung und Gesinnung zu machen. Es ist daher nicht guf, wenn in der „Volkszeitung”, illustriert durch eine auch dem primitivsten Wähler verständliche Zeichnung, eine Erhöhung der Strafjenbahntarife — wie man so schön sagt — ventiliert wird. Ebenso unklug und ungerecht Ist es, wenn man das Defizit der OeBB prinzipiell dem Verkehrsminister auflastef, ebenso unkorrekt und unfair ist es, einem Stadtrat, weil er zufällig von der anderen Seite kommt, die Verantwortung für Zustände zuzuschreiben, für welche die so gut wie alleinherrschende Partei zumindest einen grofjen Teil der Verantwortung trägt. Und wenig Freude wird es den Wienern bereifen, wenn sie hören, dafj dem OeVP-Stadfrat „befohlen’ wird, durch Tarifbegradigung „die Verkehrsbetriebe wieder gesund zu machen”, das heifjf die Tarife zu erhöhen, und gerade jenen Leuten das Realeinkommen zu kürzen, deren Interessen die Regierungspartei im Rathaus vornehmlich zu vertreten vorgibt.

DIE ALTEN ALTERSRENTEN sollen nach einem vom Bundesminister für Soziale Verwaltung ausgearbeifeten Gesetzentwurf vom 1. Jänner 1957 eine Aufbesserung (Erhöhung wäre zuviel gesagt) erfahren. Das Allgemeine , ozialver- sicherungsgesetz, bei dessen seinerzeitiger Beratung auch die Nachziehung der Altrenfen gefordert wurde, konnte infolge innerpolifischer Schwierigkeiten diese dringliche Frage nicht lösen; das Gesetz berücksichtigte daher blolj jene Rentner, die seit dem 1. Jänner 1956 in den Ruhestand traten. Der Vorschlag des Sozialministers geht dahin, alle Angestellten- und Bergarbeiterrenten vom 1. Jänner 1957 um ein Sechstel aufzubessern; auch die Arbeiter-Alt- renten sollen dieser Besserung teilhaftig werden, indes werden die Pensionsanstalten der Arbeiter und der Land- und Forstwirtschaft am 1. Jänner 1957 nur zwei Drittel der vorgeschlagenen Aufbesserung auszahlen können. Das letzte Drittel soll später liquidiert werden. So bedauerlich dieser Zahlungsvorgang ist, mufj darauf verwiesen werden, daf; die Pensionsanstalten der Angestellten und des Bergbaues die Aufbesserung aus eigenen Mitteln bestreiten können, die Arbeifer-Pensionsanstalten aber seit Jahren einen Bundeszuschuf; in Anspruch nehmen müssen. Beide Regierungsparteien haben im letzten Wahlkampf der Allrentner gedacht, und es wird nun wohl hoch an der Zeit, die Versprechen einzulösen. Eine Alt-Altersrente beträgt bei den Arbeitern gegenwärtig durchschnittlich 600 Schilling, liegt also weit unter dem Existenzminimum: eine Witwe erhält jetzt 350 Schilling, für eine Waise werden 100 Schilling ausgezahlt (wozu die Kinderbeihilfe kommt). Mil dem vom Finanz- minister in Aussicht gestellten Zuschuß von 300 Millionen wird es keineswegs getan sein. Es isf demagogisch, auf das Kapitel 15 (Soziale Verwaltung) hinzuweisen, welches das meist- dotierte des Bundeshaushaltes isf, und zu glauben, man wäre aller Verpflichtungen ledig. Bedenken wir nur, dafj von den 3693,8 Millionen Schilling des Kapitels 15 allein schon 1047 Millionen auf die Kriegsbeschädigtenfürsorge (Witwen, Waisen, Eltern, Angehörige von Kriegsgefangenen und Vermieten) entfallen! Bedenken wir die Alterspyramide unseres Volkes und die hierdurch bedingten, wachsenden Schwierigkeiten der Pensionsanstaltenl Das eingebrachte Gesetz mufj nicht nur beschlossen, sondern in absehbarer Zeit ausgeweitet werden.

VERBEUGUNG VOR STALIN UND CHRUSCHTSCHOW. Palmiro Togliatti ist wieder Generalsekretär der KPI geworden. Nichts anderes wurde erwartet. Wenn auch die intelligentesten Beobachter am letzten Parteikongrefj beim besten Willen nicht zu erkennen vermochten, worin nun’ eigentlich jener besondere italienische Weg zum Sozialismus bestünde, der dem Kongrefj als Motto gedient hatte, dann ist es nur natürlich, dafj der für die Errungenschaften und Irrtümer der Vergangenheit verantwortliche Mann weiterhin an der Soitze bleibt. Der Kongrefj haf die Verwirrung und.Bestürzung widergespiegelt, die der neue Kurs in Moskau und dann die Ereignisse in Polen und Ungarn in die Reihen der italienischen Kommunisten, besonders der Intellektuellen, getragen haben. Auf der einen Seite die alte Garde, nicht gewillt, umzudenken und umzulernen. Der Universitätsprofessor Concetto Marches i, Stalinist alter Schule, hat seinen beifjenden Hohn über die neuen Machthaber im Kreml ausgeschütlef: „Tiberius, einer der gröfjten und meistverleumdeten Herrscher des alten Rom, fand in dem bedeutendsten Historiker seiner Zeit, in Tacitus, seinen unnachgiebigen Ankläger. Stalin war viel weniger vom Glück begünstigt: er mufjte sich mit einem Nikita Chruschtschow zufrieden geben.’ Aber man hörte auch eine neue Sprache, Stimmen der Kritik gegen Togliatti, gegen die Parteilinie, gegen Moskau, Vorwürfe der Doppelzüngigkeit und Falschheit. Als Wortführer der jungen Reformisten traf der Abgeordnete Antonio G i o I i 11 i mutig hervor: „Unsere feierlichsten Erklärungen zugunsten der demokratischen Freiheiten sind leeres Gerede, wenn wir weiterhin behaupten, die in Moskau aufgedeckten Irrtümer und Verbrechen haften der dauernden demokratischen Substanz der sozialistischen Macht keinen Abbruch getan; wenn wir weiter- hin eine Regierung wie die, gegen welche das Volk von Budapest aufgesfanden ist, für legitim, demokratisch, sozialistisch erklären.” Gio- lifti und seine Gruppe fordern: eine wirkliche Mfeinungs- und Diskussionsfreiheif innerhalb der Partei, die bedingungslose Anerkennung der demokratischen Freiheiten nach aufjen, volle Autonomie in den Beziehungen zu den anderen kommunistischen Parteien; in erster Linie natürlich gegenüber der sowjetischen. Erneuerung und Wechsel, wenn es not tut, auch in den Männern, die sich als unverbesserlich erweisen sollten. Togliatti hatte freilich seine guten Gründe, dalj sich die Kritik so explosivartig Luft machen durfte. Es war der einzige Weg, die gefürchtete Bildung von Fraktionen zu verhindern. Er selbst haf vier Stunden lang gesprochen, immer bemüht, die rechte Mitte zu halfen, Stalin zu geben, was Stalins isf, und Chruschtschow, was Chruschtschows isf. Er stellt sich jedem zur Verfügung, der künftig im Kreml das erste Wort zu sagen haben wird.

BUDAPEST ZWISCHEN HOFFEN UND BANGEN. Kein frohes Fest in Ungarn. Die Bevölkerung Ungarns beging die Feiertage in diesem Jahr gleichsam mit verhaltenem Atem. Noch scheint nicht alles verloren zu sein und es könnte noch vieles, ja vielleicht alles gewonnen werden. Man erwartete in diesen Tagen wichtige Nach richten auS Moskau und aus Asien, wo der Ministerpräsident Chinas auf Reisen ist und grofje diplomatische Täfigkeil entfaltet, nicht zuletzt auch in der Sache Ungarns. Es dürfte nur wenige innerhalb und außerhalb Ungarns geben, welche die weiten Aspekte der Vermittlerrolle dieser asiatischen Großmacht im Augenblick voll ermessen könnten. In Ungarn selbst verhält sich gegenwärtig alles abwartend, wobei sich Schlimmes und Gutes nebeneinander zeigt. Während die Standgerichte weiterhin auch Todesurteile fällen und eine Regierungsverordnung das System der Internierungslager wieder einführf; während das Regierungsorgan von mehreren hunderttausend Arbeitslosen infolge Kohlenmangels spricht und verzweifelte Anstrengungen unternimmt, um die während der Streikwochen zugrunde gegangenen Bergwerke wieder instand zu setzen und neue Arbeitskräfte dorthin zu bekommen — während all dieser Trostlosigkeiten will der gute Geist der ersten Revolutionstage von den verdunkelten, von Ruinen gesäumten Sfrafjen der ungarischen Hauptstadt nicht weichen. Eine seltsame Ad- ventsfimmung befällt die Menschen. „Es qibt keinen Weg zurück”, beteuern alle, die nicht den Fluchtweg eingeschlagen haben. Werden sie recht behalfen? Hier einige Hinweise: Zu Weihnachten waren in Budapest nicht nur die Tanzlokale, sondern auch die Kirchen voll, und das Radio übertrug nicht nur amerikanische Jazzmusik und Beethoven, sondern auch Krippenspiel und katholische Weihnachtslieder. Mif Rücksicht auf die Mifternachfsmeffe am 24. Dezember entfiel das Ausgehverbof an diesem Tag. Bei einer Uebertragung aus dem staatlichen Kinderheim war von Bethlehem, vom kleinen Jesus die Rede. Die politischen Töne waren nicht weniger ungewöhnlich. Der Jungarbeiterverband befeuerte in einem Aufruf, daf; „die Kämpfe nicht umsonst gewesen” seien, er rief am Weihnachtsabend die Regierenden „zur Liebe und Humanität” auf. Der nationale Verband der Mittelschüler bat die Amerikaner um die Rückführung der heiligen Stephanskrone „in das Land, wo sie tausend Jahre lang In Ehren bewahrt wurde”. Und der ungarische Friedensrat stellte fest, die Leiden des ungarischen Volkes seien ein mahnendes Zeichen für die Regierungen, an Stelle von Militärblocks die Fragen des Zusammenlebens der Völker auf neuen Wegen zu lösen versuchen. Noch isf alles in Schwebe. Ein oft versprochenes Regierungsprogramm ist noch ausständig und das weitere Schicksal der Regierung scheint nach wie vor unentschieden zu sein. Trauer um die Toten und um die vielen jungen Menschen, die aufjer Landes gingen, umflort die spärlichen Chrisfbäume in den ungarischen Familien.

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