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Randhemer hungert zur woche

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Der Straßburger Europarat ist unter dem Druck der Weltlage aus einem Forum mehr oder minder akademischer Diskussionen plötzlich zu einer scharf-profüierten politischen Versammlung geworden, die gewillt scheint, die schwere Aufgabe der Einigung Europas ernsthaft in Angriff zu nehmen. Bezeichnend dafür die scharfe und offene Kritik, die im „Unterhaus“ dieses werdenden Europaparlaments, der mit dem wenig glücklichen Namen „Konsultativversammlung“ belasteten Körperschaft gegen das zögernde Vorgehen des „Oberhauses“, des Ministerkomitees, laut wurde; bezeichnend auch die Aufforderung eines Delegierten, die Versammlung möge zu einem wirklichen europäischen Parlament werden oder „zusammenpacken und nach Hause gehen“. Dennoch wurde auch im Schoß der Konsultativversammlung ein grundlegender Unterschied zwischen zwei Auffassungen und Richtungen deutlich, der nicht leicht zu überbrücken sein dürfte. Die Delegierten aus den europäischen Kernländern, die Franzosen, Deutschen, Italiener, sowie die Angehörigen der Beneluxstaaten sind die treibende Kraft in der Richtung auf eine möglichst rasche, möglich! weitgehende europäische Vereinigung. Die englischen Labourleute aber, unterstützt von den Politikern aus den skandinavischen Ländern, tuollen dem Europarat vor allem wirtschaftliche und soziale Aufgaben im Sinne eines europäischen Vollbeschäftigungsprogrammes zuweisen. Der Aufgabe der Souveränitätsrechte in einem vollen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Zusammenschluß jedoch stehen sie mit deutlicher Reserve gegenüber. Man kann sich dabei manchmal des Eindrucks nicht erwehren, als ob die englischen Labourpolitiker die Europabewegung dazu benützen möchten, die Prinzipien des englischen Sozialexperiments auf ganz Europa zu übertragen; weshalb denn auch der Hinweis auf die italienische Arbeitslosigkeit eines ihrer Lieblingsargumente ist. Die Zeit aber drängt, und es müßte doch möglich sein, die tatsächliche Vereinigung des Kontinents und die soziale Angleichung zur gleichen Zeit voranzutreiben, wobei die eine Entwicklung die andere fördern und befruchten müßte. Wie aber die Völker Europas selbst und vor allem die jungen Menschen in den verschiedenen so lange durch Haß und Mißtrauen getrennten Staaten über diese Frage denken, hat blitzartig die Weißenburger Episode vor Beginn der Tagung beleuchtet, als Studenten aus neun europäischen Nationen die Grenzpfähle stoischen Frankreich und Deutschland verbrannten, „

Auch in der staatlichen Verwaltung scheint sich der Ungedanke festzusetzen, daß eine rein technische Einrichtung — eine Behörde — ein organisches Übel heilen könne. Der Sozialminister sagte kürzlich vor einer Vollversammlung der Wiener Arbeiterkammer, daß zwei Organisationsgesetze, und zwar ein Gesetz über die staatliche Monopolisierung der Arbeitsvermittlung und ein Gesetz über die Umwandlung der Arbeitsämter in Behörden mit weitreichenden Vollmachten notwendig seien, um der Arbeitslosigkeit beizukommen. Hiebet wird ganz übersehen, daß die Arbeitslosigkeit in Österreich, wenn sie zunehmen sollte, völlig andere Ursachen hätte als irgendwelche bloß organisatorische Mängel im Staatsapparat. Zur vorgeblichen „Neuordnung des Ar-b eltsmarktes“ gehört nach diesem neuesten Plan auch das Inlandsarbeitergesetz — ein Gesetz, das schon die erste Republik besessen und das sich schon damals nicht bewährt hat. Es würde in der uns bisher bekanntgewordenen Form die Heimatlosen, diese vom Schicksal am schwersten geschlagenen Menschen in unserem Lande, treffen. Welch ein Widerspruch gegen eine ehrliche Sozialpolitik, wenn man gerade die Schwächsten und Ärmsten, der tätigen Nächstenhilfe Bedür-tigsten jeder Möglichkeit zur Verbesserung ihres Lebensstandards berauben wollte; ein völliges Ausschalten der Heimatlosen und Vertriebenen aus dem Arbeitsprozeß würde, da sie ja nicht verhungern wollen, sie nur dazu zwingen, Arbeit um jeden Preis zu suchen, was lohndrückend wirken würde und keineswegs im Interesse der Inlandsarbeiter läge. Überdies stünde ein solches Gesetz im Gegensatz zu den Versicherungen, die erst vor wenigen Monaten den Heimatlosen hinsichtlich ihrer Gleichstellung auf sozialrechtlichem Gebiet gemacht wurden.

Die Entwicklung des Mlttelschul-b e s u c h s zeigt, soziologisch betrachtet, keine erfreuliche Tendenz, denn die Neigung, die Kinder acht Jahre studieren zu lassen, anstatt sie möglichst bald praktischen Berufen zuzuführen, ist wieder kräftig im Zunehmen. Im Schuljahr 1949/50 zählten die österreichischen Mittelschulen 50.140 Schüler und Schülerinnen gegenüber

47.300 im Jahr 1948'49, was einen Gesamtzuwachs von sechs Prozent bedeutet. Besonders kraß kommt aber der Anstieg bei den Schülern der ersten Klassen zum Ausdruck: es besuchten im abgelaufenen Jahr allein 12.000 Schüler die ersten Klassen, das waren um 56 Prozent mehr als im Vorjahr! Diese Zahlen werfen ein grelles Zukunftsbild kommender Intelligenzarbeitslosigkeit an die Wand. Alle Erfahrungen des letzten Jahrzehnts mit der Uberfüllung der „studierten“ Berufe und mit dem Elend der Maturanten und Akademiker scheinen vom Wind verweht. Alle Klagen und Erkenntnisse über die Überbesetzung der Bürokratie verhindern nicht den Traum einer pensionsberechtigten Stellung, der, wie man aus Umfragen weiß, der stärkste Antrieb zum Mittelschulstudium ist. Die erschreckende Kurzsichtigkeit, die sich in alledem ausdrückt, wird aber leider auch von offizieller Se'.it nicht korrigiert. Die Aufnahme in die Mittelschule ist zwar an eine Prüfung gebunden, aber dieses Sieb ist bekanntlich so weitmaschig, daß es praktisch keine zahlenmäßigen Beschränkungen des Zugangs zur Mittelschule darstellt. Vor allem aber bedeutet das Fehlen einer strengen Auslese in den ersten vier Jahren der Mittelschule, daß die für handwerkliche und gewerbliche Berufe Befähigsten den Fachberufen entzogen und in der Illusion einer „standesgemäßen“ Allgemeinbildung erzogen werden. Hier liegt aber die Wurzel der sozialen Verelendung der „studierten“ Schichten. Wäre es nicht klüger, die Beschränkung des Studiums gleich bei 4er Aufnahmsprüfung in die Mittelschule zu beginnen und auf diese Weise auch den Zudrang zu den Hochschulen zu verringern? Aber einstweilen geht die Jagd nach der akademischen Fata Morgana weiter...

Statistische Zahlen erfordern heutzutage einen starken Optimismus. Zahlen aus dem Osten erfordern ihn besonders. Mit dieser Einschlüsselung sind Zahlen über die Stärke der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion zu werten, die aber trotzdem so viel Interessantes enthalten, daß sie erwähnenswert sind. Der geringe Mitgliederstand der russischen KP im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ist bekannt, er gab seit jeher der Partei einen ordensähnlichen Charakter, der sie vor Aufschwemmungen bewahrte und die Übersichtlichkeit vom Ideologischen Standpunkt organisationstechnisch erleichterte. Diese Tatsache macht auch die Stärke der russischen KP im Gegensatz zu anderen totalitären Parteigründungen, etwa zu der seinerzeit ins Uferlose, auseinandergeflossenen Partei des Nationalsozialismus aus. Die KP ist jedoch nicht in allen Teilen der Sowjetunion gleich stark. Sie ist am stärksten in der russischen Bundesrepublik (RSFSR), dem Kernstaat der Sowjetunion. Die Mitgliedszahl wird dort zwischen 1,5 und 4,5 Millionen angegeben, je nachdem, ob die Parteianwärter und Komsomolzen (Jungkommunisten) mitgerechnet werden oder nicht (Gesamtbevölkerung rund IIS Millionen). In der Ukraine (rund 40 Millionen Einwohner) zählt die KP 168.000 Mitglieder, in Bjelorußland (9 Millionen Einwohner) 25.000, in Georgien (3,5 Millionen Einwohner) 28.000, in Aserbaidschan (3,5 Millionen Einwohner) 27.000, in Kasakstan (6,5 Millionen EintooHner) 30.000. Zu berücksichtigen ist bei diesen Zahlen, daß ein hoher Prozentsatz der Mitglieder aus anderen Unionsteilen stammt, so daß der Anteil der einheimischen Bevölkerung der einzelnen Gebiete jeweils noch geringer, oft unter 50 Prozent, anzusetzen ist. Relativ hoch ist dagegen der Anteil der KP-Mitglieder bei den kleinen, noch wenig entwickelten Völkerschaften, wie den Burjäten, Wotjaken, Kirgisen usw., wo jeweils einige tausend Mitglieder vorhanden sind. Es dürfte daher der Schluß berechtigt sein, daß die KP bei diesen kleinen Gruppen praktisch die gesamte neugebildete Intelligenz umfaßt. Das Schioergewicht der KP in der RSFSR läßt den Schluß zu, daß die KP der Sowjetunion eine überwiegend russische Partei ist. Aber die bei kleineren Völkerschaften verhältnismäßig großen Mitgliedszahlen verwischen diesen Eindruck wieder stark und man könnte fragen, ob es nicht gerade die Stoßkraft dieser jungen Eliten ist, die die Stärke des Bolschewismus ausmacht.

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